Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann-Prentner und den Hofrat Dr. Brenn sowie die fachkundigen Laienrichter MMag. Ferdinand Dietrich und Mag. Michaela Puhm als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei A*****, vertreten durch Slana Loidl, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei A***** GmbH, *****, vertreten durch die BLS Rechtsanwälte Boller Langhammer Schubert GmbH in Wien, wegen 91.666,98 EUR sA, über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 27. Oktober 2016, GZ 12 Ra 76/16g-16, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Die außerordentliche Revision wird gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO zurückgewiesen (§ 510 Abs 3 ZPO iVm § 2 Abs 1 ASGG).
Begründung:
Rechtliche Beurteilung
1. Die behauptete Nichtigkeit und die geltend gemachte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens liegen
– wie der Oberste Gerichtshof geprüft hat – nicht vor.
Die Beklagte wirft dem Berufungsgericht einen Verstoß gegen die Innehaltungsverpflichtung des § 62a Abs 6 VfGG vor. Ein solcher Verstoß liegt allerdings nicht vor. Dafür wäre vorausgesetzt, dass das Rechtsmittelgericht rechtzeitig, nämlich vor seiner Entscheidung, aufgrund einer Mitteilung des Verfassungsgerichtshofs vom Parteienantrag auf Normenkontrolle Kenntnis erlangt hat. Im Anlassfall ist die Mitteilung des Verfassungsgerichtshofs an das Erstgericht erst am Tag der Entscheidung des Berufungsgerichts beim Erstgericht eingelangt; das Berufungsgericht hat vom Parteienantrag erst am 4. November 2016 erfahren.
Davon abgesehen würde selbst ein Verstoß gegen die Innehaltungsverpflichtung weder Nichtigkeit noch einen Verfahrensmangel begründen, wenn eine normaufhebende Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs im gerichtlichen Verfahren vor dessen rechtskräftigem Abschluss noch berücksichtigt werden könnte. Der Oberste Gerichtshof hat dafür Sorge getragen, dass auch diese Voraussetzung gegeben gewesen wäre (siehe dazu den Beschluss des Obersten Gerichtshofs vom 27. 1. 2017 zu 8 ObA 76/16h).
2. Die verfassungsrechtlichen Bedenken der Beklagten gegen § 334 ASVG sind nicht begründet. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 17. Juni 2017, G 331/2016, die Behandlung des zugrunde liegenden Parteienantrags der Beklagten gemäß § 19 Abs 3 Z 1 iVm § 31 letzter Satz VfGG abgelehnt.
3. Hinsichtlich der von der Beklagten angesprochenen unionsrechtlichen Bedenken verweist sie selbst auf einen reinen Inlandssachverhalt und bezieht sich damit auf das Erfordernis eines grenzüberschreitenden Bezugs. Der Anwendungsbereich des Unionsrechts ist damit nicht eröffnet (siehe dazu 8 ObA 34/17h).
4.1 Zur Auslegung des Feststellungsurteils im Vorprozess zeigt die Beklagte keine erhebliche Rechtsfrage auf.
Die von der Beklagten zitierte Entscheidung 3 Ob 79/05x betrifft die Frage der Bewilligung und Vollziehung einer Unterlassungsexekution nach § 355 EO. Nach dieser Bestimmung setzt die Bewilligung der Exekution zur Erwirkung einer Unterlassung das Zuwiderhandeln gegen den Exekutionstitel voraus. Dazu hielt der 3. Senat fest: „Für die Beurteilung des Umfangs des Gegenstands des Exekutionstitels [der Unterlassungspflicht] ist in erster Linie der Spruch maßgebend; die Bewilligung hat sich streng an den Wortlaut desselben zu halten; es kommt nicht darauf an, was der Verpflichtete nach dem Gesetz zu unterlassen hat. [Auch in Bezug auf die Exekutionsbewilligung] ist es bei Undeutlichkeit des Spruchs aber zulässig, die Gründe zur Auslegung heranzuziehen.“
Die Entscheidung 2 Ob 215/10x betrifft eine Verbandsklage, die (ebenfalls) ein Unterlassungsgebot zum Gegenstand hat. Der 2. Senat hatte zu beurteilen, ob eine verwendete Klausel „sinngleich“ zu einer verbotenen Klausel war. Dazu wurde ausgeführt: „Führt bei einem Exekutionstitel die Auslegung des Spruchs nach dem gewöhnlichen Wortsinn zu keinem Ergebnis, ist auch die der Entscheidung beigegebene Begründung heranzuziehen. Die ansonsten vom Exekutionsgericht bei der Exekutionsbewilligung zu beachtende Regel ist auch für die hier vom Prozessgericht vorzunehmende Prüfung des Rechtsschutzbedürfnisses maßgeblich.“
Beide Entscheidungen beziehen sich auf den besonderen Fall der Reichweite eines Unterlassungsgebots mit Bezug auf das Exekutionsverfahren. Auch ihnen lässt sich keineswegs entnehmen, dass die Heranziehung der Entscheidungsgründe zur Auslegung des Spruchs unzulässig wäre.
4.2 Der hier zu beurteilende Fall weist eine enge Nahebeziehung zur Bestimmung der Reichweite der Rechtskraft, konkret der Bindungswirkung der Entscheidung im Vorprozess auf (vgl 7 Ob 67/10v; 6 Ob 77/11h). Bei der Bindungswirkung handelt es sich um einen Aspekt der materiellen Rechtskraft. Rechtskräftig wird nur die Entscheidung über den Anspruch, der geltend gemacht wurde. Das Ausmaß der Bindungswirkung wird grundsätzlich durch den Urteilsspruch bestimmt, doch sind die Entscheidungsgründe zur Auslegung und Individualisierung des rechtskräftigen Anspruchs heranzuziehen, sodass sich die materielle Rechtskraft auf die Tatsachenfeststellungen insoweit erstreckt, als dies zur Individualisierung des Spruchs notwendig ist (3 Ob 5/16f). Dies bedeutet, dass die Entscheidungsgründe zur Auslegung und Individualisierung des rechtskräftigen Anspruchs heranzuziehen sind (RIS-Justiz RS0043259; 8 Ob 26/17g).
4.3 § 334 ASVG gewährt den Sozial-versicherungsträgern im Zusammenhang mit Arbeitsunfällen bzw Berufskrankheiten für alle von ihnen erbrachten Leistungen bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit des Dienstgebers gegen diesen einen originären Aufwandsersatzanspruch, der unabhängig davon besteht, ob dem Verletzten ein privatrechtlicher Anspruch zusteht. Soweit daneben Ansprüche bestehen, für die die Legalzession des § 332 ASVG eingreift, ist § 334 ASVG nicht maßgebend (Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek4, § 334 ASVG Rz 6). § 332 ASVG betrifft aufgrund einer Legalzession übergegangene Ansprüche gegen Drittschädiger. Bei Schädigermehrheit mit einem haftungsbefreiten Schädiger (Dienstgeber) kann der Sozialversicherungsträger Ansprüche aus § 332 ASVG und aus § 334 ASVG nebeneinander geltend machen (Neumayr/Huber, aaO Rz 7).
4.4 Die Klägerin hat im Vorverfahren diese Vorgangsweise gewählt. Der Spruch des Feststellungsurteils im Vorverfahren unterscheidet klar zwischen übergegangenen Ansprüchen einerseits und anderen Ansprüchen der Klägerin. Zudem bringt der Urteilsspruch klar zum Ausdruck, dass die hier Beklagte der Klägerin für künftige Schäden aus dem Arbeitsunfall des Versicherten vom 16. 1. 2001 zur Gänze haftet. Für übergegangene Ansprüche (§ 332 ASVG), die die Drittschädigerin betreffen, besteht eine solidarische Haftung.
Der Spruch des Feststellungsurteils bezieht sich darüber hinaus eindeutig auch auf andere Ansprüche. In dieser Hinsicht ist die Formulierung „künftige Schäden des [Versicherten]“ nicht eindeutig. Aus diesem Grund ist es nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanzen die Begründung der Vorentscheidung zur Auslegung des Urteilsspruchs herangezogen haben. Aus der Begründung ergibt sich, dass die Regressansprüche nach § 334 ASVG als originäre Aufwandsersatzansprüche ausdrücklich in die Beurteilung miteinbezogen wurden. Von diesen Ansprüchen wurden jene unterschieden, für die eine solidarische Haftung bejaht wurde. Dies sind nach der Begründung der Vorentscheidung die übergegangenen Ansprüche des Versicherten gegenüber der Drittschädigerin.
4.5 Die vom Berufungsgericht vorgenommene Auslegung des Urteilsspruchs im Vorverfahren betrifft typisch den Einzelfall (RIS-Justiz RS0044088). Die Beurteilung der Vorinstanzen, dass die Einschränkung auf übergegangene Ansprüche des Versicherten nur die Solidarhaftung mit der Drittschädigerin betreffe und die Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte zur Gänze als originäre Ansprüche nach § 334 ASVG beurteilt worden seien, erweist sich keinesfalls als korrekturbedürftig.
5. Mangels erheblicher Rechtsfrage war die außerordentliche Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Schlagworte
ArbeitsrechtTextnummer
E119774European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2017:008OBA00076.16H.0928.000Im RIS seit
10.11.2017Zuletzt aktualisiert am
10.11.2017