Entscheidungsdatum
16.10.2017Norm
BBG §42Spruch
L515 2163610-1/2E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. H. LEITNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumsservice, Landesstelle Oberösterreich, vom 10.05.2017, Zl.: OB: XXXX , beschlossen:
A)
In Erledigung der Beschwerde von XXXX vom 18.06.2017 gegen den Bescheid des Sozialministeriumsservice, Landesstelle Oberösterreich, vom 10.05.2017, Zl.: OB: XXXX , wird gem. § 28 Abs. 3 VwGVG, Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz), BGBL I 33/2013 idgF, der bekämpfte Bescheid behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumsservice, Landesstelle Oberösterreich, zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
I.1. Die beschwerdeführende Partei (nachfolgend auch "bP") ist seit 17.03.2014 im Besitz eines Behindertenpasses mit einem Grad der Behinderung von 50%.
I.2. Am 22.03.2017 beantragte die bP die Ausstellung eines Ausweises gemäß § 29b StVO.
I.3. Ein medizinisches Sachverständigengutachten vom 01.05.2017 (Begutachtung am 20.04.2017) kam zu einem Gesamtgrad der Behinderung von 50 v.H.
Die Fragen im Hinblick auf die beantragte Zusatzeintragung – Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel – wurden vom Gutachter negativ beantwortet.
Parteiengehör zu diesem Sachverständigengutachten wurde dem Akteninhalt nach offenbar nicht gewährt.
I.4. Mit Bescheid vom 10.05.2017 wurde der Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" abgewiesen.
I.5. Mit Schreiben vom 18.06.2017 (zur Post gegeben am 19.06.2017) erhob die bP Beschwerde gegen diesen Bescheid.
I.6. Mit Schreiben vom 07.07.2017 erfolgte die Beschwerdevorlage an das Bundesverwaltungsgericht; diese langte am selben Tag hier ein.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
I.1. Das Gutachten des medizinischen Sachverständigen vom 01.05.2017 lautet im hier relevanten Umfang:
" 1. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel – Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?
Die festgestellten Leiden schränken die Mobilität nicht ein.
2. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel – Liegt eine schwere Erkrankung des Immunsystems vor?
Nein
"
I.2. Die belangte Behörde unterließ es im Verwaltungsverfahren, der bP zum Gutachten vom 01.05.2017 Parteiengehör zu gewähren.
Erst mit dem angefochtenen Bescheid wurde das Gutachten in der Beilage übermittelt.
Durch die Vorgangsweise der bB würden essentielle Ermittlungsschritte auf das ho. Gericht abgewälzt (zur Relevanz der Verletzung des Parteiengehörs siehe repräsentativ für eine Mehrzahl von Entscheidungen auch ho. Beschluss vom 12.5.2016, L515 2125064-1/3E, insbesondere wird auf die dortigen Ausführungen in Bezug auf die Relevanz der systematischen Verletzung des Parteiengehörs verwiesen).
I.3. Es ist davon auszugehen, dass sich die bP zum Ergebnis des Ermittlungsverfahrens bereits vor der bB geäußert hätte, wenn sie hierzu Gelegenheit gehabt hätte und wäre die bB angehalten gewesen, dieses Vorbringen in ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, ein weiteres Ermittlungsverfahren zu führen und die Beweismittel einer schlüssigen Beweiswürdigung zu unterziehen.
I.4. Beim ho. Gericht ging zwischenzeitig eine Vielzahl von Rechtssachen ein, in denen die bB das Parteiengehör unterlässt und die bB erst mit der Erlassung des Bescheides mit dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens "überrascht".
I.5. Gegen den angefochtenen Bescheid wurde - wie bereits erwähnt - mit im Akt ersichtlichen Schreiben innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.
Im Wesentlichen wurde unter Verweis auf ihre Beeinträchtigungen von der bP im Ergebnis vorgebracht, dass ihr – entgegen der Ansicht der bB – die beantragte Zusatzeintragung zustehe. Sie schaffe das mit ihren Füssen und mit dem Herzen nicht; zudem müsse sie aussteigen, wenn viele Leute im Bus seien.
2. Beweiswürdigung:
Der für die gegenständliche Zurückverweisung des Bundesverwaltungsgerichtes relevante Sachverhalt ergibt sich aus der Aktenlage.
Gemäß einem Befund einer Fachärztin vom 22.06.2016 ist die körperliche Belastbarkeit des BF erheblich eingeschränkt (vgl. AS 92).
Unter der lfd. Nr. 3 im Gutachten (psychovegetativer Erschöpfungszustand – Einschätzung entsprechend der redzidivierenden Schmerzzustände, chronische Platzangst) erfolgte unter der Positionsnummer 03.05.01 eine Einschätzung mit 30 %.
Das Gutachten vom 01.05.2017 führt im Hinblick auf die beantragte Zusatzeintragung lediglich aus, dass die festgestellten Leiden die Mobilität des BF nicht einschränken und keine schwere Erkrankung des Immunsystems vorliegt. Aussagen, ob erhebliche Einschränkungen der Funktionen der unteren Extremitäten, erhebliche Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit, erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen beim BF vorliegen, werden im Gutachten nicht getroffen. Gegenständlich hätte es insbesondere einer detaillierten Auseinandersetzung mit der körperlichen Belastbarkeit des BF bedurft, steht doch die fachärztliche Aussage, dass die körperliche Belastbarkeit des BF erheblich eingeschränkt sei, unkommentiert im Raum.
Auch zur lfd. Nr. 3 des Gutachtens (vgl. oben) finden sich keine Ausführungen im Hinblick auf das Vorliegen oder das Nichtvorliegen erheblicher Einschränkungen psychischer, neurologischer Fähigkeiten oder Funktionen bei der bP.
Das Gutachten ist daher zur Beurteilung, ob die beantragte Zusatzeintragung berechtigt ist, unzureichend und daher ungeeignet.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1.1. Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
3.1.2. Gem. § 45 Abs. 3 BBG, BGBl. Nr. 283/1990 idgF entscheidet in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung das Bundesverwaltungsgericht durch den Senat.
3.1.3. Gemäß § 9 Abs 1 Satz 1 und 2 BVwGG leitet der Vorsitzende die Geschäfte des Senates und führt das Verfahren bis zur Verhandlung. Die dabei erforderlichen Beschlüsse bedürfen keines Senatsbeschlusses.
3.1.4. Gem. § 28 Abs 3 VwGG ist die Aufhebung und Zurückverweisung an die Behörde – wodurch die Rechtssache nicht materiell erledigt wird, sondern handelt es sich hierbei um eine kassatorisch-prozessuale Entscheidung – aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung mittels Beschluss vorzunehmen. Ebenso ordnet der Gesetzgeber in § 24 (2) VwGVG ausdrücklich an, dass eine Verhandlung dann entfallen kann, wenn bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
Da im gegenständlichen Fall die Rechtssache für eine materielle Entscheidung mangels hinreichend feststehenden Sachverhaltes für den Senat noch nicht verhandlungs- bzw. entscheidungsreif war, ergibt sich die Zuständigkeit für diese Zurückverweisung an die belangte Behörde durch den Einzelrichter.
Im gegenständlichen Fall liegt somit aufgrund der zitierten Bestimmungen iVm der gültigen GV des ho. Gerichts die Zuständigkeit des erkennenden Einzelrichters des Bundesverwaltungsgerichts zur Prüfung der Beschwerde vor.
3.1.5. Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idF BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung – BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes – AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 – DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
3.1.6. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 28 Abs. 3 hat, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 leg. cit nicht vorliegen, das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückzuverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgeht.
3.1.7. Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
Zu A)
3.2.1. Das oa. Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Insoweit erscheinen auch die von der höchstgerichtlichen Judikatur -soweit sie nicht die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung betrifft- anwendbar, weshalb unter Bedachtnahme der genannten Einschränkungen die im Erk. des VwGH vom 16.12.2009, GZ. 2007/20/0482 dargelegten Grundsätze gelten. Mängel abseits jener der Sachverhaltsfeststellung legitimieren das Gericht nicht zur Behebung aufgrund § 28 Abs. 3, 2. Satz (Erk. d. VwGH vom 19.11.2009, 2008/07/0167; vgl. auch Fischer/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), Anm. 11 zu § 28 VwGVG).
3.2.2. Im gegenständlichen Verfahren hatte die bB vorbehaltlich verfahrensrechtlicher Sonderbestimmungen das AVG 1991, BGBl. I Nr. 51/1991 idgF, anzuwenden (vgl. Art. I Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen 2008 – EGVG BGBl. I Nr. 87/2008 idgF).
3.2.3. Gem. § 45 Abs. 3 AVG ist den Parteien Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis der Beweisaufnahme Kenntnis und dazu Stellung zu nehmen. In den im gegenständlichen Verfahren anwendbaren verfahrensrechtlichen Sonderbestimmungen befindet sich keine solche, welche die belangte Behörde von ihrer Obliegenheit gem. § 45 AVG, welche sich auf das dem objektiven Tatsachensubstrat angehörige Elemente bezieht (Erk. d. VwGH vom 23. April 1982, 398/80, ebenso VwGH25.11.2004, 2004/03/0139; Hengstschläger/Leeb, AVG Kommentar, Rz 25 zu § 45 mwN; VwGH 4.11.1992, 92/01/0560; VwSgl 16.423 A/1930;
VwSlg 6580 A/1961; VwSlg 7509 A/1969; VwGH 16.11.1993, 90/07/0036;
Erk. d. VwGH v. 9.11.1994, 92/13/0068; VwGH 28.3.1996, 96/20/0129;
auch VwGH 13.5.1986, 83/05/0204/0209), entbinden würde.
§ 45 Abs. 3 AVG entsprechend hätte die bB gegenüber der bP das Parteiengehör zu wahren gehabt. Dieser Obliegenheit kam sie jedoch nicht nach und wurde von ihr das Parteiengehör vernachlässigt.
Im Verwaltungsverfahren ist das "Überraschungsverbot" zu beachten. Darunter ist das Verbot zu verstehen, dass die Behörde in ihre rechtliche Würdigung Sachverhaltselemente einbezieht, die der Partei nicht bekannt waren (für viele: Erk. vom 29.10.2015, Ro 2015/07/0032 mwN).
Zwar geht der VwGH davon aus, dass seine ständige Rechtsprechung, wonach eine im erstinstanzlichen Verfahren erfolgte Verletzung des Parteiengehörs im Berufungsverfahren saniert werden kann, auf das Beschwerdeverfahren vor dem VwG übertragen wird - eine im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde erfolgte Verletzung des Parteiengehörs kann dann durch die mit Beschwerde an das VwG verbundene Möglichkeit einer Stellungnahme saniert werden, wenn der damit bekämpfte Bescheid die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens vollständig wiedergegeben hat (Erk. d. VwGH vom 10.9.2015, Ra 2015/09/0056). Es stellt sich aber die Frage, ob dies stets der Fall ist und das Verwaltungsgericht immer verhalten ist, das aufgrund des nicht gewährten Parteiengehörs mangelhafte Ermittlungsverfahren zu ergänzen oder sogar über weite Strecken erstmals zu führen bzw. hierdurch der Behörde die Möglichkeit eingeräumt werden soll, den Grundsatz des Parteiengehörs systematisch zu ignorieren, sich so der Verpflichtung zur Ermittlung eines wesentlichen Teils des maßgeblichen Sachverhalts bzw. dessen rechtlicher Würdigung zu entledigen und diese Ermittlungstätigkeit gezielt auf das Verwaltungsgericht abzuwälzen.
Der VwGH legt der Gewährung des Parteiengehörs hohes Gewicht bei, und zeigt die ständige Rechtsprechung, dass die Höchstgerichte das Parteiengehör zu den fundamentalen Grundsätzen des Rechtsstaates, der Hoheitsverwaltung und eines geordneten Verwaltungs-verfahrens zählen (für viele: Erk. d. VwGH vom 1.9.2015, 2013/15/0295 mwN; Erk. d. VwGH vom 8.4.2014, 2012/05/0004 mwN) und dessen Verletzung einen besonders qualifizierten und schwerwiegenden Verfahrensmangel darstellt. Die völlige Vernachlässigung des Parteiengehörs stellt einen so wesentlichen Verfahrensmangel dar, dass er als willkürliches Vorgehen der Behörde und Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes zu qualifizieren ist (Erk. des VwGH vom 29.5.2013, 2011/01/0241; vgl. auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juni 1998 in VfSlg. Nr. 15.149/1998; sowie das hg. Erkenntnis vom 3. September 2001, Zl. 2001/10/0004) und so in die Verfassungssphäre eingreift.
Es ist auch darauf hinzuweisen, dass im gegenständlichen Verfahren der Verletzung des Parteiengehörs eine besondere Gewichtung zukommt, weil im Beschwerdeverfahren ein Neuerungsverbot besteht.
3.2.4. Hinsichtlich der Entscheidungsbefugnis bzw. Entscheidungsverpflichtung geht der Gesetzgeber bei den Verwaltungsgerichten vom Primat der Sachentscheidung aus, wenn er festlegt, dass gem. § 28 Abs. 1 VwGVG das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen hat, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Gemäß § 28 Abs. 3 leg. cit. hat, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 leg. cit nicht vorliegen, das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgeht.
3.2.5. Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stellt die nach § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG 2014 bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird.
Beim vom Gesetzgeber ins Auge gefassten Konzept – nämlich dem Primat der Sachentscheidung und dem untergeordnet die Möglichkeit der Verwaltungsgerichte, bei bestimmten qualifizierten Fallkonstellationen eine kassatorische Entscheidung zu treffen – ging dieser sichtlich von einer belangten Verwaltungsbehörde voraus, welche redlich bemüht ist, ein rechtskonformes Ermittlungsverfahren zu führen. Dass ihr trotz dieses Bemühens Fehler unterlaufen können, ist evident und wird vom Gesetzgeber zugestanden. Sicherlich hatte der Gesetzgeber keine belangte Behörde vor Augen, welche Ermittlungstätigkeiten gezielt und systematisch unterlässt, und sich so ihrer ihr zugewiesenen Zuständigkeit über weite Strecken entledigt.
Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher im Lichte der oa. Ausführungen insbesondere dann in Betracht kommen,
-
wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat,
-
wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder
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bloß ansatzweise ermittelt hat.
-
Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063).
3.2.6. Das ho. Gericht verkennt nicht, dass es im Einzelfall zweckmäßig und sinnvoll sein kann, ein durch ein mangelhaft gewährtes Parteiengehör unvollständiges Ermittlungsverfahren im Beschwerdeverfahren zu ergänzen und die Beschwerdesache durch eine meritorische Entscheidung zu finalisieren. Ein solcher Fall liegt hier jedoch aufgrund der nachfolgenden Ausführungen nicht vor:
Im gegenständlichen Fall bestehen aufgrund der identen Vorgansweise der bB in einer Vielzahl von Verfahren konkrete Anhaltspunkte, dass die bB sowohl in diesem Einzelfall, als auch systematisch in einer Vielzahl anderer Verfahren den – wie vom VwGH bezeichnet – fundamentalen Grundsatz des Parteiengehörs gänzlich ignoriert und so nicht nur in diesem Einzelfall, sondern in einer Vielzahl von Verfahren Willkür übt und gezielt einen essentiellen Teil von Ermittlungen unterlässt.
Ebenso wird darauf hingewiesen, dass die Gewährung des Parteiengehörs regelmäßig mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Stellungnahme der Partei zur Folge hat, wenn sie jenen Sachverhalt von dem die Behörde ausgeht, für unrichtig bzw. unvollständig hält. Diese Stellungnahme bzw. die im Rahmen dieser Stellungnahme angebotenen Beweismittel sind wiederum ein wesentliches Bescheinigungsmittel zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes.
Die bB setzt offensichtlich gezielt auf den Umstand, dass das Verwaltungsgericht den oa. Umstand in seinem Verfahren aufgreift, sich mit dem Vorbringen der beschwerdeführenden Partei, welche in der Beschwerde erstmals die Möglichkeit hatte Stellung zu nehmen, auseinandersetzt und im Ermittlungsverfahren in angemessener Weise berücksichtigt. Dies führt regelmäßig zu einem wesentlich komplexeren Beschwerdeverfahren als es der Fall gewesen wäre, wenn die bB ordnungsgemäß das Parteiengehör gewahrt und die Stellungnahme der Partei in ihrem Verfahren berücksichtigt und so ihren weiteren Ermittlungen zu Grunde gelegt hätte.
Die Verwaltungsbehörde unterließ letztlich offensichtlich gezielt und systematisch Ermittlungen, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden müssen (vgl. das bereits zitierte Erk. d. VwGH vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063).
3.2.7. Einzelfallbezogen ergibt sich Folgendes:
3.2.7.1. Dem Akteninhalt nach unterließ es die belangte Behörde, der bP das von ihr in Auftrag gegebene Gutachten vom 01.05.2017 zur Kenntnis zu bringen und hat die bB somit den elementaren Grundsatz des Parteiengehörs ignoriert. Die Stellungnahme hierzu hätte ein entscheidendes Bescheinigungsmittel dargestellt, in dessen Rahmen es der bP auch möglich gewesen wäre, einen etwaig neu aufgetretenen, aber auch einen bis dato nicht vorgetragenen Sachverhalt zu schildern. Durch diese Vorgehensweise der belangten Behörde hatte die bP nicht die Möglichkeit, sich zum Sachverhalt zu äußern und hat hiermit essentielle Ermittlungsschritte auf das ho. Gericht abgewälzt (zur Relevanz der Verletzung des Parteiengehörs siehe repräsentativ für eine Mehrzahl von Entscheidungen auch ho. Beschluss vom 12.5.2016, L515 2125064-1/3E, insbesondere wird auf die dortigen Ausführungen in Bezug auf die Relevanz der systematischen Verletzung des Parteiengehörs verwiesen).
3.2.7.2. Gegenständlich kommt noch hinzu, dass das Gutachten vom 01.05.2017 – jedenfalls im Hinblick auf die beantragte Zusatzeintragung – zur Entscheidungsfindung nicht geeignet ist.
3.2.7.3. Aufgrund der in den Vorabsätzen beschriebenen Umstände ist das gegenständliche Verfahren mit Mängeln behaftet, welche zu einer Behebung des angefochtenen Bescheides gem. § 28 Abs. 3 VwGVG führen müssen.
3.2.7.4. Im Lichte der in den Vorabsätzen dargelegten Überlegungen wird die belangte Behörde die entsprechenden Verfahrensschritte – Einholung eines verwertbaren Gutachtens (unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen, insbes. "2. Beweiswürdigung") – nachzuholen und – nach Gewährung von Parteiengehör – einen entsprechenden Bescheid zu erlassen haben.
Trotz der Einrichtung von Außenstellen des BVwG ist auszuführen, dass aufgrund des organisatorischen Aufbaues des BVwG und des Sozialministeriumservices eine Weiterführung des Verfahrens durch das BVwG im Sinne des § 28 Abs. 2 u 3 VwGVG nicht mit einer Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist bzw. zu keiner wesentlichen Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens führt.
3.2.8. Gemäß § 24 Abs 2 Z 1 VwGVG konnte eine mündliche Verhandlung unterbleiben, weil bereits auf Grund der Aktenlage feststand, dass der Beschwerde stattzugeben bzw. der angefochtene Bescheid aufzuheben war.
Zu B) Zulässigkeit der Revision:
3.3. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG zulässig, weil die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, weil zur Frage, ob im gegenständlichen Fall abweichend vom Wortlaut des § 45 Abs. 2 und 3 BBG im Falle eines kassatorischen Beschlusses ohne vorhergehende Verhandlung gem. § 28 Abs. 3 VwGVG laut § 9 Abs. 1 Satz 1 und 2 BVwGG der Einzelrichter zu entscheiden hat, es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt. Darüber hinaus wird diese Frage vom ho. Gericht in seiner Spruchpraxis nicht einheitlich beatwortet und reicht, weil sie das Recht auf den gesetzlichen Richter berührt, in die Verfassungssphäre.
In Bezug auf die Auslegung des § 28 Abs. 3 VwGVG und der §§ 39 Abs. 2 bzw. 45 Abs. 3 AVG orientiert sich das ho. Gericht an der einheitlichen Rechtsprechung des VwGH.
Schlagworte
Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2017:L515.2163610.1.00Zuletzt aktualisiert am
10.11.2017