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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AsylG 2005 §3 Abs1;Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2017/20/0156Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Honeder, über die Revision 1. des G B S G (protokolliert zur hg. Zl. Ra 2017/20/0155), und 2. der S A Z H (protokolliert zur hg. Zl. Ra 2017/20/0156), beide in W, beide vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. März 2017, Zlen. I418 2146985-1/6E (zu 1.) und I418 2146994-1/4E (zu 2.), betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die miteinander verheirateten Revisionswerber sind Staatsangehörige Ägyptens und stellten gemeinsam mit ihren beiden minderjährigen Kindern am 14. Juli 2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.
2 Befragt zu den Fluchtgründen wurde sowohl in der niederschriftlichen Erstbefragung als auch in der Einvernahme zusammengefasst angegeben, dass sie koptische Christen seien und deshalb Probleme mit moslemischen Mietern gehabt hätten. Islamisten hätten versucht, eines der minderjährigen Kinder der Revisionswerber zu entführen. Die Revisionswerber hätten die Vorfälle auch angezeigt, aber von Seiten der Polizei sei ihnen nicht geholfen worden. Zudem sei die Revisionswerberin geschlagen worden, weil sie kein Kopftuch, kurze Röcke und ein Kreuz getragen hätte.
3 Mit den Bescheiden vom 5. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge auf internationalen Schutz jeweils sowohl gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach den §§ 55 und 57 AsylG 2005, erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) und stellte fest, dass die Abschiebung nach Ägypten zulässig sei.
Gegen diese Bescheide erhoben die Revisionswerber Beschwerde, in welcher sie unter anderem - unter Anführung weiterer, aktuellerer Berichte zur Lage der Situation für Kopten in ihrem Herkunftsstaat - vorbrachten, dass von Angriffen auf koptische Kirchen zu lesen sei und der mangelnde Schutz der christlichen Minderheit durch den ägyptischen Staat kritisiert werde. Diese Berichte würden die Angaben der Revisionswerber zur Bedrohung von (koptischen) Christen in Ägypten und zum fehlenden staatlichen Schutz vor Angriffen durch Islamisten bestätigen. Weiters verwiesen die Revisionswerber auf mangelnde Länderfeststellungen sowie auf die fortgeschrittene Integration der Revisionswerber. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 20. März 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde ab. Weiters sprach es aus, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.
Eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine.
4 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
5 In der Revision wird zur Zulässigkeit unter anderem vorgebracht, das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes verstoße gegen die - näher dargelegte - Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht.
6 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet. 7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, grundlegend dargelegt, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen, die Abstandnahme von der Durchführung einer (beantragten) mündlichen Verhandlung ermöglichenden - und hier allein in Betracht zu ziehenden - Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint", folgende Kriterien beachtlich sind:
Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.
8 Diesen in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen hat das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entsprochen.
9 Wie in der Zulässigkeit der Revision zutreffend ausgeführt, wurde in der Beschwerde auf die interkonfessionellen Probleme und die Minderheitensituation der koptischen Christen hingewiesen. Weiters wurde auch darauf verwiesen, dass aktuelle Berichte zu den koptischen Christen in Ägypten nicht (vollumfänglich) berücksichtigt wurden. Entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes sind die Revisionswerber der Beweiswürdigung und den darauf gegründeten Feststellungen der Verwaltungsbehörde in ihrer Beschwerde nicht bloß unsubstantiiert entgegengetreten.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben die Asylbehörden bei den Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern die zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen. Das gilt auch für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat daher seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen (vgl. den hg. Beschluss vom 23. Februar 2016, Ra 2016/01/0012, mwN). Eine Berücksichtigung von Berichten speziell zu Kopten in Ägypten, obgleich ein solcher in der Staatendokumentation auffindbar und dem Bundesverwaltungsgericht zugänglich ist (beispielsweise das "ECOI.net- Themendossier: Ägypten: Lage der KoptInnen" vom 8. November 2016), unterblieb gänzlich, obwohl die Revisionswerber bereits in ihrer Beschwerde die Relevanz für eine Berücksichtigung eines solchen Berichtes aufgezeigt hatten.
10 Insofern das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wie auch das Bundesverwaltungsgericht zudem pauschal eine innerstaatliche Fluchtalternative "in anderen Teilen Ägyptens" annehmen, lässt das angefochtene Erkenntnis - worauf die Zulässigkeitsbegründung der Revision auch hinweist - eine ausreichende Auseinandersetzung mit dem der innerstaatlichen Fluchtalternative innewohnenden Zumutbarkeitskalkül vermissen, welches nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage der Revisionswerber in dem in Frage kommenden Gebiet erfordert hätte (vgl. diesbezüglich das hg. Erkenntnis vom 29. April 2015, Ra 2014/20/0151, mwN).
11 Das Bundesverwaltungsgericht konnte daher nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen, sondern hätte nach den oben dargestellten Kriterien eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.
12 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
13 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
14 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. Oktober 2017
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017200155.L00.1Im RIS seit
17.11.2017Zuletzt aktualisiert am
27.11.2017