Entscheidungsdatum
23.10.2017Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W182 2013622-2/2E
W182 2013630-2/2E
W182 2013628-2/2E
W182 2013629-2/2E
W182 2101856-2/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER als Einzelrichter über die Beschwerden 1.) des XXXX , geb. XXXX , 2.) der XXXX , geb. XXXX , 3.) der XXXX , geb. XXXX , 4.) der XXXX , geb. XXXX , und 5.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, alle vertreten durch: XXXX , gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 22.09.2017, 1.) Zl. 598808401/160939625, 2.) Zl. 598808804/160939617, 3.) Zl. 821005507/160939650, 4.) Zl. 821739906/160939668, und 5.) Zl. 1050423102/160939633, nach § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I. Nr. 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerden werden gemäß § 68 Abs. 1 Allgemeines
Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG), BGBl. I Nr. 51/1991 idgF, sowie §§ 10 Abs. 1 Z 3, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, und §§ 52 Abs. 2 Z 2, 52 Abs. 9, 46 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr. 1/1930 (B-VG), nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang und Sachverhalt:
1.1. Die beschwerdeführenden Parteien (im Folgenden: BF) sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe, stammen aus Tschetschenien und sind der muslimischen Religion zugehörig. Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: BF1) und die Zweitbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF2), ein verheiratetes Paar, reisten zusammen mit der Drittbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF3), ihrer (nunmehr) fast 7-jährigen Tochter, im Sommer 2012 illegal in das Bundesgebiet ein und stellten am 03.08.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Anlässlich seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 03.08.2012 sowie in seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 29.10.2012 führte der BF1 mit Hilfe der BF2 als Dolmetscherin, für die innerhalb der Familie entwickelten Gebärdensprache, zu seinen Fluchtgründen aus, in der Nähe ihrer Wohnung XXXX habe Mitte Juni eine Schießerei stattgefunden. Kurz darauf seien verwundete Männer zu ihnen gekommen und hätten um Essen gebeten. Nachdem sie ihnen etwas zu essen gegeben hätten, seien die Männer wieder gegangen. Sie seien ca. 5 Minuten bei ihnen gewesen. Am nächsten Tag habe sie ein Freund gewarnt und ihnen geraten XXXX zu verlassen. Hinsichtlich seines Gesundheitszustandes gab der BF1 an, im Alter von acht Jahren an Meningitis erkrankt zu sein und dabei sein Gehör verloren zu haben; seither sei er taubstumm. Diesbezüglich legte er ein Schreiben eines HNO-Facharztes vom 23.10.2012 mit der Diagnose Taubheit beidseits nach Hirnhautentzündung vor. Er habe öfters starke Kopfschmerzen, wogegen er Medikamente einnehme. Zu seinen persönlichen Verhältnissen brachte der BF1 vor, er sei in XXXX geboren und aufgewachsen. Vor seiner Erkrankung habe er ein Jahr die Schule besucht. Im Herkunftsstaat lebten noch seine Mutter und sein Bruder; sein Vater sei bereits verstorben. Zwei Brüder seien ebenfalls nach Österreich ausgereist, um Anträge auf internationalen Schutz zu stellen, wobei er jedoch nichts über deren Probleme wisse. Im Jahr 2009 habe er die BF2 geheiratet und legte diesbezüglich die russische Heiratsurkunde vor. Zur Deckung seines Lebensunterhaltes habe er Invalidenrente erhalten und sei von seiner Familie unterstützt worden. In Österreich lebe er von den Leistungen im Rahmen der Grundversorgung und er habe noch keinen Deutschkurs besucht. Zudem legte der BF1 eine russische Bestätigung über seine Invalidität vom 11.07.2005 sowie die russischen Krankenversicherungspolizzen betreffend der BF1-BF3 vor.
Die BF2 wiederholte anlässlich ihrer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 03.08.2012 sowie ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 29.10.2012 hinsichtlich der Ausreisegründe im Wesentlichen das Vorbringen des BF1 und gab an, dass der Freund, der die Familie gewarnt habe, ihnen auch mitgeteilt habe, dass man sie als Untergrundkämpfer beschuldigen werde. Zu ihren persönlichen Verhältnissen führte die BF2 aus, sie sei in XXXX geboren und habe dort zehn Jahre die Schule besucht. Nach der Hochzeit sei sie XXXX gezogen. Sie habe nicht gearbeitet. Ihre Eltern, zwei Schwestern und ein Bruder seien im Jahr 2010 nach Österreich gekommen und lebten hier als Asylwerber. Zudem legte die BF2 ihre russische Geburts- und Heiratsurkunde im Original vor.
Im XXXX 2012 wurde die Viertbeschwerdeführerin (im Folgenden: BF4) im Bundesgebiet geboren und stellte für diese die BF2 als gesetzliche Vertreterin am 23.11.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zum Nachweis ihrer Identität wurde die österreichische Geburtsurkunde der BF4 vorgelegt.
Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 29.12.2012 wurden die Anträge der BF1 – BF4 auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gem. § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Zudem wurden die Genannten gemäß § 10 Abs. 1 Z. 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt III.).
Das Bundesasylamt begründete im angefochtenen Bescheid des BF1 die abweisende Entscheidung im Wesentlichen damit, dass sich sein Vorbringen zu seinen Ausreisegründen als nicht glaubhaft erweise. Im Fall einer Rückkehr des BF1 in die Russische Föderation drohe diesem keine Gefahr einer unmenschlichen Behandlung oder der Todesstrafe sowie seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt. Weiters würde dem BF1 im Falle einer Rückkehr die Lebensgrundlage nicht gänzlich entzogen werden und würde dieser nicht in eine die Existenz bedrohende (oder medizinische) Notlage gedrängt werden. Fest stehe, dass im Heimatland ausreichende medizinische Behandlungsmöglichkeiten vorhanden und dem BF1 auch zugänglich seien. Zudem verfüge der BF1 im Heimatland über familiäre Anknüpfungspunkte. Abschließend wurde die Ausweisungsentscheidung begründet. Die abweisenden Entscheidungen der BF2-BF4 wurden im Wesentlichen damit begründet, dass diese keine eigenen Fluchtgründe bezüglich ihres Herkunftsstaates ins Treffen geführt hätten. Da den Angaben des BF1 die Glaubhaftigkeit zu versagen gewesen seien, sei es in weiterer Folge auch nicht glaubhaft, dass diese Gründe Auswirkungen auf die BF haben könnten.
Die gegen diese Bescheide binnen offener Frist erhobenen Beschwerden machten Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend.
Mit Schreiben vom 20.12.2012 wurden die Ausführungen in der Beschwerde zum Gesundheitszustand des BF1 dahingehend ergänzt, dass dieser im Herkunftsstaat keine Möglichkeit gehabt habe, sich wegen seiner Gehörlosigkeit behandeln zu lassen. Es sei ihm weder ein Schulbesuch möglich gewesen noch habe er einem Beruf nachgehen können. Er sei in der Gesellschaft ständiger Diskriminierung ausgesetzt. Es wäre zwar möglich den BF1 zu operieren, doch werde dies von den in Österreich behandelnden Ärzten abgelehnt, da eine entsprechende medizinische Weiterversorgung im Herkunftsland nicht möglich sei. Diesbezüglich wurden Befunde eines Landeskrankenhauses vom November bzw. Dezember 2012, mit der Diagnose an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit beidseits, vorgelegt. Mit Schreiben eines Landeskrankenhauses vom Februar 2013 wurde mitgeteilt, dass eine medizinische Versorgung des BF1s mit XXXX möglich sei, doch müsse hierbei sowohl die logopädische als auch die technische Nachbetreuung jahrelang gewährleistet sein. Mit Eingabe vom 26.06.2013 brachte der BF1 einen urologischen Befund eines Landeskrankenhauses vom Mai 2013, mit der Diagnose XXXX , sowie einen neurologischen Befund vom 08.04.2013, mit der Diagnose Vertigo (Schwindel) und Mitgräne mit migräneassoziiertem Schwindel, in Vorlage.
Mit Anfragebeantwortung des Verbindungsbeamten des Bundesministeriums für Inneres vom 14.10.2013 wurde nach Erhebungen im Republikanischen Medizinischen Krankenhaus in Grosny mitgeteilt, dass Patienten für die Spezialbehandlung dieser Art von Krankheit bzw. Implantation samt Nachbehandlungen in andere Republiken, u.a. Naltschik oder Astrachan, überstellt würden. Die Kosten würden zur Gänze vom Gesundheitsministerium der Republik Tschetschenien getragen werden.
In Erledigung der Beschwerden wurden mit Beschlüssen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 20.05.2014, Zl. W204 1431976-1 ua., die bekämpften Bescheide behoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
Diese Entscheidung wurde zusammengefasst damit begründet, dass die Behörde die BF2 inhaltlich nicht und den BF1 nur unzureichend befragt habe, weshalb es die Behörde verabsäumt habe, den Sachverhalt ausreichend zu ermitteln, um sich überhaupt erst ein Bild der Fluchtgründe verschaffen zu können. So hätten die BF in der Beschwerdeschrift auch angegeben, dass sie XXXX angehören würden und deshalb von staatlicher Seite diskriminiert worden seien. Die BF seien aber auch keineswegs befragt worden, ob und wie weit sie allfälligen Diskriminierungen durch die Erkrankung des BF1 im Heimatland ausgesetzt gewesen seien. Zudem habe das Bundesasylamt keine Ermittlungen vorgenommen, um den Gesundheitszustand des BF1 und die sich daraus allenfalls ergebenden Behandlungsnotwendigkeiten abzuklären. Dazu sei festzuhalten, dass der BF1 an einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit leidet.
Im fortgesetzten Verfahren wurde der BF1 am 01.10.2014 niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) einvernommen, wobei er hinsichtlich seines Gesundheitszustandes angab, wegen seiner Schwindelgefühle und den Ohrenproblemen in ärztlicher Behandlung zu stehen. Zudem habe er bei der Atmung Probleme, seine Arme seien manchmal taub und er habe XXXX . Diese gesundheitlichen Probleme habe er schon im Herkunftsstaat gehabt, da er XXXX erkrankt sei. Nach Vorhalt der Anfragebeantwortung vom 14.10.2013, entgegnete der BF1, er habe bereits mehrfach erfolglos für eine derartige Operation angesucht und würden die Kosten dafür nicht übernommen werden. Der BF1 würde die XXXX haben, er XXXX . Konkret habe es deshalb nie Verfolgungshandlungen gegen ihn gegeben. Befragt, ob er aufgrund seiner Behinderung von privater oder staatlicher Seite Diskriminierungen ausgesetzt gewesen sei, erklärte er, von staatlicher Seite habe er keine Möglichkeit gehabt Arbeit zu bekommen, doch habe er eine monatliche Invaliditätspension in der Höhe von 5.000 Rubel erhalten. Von staatlicher Seite sei er demnach nicht diskriminiert worden, nur von einigen Bekannten und Freunden. Laut der vorgelegten Invaliditätsbestätigung könne er arbeiten, doch aufgrund seiner Schwindelgefühle sei es ihm nicht möglich einer Arbeit nachzugehen. Im Herkunftsstaat habe er im Haus der Eltern gelebt und sei er von seiner Familie unterstützt worden. Seine Mutter, ein Bruder und zwei Schwestern lebten immer noch im Herkunftsstaat. Ein weiterer Bruder sei nach einer Asylantragstellung in Österreich nach Tschetschenien zurückgekehrt. Ein dritter Bruder sei nach zwei negativen Bescheiden in Österreich nach Deutschland weitergereist. Hinsichtlich seiner Ausreisegründe, äußerte der BF1 allgemeine Befürchtungen, festgenommen oder entführt zu werden, ohne konkrete gegen ihn gerichtete Verfolgungshandlungen geltend zu machen. Dazu gab er im Wesentlichen an, dass es gegen ihn konkret nie Misshandlungen gegeben habe und er auch nicht entführt worden sei. Bei einer Säuberungsaktion seien zwei Männer zu ihnen gekommen und habe der BF1 diesen Essen und Kleidung gegeben. Der Meinung des BF1 nach seien es Widerstandskämpfer gewesen. Dann habe der BF1 Angst bekommen, dass ihn jemand verraten könnte, weil er diesen Menschen geholfen habe. Deshalb sei er geflüchtet. Der BF1 habe in Tschetschenien mit seiner Mutter und seinem Bruder zusammengelebt. Seinem Wissen nach werde in Tschetschenien nicht nach ihm gesucht. Die Polizisten hätten nicht gewusst, dass er den Leuten Essen gegeben hätte, nur seine Nachbarn hätten es gewusst. Die Mutter und der Bruder des BF1 seien immer in Tschetschenien geblieben. Dies hätten bis auf die Schwierigkeiten in Zusammenhang mit den gesundheitlichen Problemen des BF1 keine Probleme gehabt. Der BF1 stehe über Skype im Kontakt zu ihnen. Sein Bruder sei XXXX .
Am 02.10.2014 wurde die BF2 vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen, wobei sie eingangs erklärte, schwanger zu sein und diesbezüglich ihren Mutter-Kind-Pass vorlegte. Hinsichtlich des Gesundheitszustandes des BF1 gab sie an, der BF1 werde in Österreich logopädisch betreut; im Herkunftsstaat habe er keine logopädische Betreuung erhalten, da dies aus finanziellen Gründen nicht möglich gewesen sei. Sie hätten mehrmals um eine finanzielle Unterstützung für eine Operation des BF1 angesucht, doch keine erhalten. So hätten sie eine SMS geschickt und als sie keine Antwort bekommen hätten, hätten sie sich telefonisch erkundigt, wo man ihnen eine Überweisung nach Moskau, aber keine finanzielle Unterstützung zugesagt habe. Hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes legte die BF2 ein Schreiben vom 01.10.2014 vor, wonach sie sich aufgrund einer generalisierten Angststörung in psychologischer Behandlung befunden habe. Ihren Lebensunterhalt hätten sie durch die Pension des BF1 und durch das Kindergeld für die BF3 bestritten, zudem seien sie von der Schwiegermutter und vom Bruder des BF1 unterstützt worden und hätten auch mit diesen in einem Haushalt gelebt. Auf Nachfrage, ob sie im Falle einer Rückkehr erneut dort leben könnten, brachte die BF2 vor, es wäre schwierig, da ihr Schwager nunmehr eine eigene Familie habe. Kurz vor ihrer Ausreise hätten sie bei der Großmutter des BF1 gelebt. Im Herkunftsstaat lebten noch ihr Großvater, vier Tanten und ein Onkel; darüber hinaus lebten auch ihre Schwiegermutter, zwei Schwägerinnen und zwei Schwager dort. In Österreich lebten ihre Eltern, drei Schwestern, ein Bruder und zwei Onkeln; ihre Eltern hätten eigene Fluchtgründe. Die Frage, ob sie XXXX Problemen ausgesetzt gewesen sei, verneinte die BF2, sie habe sich nur nicht so anziehen können, wie sie das wolle. Auf Nachfragen verneinte die BF ausdrücklich, XXXX zu sein. Mit der Polizei oder den Behörden habe sie deshalb keine Probleme gehabt.
Mit Bescheiden des Bundesamtes vom 10.10.2014, Zlen. 598808401-1524466, 98808804-1524440, 821005507-1524431 und 821739906-2159197, wurden die Anträge der BF1-BF4 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Den BF1-BF4 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäߧ 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die BF1-BF4 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung der BF1-BF4 gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen festgelegt (Spruchpunkt III.).
Das Bundesamt begründete im angefochtenen Bescheid die abweisende Entscheidung im Wesentlichen damit, dass der BF1 seine Ausreisegründe nicht glaubhaft darlegen habe können. Weiters wurde festgestellt, dass dem BF1 im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation keine Gefahr einer unmenschlichen Behandlung oder der Todesstrafe sowie seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt drohen würde. Zudem sei die medizinische Versorgung im Herkunftsstaat gesichert. Eine allfällig notwendige Behandlung seiner seit Kindheitstagen bestehenden Krankheit könne daher ohne Probleme fortgesetzt werden, insbesondere sei eine XXXX samt Nachbehandlung (kostenfrei) durchführbar. Aufgrund der familiären Anknüpfungspunkte würde der BF1 in keine ausweglose Lage geraten, außerdem habe er Anspruch auf Invaliditätsrente. Abschließend begründete das Bundesamt seine Rückkehrentscheidung. Die abweisenden Entscheidungen der BF2-BF4 wurden im Wesentlichen damit begründet, dass diese keinen Fluchtgrund bezüglich ihres Herkunftsstaates ins Treffen geführt hätten. Da den Angaben des BF1 die Glaubwürdigkeit zu versagen gewesen seien, sei es in weiterer Folge auch nicht glaubhaft, dass diese Gründe Auswirkungen auf die BF2-BF4 haben könnten.
Gegen diese Bescheide erhoben die BF1-BF4 mit Schriftsatz vom 14.10.2014 binnen offener Frist Beschwerde und wiesen nochmals darauf hin, dass der BF1 entgegen der vorliegenden Anfragebeantwortung faktisch keinen Zugang zu einer medizinischen Behandlung bzw. Nachbehandlung erhalte, da er bereits mehrmals vergeblich um eine finanzielle Unterstützung für eine solche OP angesucht habe. Auch XXXX sei für die BF, XXXX , im Herkunftsland eine schwere Diskriminierung in der Gesellschaft und von staatlicher Seite verbunden, und XXXX .
Im XXXX wurde der Fünftbeschwerdeführer im Bundesgebiet geboren und stellte für diesen der BF1 als gesetzlicher Vertreter am 21.01.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zum Nachweis seiner Identität wurde die österreichische Geburtsurkunde des BF5 vorgelegt.
Mit dem Bescheid des Bundesamtes vom 12.02.2015, Zl. 1050423102-150073647, wurde der Antrag des BF5 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigtenin Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Dem BF5 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den BF5 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF5 gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen festgelegt (Spruchpunkt III.).
Gegen diesen Bescheid wurde mit Schreiben vom 17.02.2015 fristgerecht Beschwerde erhoben.
Am 14.07.2015 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentlich mündliche Beschwerdeverhandlung statt. Dabei erklärte die anwesende Gebärdendolmetscherin eingangs, dass eine Verständigung mit dem BF1 in (österreichischer) Gebärdensprache aufgrund seines geringen Wortschatzes nicht möglich sei. Hinsichtlich des Gesundheitszustandes erklärte der anwesende Beschwerdeführervertreter, der BF1 leide weiterhin an Gehörlosigkeit und Schwindelgefühl. Es seien keine operativen Eingriffe erfolgt. Betreffend den übrigen BF lägen keinerlei Erkrankungen vor. Zu ihren persönlichen Verhältnissen befragt, brachte die BF2 vor, sie sei seit Juli 2009 mit dem BF1 verheiratet. Sie habe schnell seine Zeichensprache erlernt, um sich mit ihm zu verständigen. Freunde aus der Nachbarschaft seien ebenso fähig gewesen, sich mit dem BF1 zu unterhalten. Befragt, was den BF1 gehindert habe, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, antwortete die BF2, einerseits habe er keinen Beruf erlernt und andererseits wegen seines Gesundheitszustandes; ihm sei ständig schwindlig und könne er nichts Schweres heben. Mittlerweile gehe es ihm besser und könne er leichte Arbeiten, wie etwa Müllsammeln, erledigen. Der BF1 habe nur ein Jahr lang die Grundschule besucht, dann habe er sein Gehörvermögen verloren. Er könne allerdings lesen und schreiben. Sie selbst habe zehn Jahre die Grundschule besucht, sei aber keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Den Lebensunterhalt hätten sie mit der Invalidenpension des BF1 und der Unterstützung ihres Schwagers und der Schwiegermutter bestritten. Der Schwager arbeite auf Baustellen und die Schwiegermutter erhalte staatliche Pension. Darüber hinaus hätten sie die ersten eineinhalb Jahre Kindergeld für die BF3 erhalten. Von ihrer Familie hätten sie keine Unterstützung erhalten, da diese bereits Tschetschenien verlassen habe. Ihre Eltern und vier Geschwister lebten noch in Österreich; das Verfahren sei noch aufrecht. Nur eine Schwester sei mit einem anerkannten Flüchtling verheiratet und habe ebenfalls den Status einer Asylberechtigten. Sie besuche ihre Familie einmal im Monat, eine finanzielle Abhängigkeit bestehe aber nicht. Zu ihrer Religionszugehörigkeit befragt, gab die BF2 an, sie sowie ihre Familie XXXX . Sie sei deshalb keinen Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen, doch habe sie XXXX . Die BF2 verwies auf die allgemeine Lage der XXXX .
Mit Schreiben vom 25.08.2015 führten die BF aus, dass sie im Falle einer Rückkehr in eine ausweglose, existenzbedrohende Situation gerieten, da es weder dem BF1 noch der BF2 möglich sei, den Unterhalt der Familie zu bestreiten. So herrsche in Tschetschenien wirtschaftlich generell eine angespannte Situation. Zudem sei es dem BF1 aufgrund seines Gesundheitszustandes nicht möglich, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen; dies stehe auch im Einklang mit aktuellen Länderberichten zur Situation von Menschen mit Behinderungen. Hinsichtlich der BF2 sei darauf hinzuweisen, dass Frauen generell am Arbeitsmarkt diskriminiert werden würden. Zudem sei die BF2 Mutter dreier Kinder unter fünf Jahren. Erschwerend komme hinzu, dass die BF2 weiterhin XXXX . Auch dieser Umstand stehe im Einklang mit den Länderfeststellungen. Darüber hinaus könnten die BF auf keinerlei Unterstützung durch den Familienverband zurückgreifen, da der Bruder des BF1 seine eigene Familie versorgen müsse. Die Mutter des BF1 erhalte nur eine geringe Pension. In dem Haus, wo die BF1-BF3 bis zu ihrer Ausreise lebten, sei kein Platz mehr. Sonst verfügten die BF über keine Verwandten im Herkunftsstaat. Zur Möglichkeit der Durchführung einer XXXX in der Russischen Föderation wurde u.a. ausgeführt, dass Zweifel an deren Richtigkeit bestünden, da der BF1 bereits erwähnt habe, mehrmals erfolglos um die Übernahme der Kosten angesucht zu haben. Überdies sei auf die hohe Korruption im tschetschenischen Gesundheitssystem hinzuweisen, sodass davon auszugehen sei, der tschetschenische Staat übernehme keine Kosten für diese Behandlung. Zudem werde in diesem Bericht angeführt, dass die Behandlungen außerhalb Tschetscheniens zu erfolgen hätten. Eine Wohnsitzverlegung außerhalb Tschetscheniens sei den BF mangels jeglicher sozialer Anknüpfungspunkte nicht zumutbar. Eine regelmäßige Anreise zu den Behandlungen erscheine aus finanziellen Erwägungen und aufgrund der großen Distanzen als schwierig.
Die BF legten ferner folgende Unterlagen bei: Schreiben eines Facharztes für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten vom 11.08.2015, wonach der BF1 an einer linksseitig vollkommenen Ertaubung und Resthörigkeit rechts leide, womit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80 % bestehe; Zwischenbericht eines Landeszentrums für Hörgeschädigte vom 08.07.2015, wonach der BF1 seit September 2013 den Deutschkurs für gehörlose Asylwerber besuche, ein Unterstützungsschreiben des Unterkunftbetreuers vom 15.07.2015 betreffend den BF1; ACCORD-Anfragebeantwortung vom XXXX , die Fälle von staatlicher ACCORD-Anfragebeantwortung vom XXXX .
In der fortgesetzten öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 21.09.2015 erklärten der BF1 und die BF2 für sich und die BF3-BF5 im Beisein und nach Rücksprache mit dem rechtsfreundlichen Vertreter die Beschwerden gegen die angefochtenen Bescheide hinsichtlich Spruchpunkt I. zurückzuziehen. Sofern sich die Beschwerden gegen Spruchpunkt II. und III. richten, wurden diese ausdrücklich aufrechterhalten. In Bezug auf Spruchpunkt II. verwies der Beschwerdeführervertreter auf die diagnostizierte Gehörlosigkeit des BF1 und die damit einhergehende eingeschränkte Erwerbstätigkeit, sodass die BF im Falle einer Rückkehr in eine ausweglose Situation geraten würden. Zu ihren persönlichen Verhältnissen gab die BF2 an, in Österreich sei sie bislang keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen und habe sich auch nicht ehrenamtlich engagiert, weil sie sich um den Haushalt und um die Kinder gekümmert habe. Der BF1 wolle arbeiten und besuche daher einen Kurs für Gehörgeschädigte. Ihren Lebensunterhalt würden sie daher aus den Leistungen der Grundversorgung bestreiten. Da sie sich um die Kinder kümmere, habe sie bislang noch keinen Deutschkurs abgeschlossen. Die BF3 besuche den Kindergarten und die BF4 beginne nächstes Jahr mit dem Kindergarten. Nach Befragung der BF2 in deutscher Sprache, stellte der erkennende Richter fest, dass diese über geringfügige Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt. Zudem wurden diverse medizinische Befunde betreffend den BF1 vorgelegt, welche den vorgelegten medizinischen Unterlagen im bisherigen Verfahren entsprechen.
Mit Faxeingaben vom 12.10., 03.11. und vom 16.11.2015 übermittelten die BF folgende Unterlagen: Kindergartenbesuchsbestätigung vom 28.09.2015 betreffend die BF3; Befundbericht eines Landeskrankenhauses vom 19.10.2015 betreffend den BF1 mit der Diagnose Taubheit beidseitig mit einem minimalen Restgehör rechts, sodass er wenige Wörter auf Deutsch und auch Tschetschenisch sprechen könne; eine hörverbessernde XXXX wäre medizinische möglich, jedoch sei es fraglich, ob nach 22 Jahren Taubheit eine gute Sprachentwicklung zu erzielen sei; Kopie des Behindertenpasses betreffend den BF1, womit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80 % festgestellt worden sei; Arbeitszeugnis vom 13.11.2015, wonach der BF1 einige Stunden für das "Projekt Nachbarschaftshilfe" tätig geworden sei
1.2. Mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.06.2016, Zlen. W190 2013622-1/24E, W190 2013630-1/21E, W190 2013628-1/14E, W190 2013629-1/14E und W190 2101856-1/14E, wurde hinsichtlich der Beschwerden der BF beschlossen, dass das Beschwerdeverfahren gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG eingestellt wird, und zu Recht erkannt, dass die Beschwerden hinsichtlich Spruchpunkt II. und III. gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005, §§ 55 und 57, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 9 iVm § 50 und § 55 FPG als unbegründet abgewiesen werden.
Dazu wurde u.a. festgestellt, dass die Identitäten der BF1-BF3 nicht erwiesen seien. Die BF seien Staatsangehörige der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig. Sie bekennten sich zum muslimischen Glauben. Der BF1 und die BF2 seien seit dem Jahr 2009 standesamtlich verheiratet. Die minderjährigen BF seien die gemeinsamen Kinder des BF1 und der BF2. Sie würden mit ihren Eltern im gemeinsamen Haushalt leben. Den BF drohe im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation weder unmenschliche Behandlung, Todesstrafe oder unverhältnismäßige Strafe bzw. sonstige (individuelle) Gefahr. Es habe ferner nicht festgestellt werden können, dass die BF im Falle ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland in eine existenzgefährdende Notlage geraten würden. In Österreich würden die Eltern und Geschwister der BF2 leben. Eine Schwester lebe als anerkannter Flüchtling im Bundesgebiet. Die Anträge der übrigen Familienmitglieder auf internationalen Schutz seien rechtskräftig negativ beschieden worden und würden sich diese derzeit im Verfahren auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen befinden. Der BF1 gehe keinerlei Erwerbstätigkeit nach und sichere seinen Lebensunterhalt durch die Leistungen im Rahmen der Grundversorgung. Er habe sich kurzzeitig ehrenamtlich im Rahmen eines Nachbarschaftprojektes engagiert und besuche derzeit einen Deutschkurs.
Die BF2 sei gesund. Sie gehe in Österreich weder einer Erwerbstätigkeit nach noch engagiere sie sich ehrenamtlich. Ihren Lebensunterhalt sichere sie durch die Leistungen aus der Grundversorgung. Sie habe bislang keinen Deutschkurs absolviert und verfüge lediglich über geringfügige Kenntnisse der deutschen Sprache. Die BF3 besuche den Kindergarten. Die BF4 und der BF5 seien im Bundesgebiet geboren.
Die BF1-BF3 lebten bis zu ihrer Ausreise im gemeinsamen Haushalt mit der Mutter und dem Bruder des BF1, von denen sie auch finanzielle Unterstützung erhielten; kurzzeitig nahmen sie auch Unterkunft bei der Großmutter des BF1. Der BF1 habe zudem eine staatliche Invaliditätsrente bezogen. Im Herkunftsstaat würden weiterhin die Mutter, Geschwister und Großmutter des BF1 sowie der Großvater, Tanten und ein Onkel der BF2 leben. Die BF würden somit in Tschetschenien über ein soziales Netz und über Unterkunftsmöglichkeiten verfügen, sodass ihre Existenz im Falle ihrer Rückkehr gesichert ist. Nicht festgestellt werden könne, dass der BF1 – auch unter Berücksichtigung der vorgebrachten beidseitigen Taubheit mit minimalen Restgehör rechts – an dermaßen schweren physischen oder psychischen, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen leide, welche eine Rückkehr in die Russische Föderation iSd Art. 3 EMRK unzulässig machen würden. Das Vorbringen der BF2, wonach sie XXXX eine Gefährdung im Herkunftsland befürchte, wurde als unglaubhaft gewertet.
Zur Lage in der Russischen Föderation wurde u.a. festgestellt:
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Nordkaukasus
In den Regionen des Nordkaukasus (Inguschetien, Tschetschenien, Dagestan, Nordossetien und Kabardino-Balkarien) besteht aufgrund von Anschlägen, bewaffneten Auseinandersetzungen, Entführungsfällen und Gewaltkriminalität ein hohes Sicherheitsrisiko (AA 8.9.2014).
Seit einigen Jahren schon breitet sich die Gewalt über die Grenzen der russischen Teilrepublik Tschetschenien aus und infiziert den gesamten Nordkaukasus. Betroffen ist vor allem der östliche Teil des Nordkaukasus - neben Tschetschenien besonders Dagestan und Inguschetien. Dabei konzentriert sich die Gewalt hauptsächlich auf Dagestan, die größte russische Teilrepublik im Nordkaukasus. Mit der Begründung, die verfassungsmäßige Ordnung in Tschetschenien wiederherzustellen und den islamistischen Terrorismus zu bekämpfen, wurde eine Politik legitimiert, die darauf zielte, die Rebellen physisch zu vernichten. Zwischen unbeteiligter Bevölkerung und nichtstaatlichen Gewaltakteuren wurde nicht unterschieden, Rechtsbrüche nicht geahndet. All dies schürte eine Atmosphäre der Willkür und Rechtlosigkeit, die die Bevölkerung in Ohnmacht und Wut versetzte. Angesichts der Rücksichtslosigkeit der russischen Sicherheitsorgane im "Kampf gegen den Terrorismus" wächst innerhalb der Bevölkerung des Nordkaukasus die Sympathie für gewaltsame Formen des Widerstands. Wegen der allgemeinen Perspektivlosigkeit erhöht sich, insbesondere unter jungen Menschen, die Bereitschaft, sich den islamistischen Gruppen anzuschließen. Die Strategie Moskaus ist offenkundig kontraproduktiv; sie erreicht das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt. Eine weitere Ursache für die Gewalt sind die zunehmenden Spannungen und Scharmützel zwischen den verschiedenen islamistischen Fraktionen in der Region (BpB 6.1.2014, vgl. ÖB 9.2013).
Im Sicherheitsbereich ist ein Trend zu beobachten, der auf eine Stabilisierung Tschetscheniens bei gleichzeitiger Verschlechterung der Lage in Dagestan hinausläuft. In manchen Regionen konstatieren Beobachter auch ein Übergreifen der Gewalt auf bisher ruhige Gebiete. Mit der Schaffung des "Nord-Kaukasus Distrikts", der Annahme eines umfangreichen Programmes für die sozioökonomische Entwicklung und der Betrauung von Wirtschaftsfachleuten mit hohen politischen Funktionen in der Region verfolgte Moskau seit Anfang 2010 einen neuen, umfassenderen Ansatz zur Stabilisierung der nordkaukasischen Republiken (ÖB Moskau 9.2013). Mittlerweile ist Alexander Khloponin, der von Putin als Repräsentant des Nord-Kaukasus-Distrikts eingesetzt war, zurückgetreten und wird von Sergei Melikov, seines Zeichens Kommandeur der Truppen des russischen Innenministeriums im Nordkaukasus, ersetzt. Er ist dadurch für alle Anti-terroristischen Operationen im Nordkaukasus verantwortlich. Dies kann als Zeichen dafür gesehen werden, dass der früheren Strategie, die Gewalt im Nordkaukasus mittels einer sozio-ökonomischen Entwicklung einzudämmen, der Nachrang gegenüber einer erneuten Offensive im Sicherheitsbereich gegeben wird. Da Melikovs Karriere hauptsächlich auf seine Erfahrung im Kampf gegen die militanten Aufständischen im Nordkaukasus fußt, liegt die Vermutung nahe, dass seine einzige Aufgabe als Gesandter des russischen Präsidenten im Nordkaukasus der Kampf gegen die bewaffneten Untergrundbewegungen ist (Jamestown 23.5.2014).
Als Konkurrenzzone vieler politischer Kräfte, die ihre Positionen im Bereich des Schwarzen und Kaspischen Meeres zu festigen suchen, ist der Nord-Kaukasus eine für Russland wichtige Region. Seit einiger Zeit gibt es im Nord-Kaukasus positive Entwicklungen:
die Einsicht über die Notwendigkeit einer Strategie zur Lösung vieler örtlicher Probleme
die Abnahme der Zahl zwischenethnischer Konflikte
die Stabilisierung sozio-ökonomischer Bedingungen (IOM 6.2014)
Dennoch bleibt die Situation im Nordkaukasus in bestimmten Gebieten angespannt. Dies ist auf eine Kombination unterschiedlicher Faktoren zurückzuführen: niedriger Grad wirtschaftlicher Entwicklung, verlorenes Vertrauen in die Politik Moskaus sowie ethnische Rivalitäten. Hinzu kommen noch regional spezifische Strukturen und Probleme. Im Nordkaukasus herrscht ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen russischen Truppen, kremltreuen lokalen Einheiten, islamistischen Rebellen und kriminellen Banden. Russische Menschenrechtler beklagen, dass die Staatsmacht im Nordkaukasus schwach ist und alle möglichen Gruppierungen in dieses Vakuum vorstoßen (ÖB Moskau 9.2013).
Laut der monatlichen Statistik zu Opfern des Konflikts im Nordkaukasus wurden im ersten Halbjahr 2014 insgesamt 271 Opfer gezählt, davon 179 Todesopfer und 92 Verwundete (Caucasian Knot 2014a,b,c,d,e,f).
Russlands Staatsfeind Nummer Eins, Doku Umarow (Kampfname Dokku Abu Usman), der selbsternannte "Emir" des "Kaukasus Emirats", ist tot. Zu dessen Nachfolger wurde Scheich Ali Abu Muhammad (auch Ali Abu Muhammad al Dagestani) ernannt. Zum Zeitpunkt und den genauen Umständen von Umarows Tods wurden keine Angaben gemacht (Standard 18.3.2014, Kurier 18.3.2014, Kavkaz Center 18.3.2014).
Quellen:
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AA – Auswärtiges Amt (8.9.2014): Russische Föderation – Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertigesamt.
de/sid_93DF338D07240C852A755BB27CDFE343/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/RussischeFoederationSicherheit_node.html, Zugriff 8.9.2014
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Bundeszentrale für politische Bildung (6.1.2014): Nordkaukasus, http://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/54672/nordkaukasus, Zugriff
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8.9.2014
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Caucasian Knot (28.2.2014a): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in January 2014 under the data of the Caucasian Knot, http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/27405/, Zugriff 8.9.2014
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Caucasian Knot (22.3.2014b): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in February 2014 under the data of the Caucasian Knot, http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/27624/, Zugriff 8.9.2014
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Caucasian Knot (23.4.2014c): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in March 2014 under the data of the Caucasian Knot, http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/27919/, Zugriff 8.9.2014
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Caucasian Knot (14.5.2014d): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in April 2014 under the data of the Caucasian Knot, http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/28124/, Zugriff 8.9.2014
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Caucasian Knot (30.6.2014e): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in May 2014 under the data of the Caucasian Knot, http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/28567/, Zugriff 8.9.2014
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Caucasian Knot (21.7.2014f): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in June 2014 under the data of the Caucasian Knot, http://eng.kavkaz-uzel.ru/articles/28769/, Zugriff 8.9.2014
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IOM – International Organisation of Migration (6.2014):
Länderinformationsblatt Russische Föderation
- Jamestown Foundation (23.5.2014): Appointment of General Melikov
to Replace Khloponin Points to Kremlin Bid to Subdue Dagestani
Insurgency, North Caucasus Weekly Volume 15, Issue 10,
http://www.jamestown.org/programs/nc/single/?tx_ttnews%5Btt_news%5D=42376&tx_ttnews%5BbackP
id%5D=759&no_cache=1, Zugriff 5.9.2014
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Kavkaz Center (18.3.2014): Caucasus Emirate's Emir Dokku Abu Usman martyred, Insha'Allah. Obituary, http://www.kavkazcenter.com/eng/content/2014/03/18/19017.shtml, Zugriff 5.9.2014
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Kurier (18.3.2014): Kreml-Todfeind Doku Umarow ist tot, http://kurier.at/politik/ausland/kreml-todfeinddoku-umarow-ist-tot/56.547.370, Zugriff 5.9.2014
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Long War Journal (18.3.2014): Ali Abu Muhammad al Dagestani, the new emir of the Islamic Caucasus Emirate, in: Threat Matrix – A Blog of the Long War Journal,
http://www.longwarjournal.org/threatmatrix/archives/2014/03/ali_abu_muhammad_al_dagestani.php, Zugriff 5.9.2014
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ÖB Moskau (9.2013): Asylländerbericht Russische Föderation
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Standard (18.3.2014): Islamistenführer Umarow angeblich tot,
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http://derstandard.at/1395056962017/Islamistenfuehrer-Umarow-angeblich-tot, Zugriff 5.9.2014
Rechtsschutz/Justizwesen
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Tschetschenien
Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen wird weiterhin gewährt, trotz der rund 200 diesbezüglichen Entscheidungen des EGMR. Diese Verletzungen beziehen sich auf ungerechtfertigte Gewaltanwendung, rechtswidrige Inhaftierungen, Verschwindenlassen, Folter und Misshandlungen, die Unterlassung effektiver Untersuchungen dieser Verbrechen und das Fehlen eines effektiven Rechtmittels, Versagen in der Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof und unrechtmäßige Durchsuchungen, Festnahmen und Zerstörung von Eigentum (CoE 12.11.2013). Russland zahlt den Opfern zwar die vorgeschriebene finanzielle Kompensation, versäumt es aber, effektivere Untersuchungen durchzuführen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen (HRW 21.1.2014).
Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist in Tschetschenien völlig unzureichend. Tendenzen zur Einführung von Scharia-Recht sowie die Diskriminierung von Frauen haben in den letzten Jahren zugenommen (AA 10.6.2013).
Grundsätzlich können Personen, die den Widerstand in Tschetschenien unterstützen - sei es mit Lebensmitteln, Kleidung oder Unterschlupf für Rebellen oder sei es durch Waffen - in der Russischen Föderation strafrechtlich verfolgt werden. Es kommt regelmäßig zu Verhaftungen aufgrund von Hilfeleistung an die Rebellen. Ob Personen, die unter diesem Vorwurf vor Gericht gestellt werden mit einem fairen Verfahren rechnen können, ist aufgrund der im Justizbereich verbreiteten Korruption und der bekannten Einflussnahme der Exekutive auf richterliche Entscheidungen fraglich. Das Strafmaß beträgt 8 bis 20 Jahre Freiheitsentzug (BAA/Staatendokumentation 20.4.2011).
Quellen:
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Auswärtiges Amt (10.6.2013): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
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BAA/Staatendokumentation (20.4.2011): Analyse der Staatendokumentation - Russische Föderation - Unterstützer und Familienmitglieder (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer in Tschetschenien - CoE-Commissioner for Human Rights (12.11.2013):
Report by Nils Muižnieks Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his visit to the Russian Federation from 3 to 12 April 2013,
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1384353253_com-instranetrf.pdf; Zugriff 8.9.2014
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HRW – Human Rights Watch (21.1.2014): World Report 2014 – Russia, http://www.ecoi.net/local_link/267714/395074_de.html, Zugriff 8.9.2014
Allgemeine Menschenrechtslage
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Nordkaukasus
Im gesamten Nordkaukasus gibt es weiterhin regelmäßig Sicherheitseinsätze der Polizeikräfte. Dabei kommt es Berichten zufolge häufig zu Menschenrechtsverletzungen wie Verschwindenlassen, rechtswidriger Inhaftierung, Folter und anderen Misshandlungen sowie außergerichtlichen Hinrichtungen. Die Behörden verstoßen im Nordkaukasus systematisch gegen ihre Verpflichtung, bei Menschenrechtsverletzungen durch Polizeikräfte umgehend unparteiische und wirksame Ermittlungen einzuleiten, die Verantwortlichen zu identifizieren und sie vor Gericht zu stellen. In einigen Fällen werden zwar Strafverfolgungsmaßnahmen ergriffen, meistens konnte im Zuge der Ermittlungen jedoch entweder kein Täter identifiziert werden oder es fanden sich keine Beweise für die Beteiligung von Staatsbediensteten oder man kam zu dem Schluss, es habe sich um keinen Verstoß seitens der Polizeikräfte gehandelt. Nur in Ausnahmefällen werden Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Polizeibeamte wegen Amtsmissbrauchs im Zusammenhang mit Folter- und Misshandlungsvorwürfen ergriffen. Kein einziger Fall von Verschwindenlassen oder außergerichtlicher Hinrichtung wurde aufgeklärt und kein mutmaßlicher Täter aus den Reihen der Ordnungskräfte vor Gericht gestellt (AI 23.5.2013).
In Teilen des Nordkaukasus kommt es weiterhin zu Entführungen, illegalen Festnahmen und Folter von Verdächtigen.
Menschenrechtsverletzungen werden in den seltensten Fällen strafrechtlich verfolgt. Mehrere Opponenten und Kritiker des Oberhauptes Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, wurden in Tschetschenien und anderen Gebieten der Russischen Föderation, aber auch im Ausland, durch Auftragsmörder getötet (darunter Umar Israilow in Wien im Jänner 2009). Keiner dieser Mordfälle konnte bislang vollständig aufgeklärt werden. Seit 2002 sind in Tschetschenien über 2.000 Personen entführt worden, von denen über die Hälfte bis zum heutigen Tage verschwunden bleibt. Auch heute noch wird von Fällen illegaler Festnahmen und Folter von Verdächtigen berichtet. Menschenrechtsverletzungen durch föderale oder tschetschenische Sicherheitskräfte werden in den seltensten Fällen strafrechtlich verfolgt. Im Nordkaukasus herrscht ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen russischen Truppen, kremltreuen lokalen Einheiten, islamistischen Rebellen und kriminellen Banden. Russische Menschenrechtler beklagen, dass die Staatsmacht im Nordkaukasus schwach ist und alle möglichen Gruppierungen in dieses Vakuum vorstoßen. Insbesondere Menschenrechtsaktivisten und Journalisten sind potentiell gefährdet. Vor allem im besonders unruhigen Dagestan kommt es seit einiger Zeit immer wieder zur gezielten Ermordung moderater muslimischer Geistlicher. Sicherheitskräfte und Experten führen dies auf das in der Region verstärkte Auftreten radikaler Islamisten (insbes. Salafisten) zurück. (ÖB Moskau 9.2013).
Im Nordkaukasus verüben bewaffneten Gruppen Anschläge auf Sicherheitsbeamte, Regierungsmitglieder, prominente Personen oder beliebige Menschen aus der Bevölkerung. Anwälte im Nordkaukasus, die Opfer von Folter und unfairen Gerichtsverfahren verteidigen, geraten oft selbst in die Schusslinie. Die Behörden haben die Verpflichtung für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen. Bei ihren Untersuchungen schrecken sie vor Folter und Misshandlungen nicht zurück und verstoßen so gegen die Menschenrechte und die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit. Auch gibt es Hinweise auf Verschleppungen und außergerichtliche Hinrichtungen. Offizielle Untersuchungen bleiben aus, dies schürt die Spirale der Gewalt (AI 20.3.2013).
Das am weitesten verbreitete Verbrechen in Tschetschenien ist die Entführung oder Verschleppung: Unbekannte, meist maskierte und bewaffnete Männer dringen in die Wohnung des Opfers ein und zerren den Betroffenen mit sich. In den ersten Tagen nach der Tat verweigern die Behörden die Auskunft über diese Fälle. Menschen werden aber auch auf offener Straße verschleppt. Sie werden in illegale Gefängnisse gebracht und systematisch gefoltert. Einige werden ermordet. In manchen Fällen wird dann ein Verfahren eingeleitet. Die Ermittlungen, so ist die Menschenrechtsorganisation Memorial überzeugt, sind aber nur "Scheinermittlungen", da es keinen politischen Willen gibt, die Hintermänner der Taten - in den allermeisten Fällen Angehörige der Sicherheitsstrukturen - zu verhaften. Das Schicksal von Tausenden Menschen ist ungeklärt (GfbV o. D.).
Quellen:
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- AI – Amnesty International (23.5.2013): Amnesty International Report 2013 - Zur weltweiten Lage der Menschenrechte – Russische Föderation, http://www.ecoi.net/local_link/248036/374230_de.html, Zugriff 1.9.2014
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- AI – Amnesty International (20.3.2013): Anwalt im Nordkaukasus:
Beruf mit Todesfolgen,
http://www.amnesty.at/de/menu13/artikel48/?highlight=true&unique=1409566747, Zugriff 1.9.2014- GfbV – Gesellschaft für bedrohte Völker (o.D.):
Tschetschenien unter Despot Kadyrow: Alltag in Angst, http://www.gfbv.de/inhaltsDok.php?id=2319, Zugriff 2.9.2014
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- ÖB Moskau (9.2013): Asylländerbericht Russische Föderation
Religionsfreiheit
Das Religionsgesetz von 1997 regelt die Beziehungen zwischen Staat und Kirche. Es definiert vier traditionelle Religionen - Orthodoxie, Islam, Judentum und Buddhismus. Andere Religionsgemeinschaften können in Russland auch legal bestehen, müssen sich aber registrieren lassen. Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) ist heute die mit Abstand größte und einflussreichste Religionsgemeinschaft in Russland. Seit der Unabhängig