TE Vwgh Erkenntnis 2000/8/17 99/12/0295

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Veröffentlicht am 17.08.2000
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Index

65/01 Allgemeines Pensionsrecht;

Norm

PG 1965 §9 Abs1 idF 1985/426;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldner und die Hofräte Dr. Germ und Dr. Waldstätten als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Ogris, über die Beschwerde des S in B, vertreten durch Dr. Wilhelm Sluka, Rechtsanwalt in Salzburg, Imbergstraße 26, gegen den Bescheid des Bundesministers für Inneres vom 21. September 1999, Zl. 8205/281-II/4/99, betreffend Zurechnung von Jahren gemäß § 9 des Pensionsgesetzes 1965, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 15.000,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der 1960 geborene Beschwerdeführer steht - seit 1. November 1998 als Revierinspektor i.R. (der Gendarmerie) - in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Bund.

In den Akten befindet sich ein neuropsychiatrisches Gutachten des Dr. M. vom 11. Mai 1998, das auf Ersuchen des zuständigen Landesgendarmeriekommandos vom 30. März 1998 erstattet wurde. In diesem 23-seitigen Gutachten heißt es "zur Frage des Aggressionsverhaltens und der damit verbundenen Gefährlichkeit" des Beschwerdeführers bzw. seiner Verwendbarkeit im Gendarmiedienst aus neuropsychiatrischer Sicht (zusammenfassend), die Persönlichkeit des Beschwerdeführers habe sich auf Grund einer schweren Identitätskrise im mittleren Lebensalter seit 1995 deutlich verändert. Die narzisstischen Störfaktoren der Persönlichkeit zeigten sich in einer erhöhten Selbstbezogenheit sowie in einer radikalen Veränderung seines Weltbildes. Persönlichkeitstypisch wolle er sich nun als Künstler verwirklichen und sei entschlossen, alles was ihm dabei hinderlich sei, aus dem Weg zu räumen. Dabei bestünden nicht nur erhebliche Fremdaggressionstendenzen, sondern auch Selbstaggressionstendenzen im Sinne der Selbstmordgefährdung. In der Zusammenschau aller erhobenen Befunde sei beim Beschwerdeführer im Relevanzbereich "Gendarmerie" weiterhin ein Fremdgefährlichkeitspotenzial nahe liegend. Er sei daher im Gendarmeriedienst nicht mehr verwendbar. Eine allgemeine Gefährlichkeit bestehe nicht. Wie bereits ausgeführt, beziehe sich das Gefährlichkeitspotenzial auf den Relevanzbereich der Gendarmerie. Hier resultierten mögliche Aggressionstendenzen aus dem Wandel seiner Persönlichkeit (Persönlichkeitsstörung) sowie einem völlig veränderten subjektiven Weltbild. Der Beschwerdeführer verstehe sich als Künstler ("kehrt die gesellschaftlichen Werte um" - Zitat im Original) und könne sich vor allem mit seiner Tätigkeit als Gendarm nicht mehr identifizieren. Wie der Gutachter von vergleichbaren Persönlichkeiten wisse, könne die Tätigkeit als Künstler eine "kreative" (im Original unter Anführungszeichen) Abarbeitung affektiver Spannungen bewirken, sodass im Alltag kein erhebliches Gefährlichkeitspotenzial im Sinne der Allgemeingefährlichkeit zum Tragen komme.

Weiters befindet sich in den Akten ein Gutachten eines Facharztes für innere Medizin vom 3. Juni 1998.

Mit Schriftsatz vom 22. September 1998 beantragte der Beschwerdeführer unter Hinweis darauf, er sei ohne sein vorsätzliches Verschulden zu einem zumutbaren Erwerb unfähig geworden (seit etwa einem Monat leide er zusätzlich an Herzrhythmusstörungen), u.a. die Zurechnung von zehn Jahren gemäß § 9 PG 1965.

Am 15. Februar 1998 hatte der Beschwerdeführer gemeldet, dass er in seiner Freizeit Skulpturen herstelle und zum Verkaufen anbiete. Am 18. November 1998 gab er niederschriftlich vernommen an, weder habe er Einkünfte aus dieser künstlerischen Tätigkeit erzielt noch erziele er derzeit hieraus Einkünfte. Am 19. Jänner 1999 erstattete das Bezirksgendarmeriekommando X dem Landesgendarmeriekommando auftragsgemäß einen Bericht über diese Nebenbeschäftigung (künstlerische Tätigkeit) des Beschwerdeführers. Es heißt darin, der Beschwerdeführer übe diese Nebenbeschäftigung seit ca. 3 Jahren und besonders intensiv seit Beginn seines "Dauerkrankenstandes" Anfang 1998 aus. Im Frühjahr 1998 habe es eine Ausstellung gegeben, wobei der Verkauf "nicht schlecht" verlaufen sein solle. Es sei möglich, dass er einen Dorfbrunnen in Y errichten werde. Sollte das Angebot entsprechen, werde er den "sicher nicht schlecht dotierten Auftrag" erhalten. Im Sommer 1998 habe er anlässlich einer Ausstellung bei der Gemeinde Z eine Preisliste über seine Kunstwerke vorgelegt. Der Gesamtpreis für diese Ausstellungsstücke habe sich auf S 314.000,-- belaufen. Hinweisen zufolge habe er auch Exponate verkauft, sodass sein geschätzter monatlicher Nebenverdienst beträchtlich sein dürfte. Dem Bericht sind verschiedene Beilagen angeschlossen (dem Bericht zufolge ein Ausstellungskatalog bzw. eine Annonce).

Die belangte Behörde holte ein berufskundliches Gutachten des Sachverständigen H. vom 3. Juli 1999 ein. Nach Darstellung der beruflichen Laufbahn des Beschwerdeführers und des medizinischen Leistungskalküls (offenbar auf Grundlage des Gutachtens des Facharztes für innere Medizin) heißt es zur Frage, ob vom Beschwerdeführer die Verrichtung von "kalkülsadäquaten" Arbeiten erwartet werden können, welche der bisherigen Berufslaufbahn entsprächen und als billigerweise sozial zumutbar zu bewerten seien, dass dies der Fall sei. Der Beschwerdeführer wäre trotz seines eingeschränkten Leistungskalküls in der Lage Tätigkeiten als Registraturkraft, Kanzleikraft oder Archivkraft auszuüben (es folgt eine nähere Beschreibung dieser Berufsbilder; das Gutachten enthält auch Ausführungen zu der in diesem Beschwerdeverfahren nicht relevanten Frage, ob der Beschwerdeführer noch irgendwelche Erwerbstätigkeiten im Sinne des § 4 PG 1965 ausüben könne).

Der Beschwerdeführer äußerte sich zu diesem Gutachten ablehnend. Dabei legte er ein Attest vom 6. August 1999 eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie des Inhaltes bei, dass diese berufskundliche Beurteilung insoferne "zurückgewiesen" werde müssen, weil der Gutachter keine Bedachtnahme auf das Vorgutachten Dris. M sowie die neuro-psychologische Beurteilung des Attestverfassers durchgeführt habe (Anmerkung: diese liegt den Akten nicht bei). Der Beschwerdeführer sei derzeit keineswegs in der Lage, eine regelmäßige Berufstätigkeit in seinem Beruf als Gendarm, weder im Außendienst noch im Innendienst, zu verrichten, wie sich auf Grund des Krankheitsverlaufes und der Begutachtungen gezeigt habe. Eine diesbezügliche Begutachtung würde allein einem medizinischen Sachverständigen vorbehalten bleiben.

In der Stellungnahme des Beschwerdeführers heißt es unter anderem, der berufskundliche Sachverständige sei in keiner Weise darauf eingegangen, ob eine Tätigkeit dem Beschwerdeführer "in der Gesamtheit seiner Persönlichkeit" zugemutet werden könne, sondern stelle nur darauf ab, ob dieser physisch in der Lage wäre, eine Tätigkeit als Registraturkraft, Kanzleikraft bzw. Archivkraft auszuüben. Auf die Ausführungen des Sachverständigen Dris. M im Gutachten vom 11. Mai 1998 sei der berufskundliche Sachverständige überhaupt nicht eingegangen (wird näher ausgeführt). Dieses Gutachten sei daher unzureichend.

Mit dem angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers vom 22. September 1998 auf Zurechnung von Jahren gemäß § 9 Abs. 1 PG 1965 abgewiesen. Nach Darstellung des Verfahrensganges und nach Rechtsausführungen heißt es zusammengefasst, die Rechtsfrage, ob der Beamte zu einem zumutbaren Erwerb im Sinne des § 9 Abs. 1 PG 1965 fähig sei, sei von der obersten Dienstbehörde zu klären. Aufgabe der ärztlichen und berufskundlichen Sachverständigen sei es bloß, der zur Entscheidung berufenen Dienstbehörde bei der Feststellung des Sachverhaltes fachtechnisch geschulte Hilfe zu leisten. Für die Beurteilung dieser Rechtsfrage seien die Verhältnisse im Zeitpunkt der Versetzung in den Ruhestand maßgebend. Eine nach dem diesem Zeitpunkt eingetretene Änderung in den Verhältnissen des Beamten sei deshalb rechtlich bedeutungslos. Tätigkeiten, die der Beamte vom medizinischen Standpunkt beurteilt auszuüben vermöge, seien dann zumutbar, wenn sie ihrer sozialen Geltung nach der früheren Beschäftigung, der dienstlichen Stellung und der Fortbildung des Beamten annähend gleich kämen.

Im berufskundlichen Gutachten seien mehrere Verweistätigkeiten angeführt, welche der Beschwerdeführer auf Grund seiner verbliebenen körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit noch ausüben könne. Diese Berufe seien dem Beschwerdeführer, vom Standpunkt der sozialen Wertung aus betrachtet, billigerweise zumutbar.

Im Zuge des Ermittlungsverfahrens habe das Landesgendarmiekommando gemeldet, dass der Beschwerdeführer die Tätigkeit eines Bildhauers ausübe. Es habe Ausstellungskataloge und Zeitungsannoncen vorgelegt, in denen der Beschwerdeführer Kunstwerke zum Verkauf anbiete. Die Tatsache, dass der Beschwerdeführer nachhaltig einen Erwerb ausübe, sei ein weiteres Indiz, dass er zu einem zumutbaren Erwerb fähig sei (Hinweis auf die hg. Erkenntnisse vom 8. Juni 1994, Zl. 93/12/0150, und vom 24. September 1997, Zl. 96/12/0214). Zu diesem Sachverhalt sei dem Beschwerdeführer Parteiengehör eingeräumt worden (Hinweis auf die Niederschrift vom 18. November 1998).

Auf Grund der Krankengeschichte des Beschwerdeführers, der vorliegenden ärztlichen Gutachten, des berufskundlichen Gutachtens und schlussendlich der Tatsache, dass er einen Erwerb ausübe, habe schlüssig festgestellt werden können, dass er zu einem zumutbaren Erwerb fähig sei.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und in einer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Nach § 9 Abs. 1 PG 1965, BGBl. Nr. 340, in der Fassung BGBl. Nr. 426/1985, hat die Oberste Dienstbehörde dem Beamten, der ohne sein vorsätzliches Verschulden zu einem zumutbaren Erwerb unfähig geworden ist, aus Anlass der Versetzung in den Ruhestand den Zeitraum, der für die Erlangung des Ruhegenusses im Ausmaß der Ruhegenussbemessungsgrundlage erforderlich ist, höchstens jedoch 10 Jahre, zu seiner ruhegenussfähigen Bundesdienstzeit zuzurechnen.

Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass die Behörde die in einem Verfahren nach § 9 PG 1965 entscheidende Rechtsfrage, ob der Beamte noch "zu einem zumutbaren Erwerb" fähig ist, nach den Verhältnissen zur Zeit der Versetzung des Beamten in den Ruhestand zu lösen hat. Hiebei hat die Behörde zunächst auf der Grundlage eines mängelfreien und schlüssigen ärztlichen Gutachtens die Frage zu beantworten, ob der Beamte überhaupt noch zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit fähig ist; bejahendenfalls hat sie sodann auf der Grundlage dieses sowie eines mängelfreien und schlüssigen berufskundlichen Gutachtens die Frage zu klären, ob dem Beamten jene Erwerbstätigkeiten, die er nach seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit vom medizinischen Standpunkt aus noch auszuüben vermag, zugemutet werden können. Letzteres ist dann der Fall, wenn diese Tätigkeiten ihrer sozialen Geltung nach der früheren Beschäftigung, der dienstlichen Stellung und der Fortbildung des Beamten annähernd gleichkommen und wenn die Aufnahme solcher Tätigkeiten vom Beamten auch nach seinen sonstigen Lebensumständen billigerweise erwartet werden kann. Ob dem Beamten eine solche Beschäftigung, die an sich Gegenstand des allgemeinen Arbeitsmarktes ist, tatsächlich vermittelt werden kann, ist für die abstrakt vorzunehmende Beurteilung der Erwerbsfähigkeit ohne Bedeutung (siehe das Erkenntnis vom 31. Mai 1996, Zl. 96/12/0091, m. w.N.).

Die Erwerbsfähigkeit setzt aber jedenfalls eine im Arbeitsleben grundsätzlich notwendige gesundheitlich durchgehende Einsatzfähigkeit voraus. Es ist zu berücksichtigen, ob die Einsatzfähigkeit im Hinblick auf die üblichen Erfordernisse der Arbeitswelt (beispielsweise Einhaltung der Arbeitszeit, Fähigkeit zur Selbstorganisation) gegeben ist (siehe dazu die hg. Erkenntnisse vom 24. September 1997, Zl. 96/12/0353, und vom 16. Dezember 1998, Zl. 95/12/0194, je m.w.N.).

Zutreffend macht der Beschwerdeführer geltend, dass das Ermittlungsverfahren mangelhaft geblieben sei. Zum einen hat der Sachverständige Dr. M. in seinem Gutachten vom 11. Mai 1998 nicht eigens zu der in diesem Beschwerdeverfahren relevanten Frage der Eingliederbarkeit des Beschwerdeführers in die Arbeitswelt Stellung genommen; diese Frage lässt sich auch nicht mit der erforderlichen Sicherheit aus diesem Gutachten beantworten (sodass die weitere Frage dahingestellt bleiben kann, ob dieses Gutachten vom 11. Mai 1998 ausreichend wäre, die maßgeblichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Versetzung des Beschwerdeführers in den Ruhestand beurteilen zu können). Diesbezüglich bedarf es daher einer entsprechenden Gutachtensergänzung. Allerdings ist auch nicht erkennbar, dass der berufskundliche Sachverständige auf diese psychische Komponente in seinem Gutachten Bedacht genommen hätte, wie der Beschwerdeführer zutreffend rügt. Es wäre daher gegebenenfalls auch eine Ergänzung dieses Gutachtens erforderlich (allenfalls nach Ergänzung des neuropsychiatrischen Gutachtens).

Gleichermaßen trifft es zu, dass die belangte Behörde ihre Annahme, der Beschwerdeführer erziele aus einer künstlerischen Tätigkeit ein entsprechendes Einkommen, nicht ausreichend begründet hat. Der Beschwerdeführer hat bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vom 18. November 1998 vielmehr bestritten, aus dieser Tätigkeit ein Einkommen zu erzielen. Dass er bei dieser Gelegenheit nicht auch zu dem erst später erstatteten Bericht des Bezirksgendarmeriekommandos vom 19. Jänner 1999 Stellung nehmen konnte, ist wohl evident. Um beurteilen zu können, ob die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Bildhauer als entsprechende Erwerbstätigkeit im Sinne des § 9 Abs. 1 PG 1965 anzusehen ist, welche der Anrechnung von Jahren entgegensteht, bedarf es näherer Feststellungen zum Umfang dieser Tätigkeit unter den diesbezüglich von der belangten Behörde angeschnittenen finanziellen Aspekten.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen gewesen wäre.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 17. August 2000

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2000:1999120295.X00

Im RIS seit

12.06.2001
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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