Entscheidungsdatum
13.10.2017Index
41/02 Passrecht FremdenrechtNorm
NAG §41aText
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seinen Richter MMag. Dr. Böhm-Gratzl über die Beschwerde des C. A., R.-straße, Wien, vom 1.6.2017 gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien, Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 35, vom 4.5.2017, Zl. MA35-9/2871719-10, mit welchem der Antrag des Beschwerdeführers vom 29.9.2016 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gemäß § 41a des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich – NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, idF BGBl. I Nr. 84/2017 abgewiesen wurde, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 12.10.2017
zu Recht erkannt:
I. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG wird der Beschwerde stattgegeben, wird der angefochtene Bescheid aufgehoben und wird dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel für den Zweck „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gemäß § 41a NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, idF BGBl. I Nr. 84/2017 iVm Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des – durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, ABl. 1964 Nr. 217, 3685, geschaffenen – Assoziationsrates (im Folgenden: ARB 1/80) für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.
II. Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.
Entscheidungsgründe
Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien, Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 35, vom 4.5.2017 wurde der Zweckänderungsantrag des Beschwerdeführers, eines am ...1989 geborenen, türkischen Staatsangehörigen, vom 29.9.2016 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gemäß § 41a NAG – im Wesentlichen – mit folgender Begründung abgewiesen:
„Sie haben am 29.9.2016 einen Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ‚Rot-Weiß-Rot-Karte plus‘ unter Berufung auf den Beschluss Nr. 1/80 des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, ABI. 1964 Nr. 217, 3685, geschaffenen Assoziationsrates eingebracht.
Sie sind türkischer Staatsangehöriger. Ihnen wurde erstmals ein Aufenthaltstitel ‚Aufenthaltsbewilligung Studierender‘ mit einer Gültigkeitsdauer von 24.3.2010 bis 13.8.2010 erteilt, welcher Ihnen in weiterer Folge bis einschließlich 5.6.2017 verlängert wurde.
Seit dem 21.8.2015 bis dato sind Sie ununterbrochen rechtmäßig bei der Firma ‚K.‘ beschäftigt. Sie sind im Besitz einer aufrechten Beschäftigungsbewilligung, welche bis 20.8.2017 gültig ist.
[...]
Das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz selbst sieht keinen Zweckwechsel von einer ‚Aufenthaltsbewilligung Studierender‘ auf einen Aufenthaltstitel ‚Rot-Weiß-Rot - Karte plus‘ gem. § 41 a NAG vor und ist dies in Ihrem Fall - wie oben dargelegt - auch nicht zur Wahrung Ihrer aus dem ARB 1/80 erfließenden Rechte erforderlich.
Nach Befassung der Oberbehörde, dem Bundesministerium für Inneres, mit Ihrem Fall gelangte diese zum Schluss, dass die Erteilung einer ‚Rot-Weiß-Rot - Karte plus‘ dennoch nicht in Betracht kommt. Begründend wurde ausgeführt, dass Ihre aus dem ARB 1/80 erfließenden Rechte auch bei Beibehaltung der Aufenthaltsbewilligung gewahrt blieben (siehe nachstehende Stellungnahme des BMI). Ihnen kann erforderlichenfalls eine Beschäftigungsbewilligung seitens des AMS für eine Vollzeitbeschäftigung ausgestellt bzw. verlängert werden und wird den Bestimmungen des Art. 6 Abs. 1 ARB Nr. 1/80 damit entsprochen.
Stellungnahme des BMI vom 13.3.2017:
Den Vorgaben von Art. 6 Abs. 1, 1. Gedankenstrich ARB Nr. 1/80 wird mit Erteilung einer entsprechenden Beschäftigungsbewilligung entsprochen, die Aufenthaltsbewilligung ‚Studierender‘ kann in diesen Fällen trotz Ausübung einer Vollzeitbeschäftigung aufgrund des Vorranges des Assoziierungsabkommens EWG/Türkei (gegenüber § 64 Abs. 2 NAG) verlängert (bzw. ‚beibehalten‘) werden. Die Erteilung einer ‚Rot-Weiß-Rot - Karte plus‘ kommt daher in gegenständlichen Fällen nicht in Betracht.
Daher wurden Sie mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 30.3.2017, welche am 4.4.2017 übernommen wurde, über die beabsichtigte Abweisung in Kenntnis gesetzt. Ihnen wurde eine zweiwöchige Frist zur Erbringung einer Stellungnahme gewährt. Am 13.4.2017 langte Ihre Stellungnahme ein. Im Wesentlichen brachten Sie vor, dass die Erteilung einer ‚Rot-Weiß-Rot - Karte plus‘ für Sie einen sicheren und uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt bedeuten würde und Sie daher weder eine neue Arbeitsbewilligung beantragen, noch die Voraussetzungen für die Aufenthaltsbewilligung ‚Studierender‘ erfüllen müssten.
Ihrem Vorbringen wird entgegengebracht, dass Ihnen laut Vorgaben des Art. 6 Abs. 1, 1. Gedankenstrich des ARB Nr. 1/80 nach einer Beschäftigungsdauer von einem Jahr lediglich die Erneuerung Ihrer Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber zusteht. Einen Anspruch auf einen uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben Sie in Anlehnung an Art. 6 Abs. 1, 3. Gedankenstrich des ARB Nr. 1/80 erst ab einer Beschäftigungsdauer von vier Jahren. Daher liegt hier keine Einschränkung Ihrer aus dem ARB Nr. 1/80 erfließenden Rechte vor.
Fakt ist, dass Sie zum jetzigen Zeitpunkt die Erteilungsvoraussetzungen für den Aufenthaltstitel ‚Studierender‘ erfüllen und eine Verlängerung daher möglich ist. Durch die Verlängerung des bestehenden Aufenthaltstitels kann Ihren Rechtsansprüchen aus dem ARB Nr. 1/80 ausreichend nachgekommen werden. Bei der erforderlichen Verlängerung Ihrer Arbeitsbewilligung handelt es sich nicht um eine Einschränkung Ihrer Rechte, da der Ausstellung einer solchen Bewilligung lediglich deklaratorische Bedeutung zukommt. Der Prozess der Beantragung und der Ausstellung der Beschäftigungsbewilligung erfolgt aufgrund der herrschenden Vorgaben. An der Verlängerung der Beschäftigungsbewilligung besteht aufgrund Ihrer, aus dem ARB Nr. 1/80 abgeleiteten, Rechte kein Zweifel.
Aus den oben dargelegten Gründen kommt daher die Erteilung eines Aufenthaltstitels ‚Rot-Weiß-Rot - Karte plus‘ nicht in Betracht und war daher Ihr Zweckänderungsantrag abzuweisen.“
(Unkorrigiertes Originalzitat ohne die darin enthaltenen Hervorhebungen)
Hiegegen brachte der Beschwerdeführer form- und fristgerecht mit Schriftsatz vom 1.6.2017 das Rechtsmittel der Beschwerde ein und führte begründend hiezu – auszugsweise – wie folgt aus:
„Die belangte Behörde montiert, dass der BF auch ohne die Erteilung einer Rot-Weiß-Rot - Karte Plus seine Rechte aus dem ARB 1/80 in Anspruch nehmen könne. Dieser Rechtsansicht ist zu widersprechen, da der BF aktenkundig für das vergangene Studienjahr über keinerlei Studienerfolg verfügt, während das Gesetz zur Verlängerung der AB Studierender einen Studienerfolg iHv mindestens 8 SSt. bzw. 16 ECTS vorsieht, um von einem zur Verlängerung erforderlichen hinreichenden Studienerfolg auszugehen.
Da also eine Verlängerung einer AB Studierender hier nicht möglich ist und in der
österreichischen Rechtsordnung Aufenthaltsrecht und Arbeitsmarktzugang nicht in dem Sinn getrennt voneinander bestehen können, dass der BF zwar einen Arbeitsmarktzugang, aber kein Aufenthaltsrecht hätte, bleibt offen, wie nach Ansicht der belangten Behörde der BF seine Rechte aus dem ARB 1/80 in Anspruch nehmen könnte, wenn er mangels Studienerfolg könftig über keinen Aufenthaltstitel verfügen sollte.
Aber selbst wenn der BF ausreichend Studienerfolg hätte, würde den Ansprüchen des Art 6 ARB 1/80 nicht Genüge getan. Denn eine Aufenthaltsbewilligung zu einem endlichen Aufenthaltszweck ist keinesfalls geeignet, die mit dem Arbeitsmarktzugang verbundenen Rechte aus aufenthaltsrechtlicher Sicht zu dokumentieren. Zu bestimmen, welchen Aufenthaltszweck der BF hat, obliegt weiters nicht dem Gutdünken der Behörde. Der BF hat anlässlich der Antragstellung unzweideutig angegeben, dass sein weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet zum Zweck der Inanspruchnahme seiner aus dem Beschluss 1/1980 abgeleiteten Rechte erfolgt.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof in seiner ständigen Rechtsprechung zum Verfahrensgegenstand eines Antrages im Anwendungsbereich des NAG hat der VwGH bereits ausgeführt hat, dass nach dessen Bestimmungen eine amtswegige Umdeutung eines Antrages grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Dies ergibt sich nicht nur aus der aus § 19 Abs. 2 NAG hervorgehenden strengen Antragsbindung, sondern auch aus § 23 Abs. 1 NAG, wonach die Behörde den Antragsteller zu belehren hat, wenn sich ergibt, dass der Fremde einen anderen als den beantragten Aufenthaltstitel (oder eine Dokumentation) benötigt (vgl. etwa das Erkenntnis vom 18. März 2010, Zl. 2010/22/0004, mwN). Demnach besteht im Verfahren nach dem NAG eine ‚strenge Antragsbindung‘ (vgl. etwa das Erkenntnis vom 24. April 2012, Zl. 2008/22/0819).
Der BF ist türkischer Staatsangehöriger und seit mehr als einem Jahr rechtmäßig und ununterbrochen bis dato bei demselben Arbeitgeber beschäftigt.
Fest steht, dass der BF - wie von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid bereits ausgeführt - türkischer Staatsangehöriger ist, einer nicht bloß untergeordneten unselbstständigen Erwerbstätigkeit im Ausmaß von 30 Wochenstunden nachgeht und auch weiterhin beabsichtigt bei demselben Arbeitergeber - bei dem er seit 21.08.2015 und damit seit über einem Jahr beschäftigt ist - dieser Beschäftigung nachzugehen.
Festgehalten wurde weiters, dass der BF rechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist ist, seiner unselbstständigen Erwerbstätigkeit bis dato aufgrund einer ihm erteilten Beschäftigungsbewilligung nachgeht und seit 2010 ununterbrochen Inhaber einer Aufenthaltsbewilligung Studierender war. Seit 22.08.2016 bis dato ist der BF in Österreich niedergelassen, während für den davor liegenden Zeitraum bereits ein ununterbrochener rechtmäßiger Aufenthalt festgestellt wurde. Obwohl der BF aufgrund des auf ihn unmittelbar anzuwendenden Assoziationsrechts über ein Niederlassungsrecht in Österreich verfügt, sei an dieser Stelle dennoch formhalber zu erwähnen, dass der BF rechtzeitig vor Ablauf der letzten Aufenthaltsbewilligung Studierender einen Verlängerungsantrag - verbunden mit einem Zweckänderungsantrag gemäß §24 Abs. 4 NAG - eingebracht hat.
Festzuhalten ist, dass der BF die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllt, und er damit seit 22.08.2016 sowohl Anspruch auf Verlängerung seiner arbeitsmarktrechtlichen Beschäftigungsbewilligung bei demselben Arbeitgeber, als auch auf Erteilung eines entsprechenden - deklarativ wirkenden - Aufenthaltstitels zur Durchsetzung seiner beschäftigungsrechtlicher Position sowie zur Bescheinigung seines konstitutiven assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts hat.
[...]
Dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) fehlt, im Gegensatz zum FrG 1997, eine unmittelbar der Umsetzung des ARB 1/80 dienende Bestimmung, welche den Personen, die aufgrund eines unmittelbar anwendbaren Rechtsaktes der EU ein Niederlassungsrecht genießen, einen Rechtsanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels einräumt (vgl. § 30 Abs.3 FrG 1997). Dieser aus Gründen der Rechtssicherheit nicht zufrieden stellende Zustand wurde mit dem FrG 1997 dahingehend korrigiert, dass in § 30 Abs. 3 leg. cit. dieser Personengruppe ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer weiteren Niederlassungsbewilligung gewährt wurde (vgl. EB der RV zu § 30, 685 BlgNR XX. GP).
Im NAG hat der Gesetzgeber zwar auf die Rechtstellung der Personen, welche durch die sog. Europa-Abkommen eine gesonderte Rechtsposition genießen, Bedacht genommen (siehe § 44 Abs. 2 NAG in der Stammfassung, nunmehr § 43 Abs. 2 idF BGBl. 68/2013 ), nicht jedoch auf die türkischen Arbeitnehmer, die sich auf die Bestimmungen des ARB 1/80 berufen können. Fest steht, dass der zu erteilende Aufenthaltstitel von seinem Zweckumfang her die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit zulassen muss. Das System des NAG kennt an sich Niederlassungsbewilligungen, die dies ermöglichen: Rot-Weiß-Rot-Karte plus (§ 41a leg. cit.) und - möglicherweise weiterhin aufgrund des Assoziationsrechts - Niederlassungsbewilligung (§ 43 leg. cit.), sowie den Aufenthaltstitel ‚Daueraufenthalt-EU‘ (§45 leg. cit.).
Die Ausstellung einer Form des Aufenthaltstitels als Niederlassungsbewilligung und nicht als Aufenthaltsbewilligung ist auch aus Gründen der Stand-still-Clause des Art. 13 des ARB 1/80 geboten, denn eine Einschränkung der Rechte hinsichtlich des späteren Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts - etwa durch Erteilung ‚irgendeiner‘ Aufenthalts- anstatt einer wie in § 30 FrG 1997 normiert, Niederlassungsbewilligung - würde ob der Systematik des NAG zu einer Schlechterstellung führen. [...]
Es ist daher notwendig, das gesamte Fremdenrechtsregime seit dem 01.01.1995 zu berücksichtigen, um die genaue Rechtsposition eines türkischen Staatsangehörigen zu eruieren. Der nach dem FrG 1997 erreichbare Status einer ‚weiteren Niederlassungsbewilligung‘ darf nicht unterschritten werden. Seit 01.01.2014 gibt es im NAG durch den Ausschluss des Arbeitsmarktzugangs bei Erteilung der Niederlassungsbewilligung gem. § 43 leg cit (zumindest nach der Rechtsansicht des BMI) keinen Aufenthaltstitel, der sowohl eine qualitative Niederlassungsbewilligung darstellt als auch gleichzeitig eine unselbständige Erwerbstätigkeit bei Vorliegen einer arbeitsmarktrechtlichen Bewilligung gewährleistet.
[...]
Zusammenhaltend ist festzuhalten, dass dem BF - aufgrund des Verschlechterungsverbotes - dieselben Rechte zukommen, wie sie ihm zuvor gewährt worden wären - sowohl im Bereich des Niederlassungsrechts, als auch des Ausländerbeschäftigungsrechts.
Eine Niederlassungsbewilligung nach der geltenden Rechtslage gem. § 8 Abs 1 Z 4 NAG berechtigt ausschließlich zur befristeten Niederlassung und zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit. Somit scheint jede unselbständige Arbeitsaufnahme mit einer Beschäftigungsbewilligung nach dem Wortlaut des NAG und in der Interpretation des BMI nicht möglich und der BF wäre unzulässigerweise schlechter gestellt.
Daher kommt in der geltenden österreichischen Rechtslage die Rot-Weiß-Rot Karte plus jenem Rechtsstatus, den der BF nach dem Assoziationsabkommen EWR-Türkei innehaben muss, nämlich ein Niederlassungsrecht einschließlich weitgehend freiem Zugang zum Arbeitsmarkt, am nächsten. Dass durch die Umsetzung der Single-Permit Richtlinie in Österreich dem BF somit durch die Erteilung einer Rot-Weiß-Rot - Karte plus mehr Rechte als zuvor zukommen, ist der Umsetzung in die österreichische Rechtsordnung geschuldet, darf aber dem BF aufgrund des Verschlechterungsverbots nicht zum Nachteil gereichen.“
(Unkorrigiertes Originalzitat ohne die darin enthaltenen Hervorhebungen)
Es wurde sohin beantragt, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung den begehrten Aufenthaltstitel zu erteilen, in eventu die Rechtsache nach Aufhebung des angefochtenen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.
Die belangte Behörde nahm von der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung Abstand und legte den Verwaltungsakt dem erkennenden Gericht (einlangend am 20.6.2017) vor.
Das Verwaltungsgericht Wien nahm am 21.6.2017 Einsicht in öffentliche Register (Zentrales Melderegister, Versicherungsdatenbank, Zentrales Fremdenregister, Strafregister der Republik Österreich, Verwaltungsstrafregister des Magistrates der Stadt Wien).
Mit Eingabe vom 23.6.2017 teilte die Landespolizeidirektion Wien, einem dahingehenden Ersuchen des Verwaltungsgerichtes Wien folgend, mit, dass da. keine verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen des Beschwerdeführers aufscheinen.
Mit Eingabe vom 12.7.2017 übermittelte der Beschwerdeführer, einer dahingehenden Aufforderung des erkennenden Gerichtes entsprechend, eine Bestätigung über den Bezug seines Monatsgehaltes, mehrere Lohn-/Gehaltsabrechnungen, diverse Nachweise über Mietzinszahlungen und Zahlungen für Strom und Gas, eine Selbstauskunft des KSV 1870 sowie Auszüge seines Kontos bei der Erste Bank AG.
Dieses Urkundenkonvolut wurde der belangten Behörde mit Schreiben des Verwaltungsgerichtes Wien vom 13.7.2017 nachweislich zur Kenntnis gebracht; trotz Einräumung der Möglichkeit hiezu unterblieb eine behördliche Stellungnahme.
Am 6.10.2017 hielt das erkennende Gericht letztmalig Einschau in öffentliche Register (Zentrales Fremdenregister, Versicherungsdatenbank).
Am 12.10.2017 führte das Verwaltungsgericht Wien in gegenständlicher Rechtsache eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, zu welcher alle Verfahrensparteien sowie – als Zeugin – H. F. ordnungsgemäß geladen wurden. Während die belangte Behörde begründungslos keinen Vertreter zur Verhandlung entsandte, erschienen der Beschwerdeführer – in Begleitung seines gewillkürten Vertreters DI P. M. – sowie die genannte Zeugin. Das zugehörige Verhandlungsprotokoll stellt sich – auszugsweise – wie folgt dar:
„Eröffnung des Beweisverfahrens:
Als Beilage ./A wird eine Kopie des Reisepasses des Bf zum Akt genommen.
Als Beilage ./B wird ein Konvolut an Urkunden und Nachweisen in Kopie zum Akt genommen.
[...]
Der BfV verweist auf das bisherige schriftliche Vorbringen.
Der Beschwerdeführer gibt zu Protokoll:
Ich habe auch einen Antrag auf Verlängerung meines Aufenthaltstitels für den Zweck ‚Studierende‘ gestellt. Dieses Verfahren ist noch offen.
Für den Abschluss des Bachelorstudiums ... fehlt mir noch eine Prüfung. Ich beabsichtige, diese abzulegen. Derzeit setze ich meine Priorität allerdings auf meine Berufstätigkeit. Ich beabsichtigte auch in Zukunft das Masterstudium zu belegen, habe allerdings noch keinen konkreten Termin hierfür.
Ich zahle aktuell inklusive Betriebskosten EUR 650,- pro Monat. EUR 1,- pro Monat wird uns von der Vermieterin nachgelassen. An Kosten für Gas sind im Quartal EUR 307,-, für Strom im Quartal EUR 91,- zu zahlen.
Ich wohne gemeinsam mit H. F.. Sie beteiligt sich an den Wohnungskosten mit EUR 365,- pro Monat. Ich lebe mit Frau F. seit 4 Jahren in einer Beziehung. Wir haben noch keine gemeinsamen Kinder und erwarten aktuell auch keine. Außer mir und Frau F. wohnt niemand regelmäßig in der Wohnung.
Ich bin aktuell für K. im B. in Wien berufstätig. Ich bin als Kellner tätig. Ich verdiene aktuell EUR 936,31 pro Monat. Ich erhalte diesen Betrag 14 Mal jährlich. Ich arbeite 30 Stunden pro Woche. Ich habe 14-15 Mal pro Monat Dienst und erhalte pro Dienst ca. EUR 30,- an Trinkgeld, womit ich monatlich auf ca. EUR 400,- an Trinkgeld komme.
Ich habe außer meinem Einkommen aus Berufstätigkeit keine regelmäßigen Einkünfte. In unregelmäßigen Abständen lassen mir meine Eltern ein Geldgeschenk zukommen.
Ein Verwandter von mir, E. Ki., überwies mir zur Begleichung seiner Schuld bei mir monatlich EUR 200,- auf mein Konto, diese Schuld ist aber mittlerweile beglichen.
Ich habe auch ein Sparkonto auf welches ich bei jedem Einkauf automatisch ca. EUR 2,- überweise. Befragt nach den in dem bezughabenden Kontoauszug aufscheinenden EUR 2.600,- gebe ich an: Dies war ein Geldgeschenk meiner Eltern. Mein Vater ist unternehmerisch tätig. Meine Mutter ist Hausfrau.
An regelmäßigen Ausgaben fallen außer den zuvor genannten noch EUR 31,25 pro Monat für die Jahreskarte der Wiener Linien an. Ich habe aktuell keine Schulden und habe ich auch keinen Kredit aufgenommen. Dies trifft sowohl auf Österreich als auch auf die Türkei zu.
Ich lebe seit 2010 in Österreich. In Österreich habe ich keine Familienangehörige. In der Türkei halten sich meine Eltern und meine 3 Brüder auf. Ich habe mindestens einmal die Woche telefonischen Kontakt zu meinen Eltern. Ich halte mich einmal pro Jahr für ca. 2-3 Wochen zum Urlaub in der Türkei auf.
Ich habe in Österreich einen Freundeskreis, welcher sich aus Bekannten aus dem Studentenheim, aus meiner Arbeit und der Universität zusammensetzt. Ich habe auch gemeinsame Freunde mit Frau F.. Frau F. habe ich während meines Erasmusaufenthaltes in Istanbul kennengelernt. Sie ist deutsche Staatsangehörige und ist sie zu mir nach Wien gezogen.
Ich bin bislang nicht in Vereinen in Österreich aktiv. In meiner Freizeit treffe ich mich mit Freunden oder besuche eine Kinovorstellung. Ich unterhalte mich mit Frau F. sowohl auf Deutsch als auch auf Türkisch.
Zeugin: H. F.
[...]
Ich lebe mit dem Bf seit Oktober 2013 in einer Beziehung. Wir haben uns während unseres gemeinsamen Erasmusaufenthaltes in Istanbul kennengelernt. Wir haben keine gemeinsamen Kinder und erwarten aktuell auch keine.
In Österreich lebt ein Familienangehöriger des Bf. Dies ist E. Ki.. In der Türkei leben die Eltern und die Brüder des Bf.
Ich unterhalte mich mit dem Bf in deutscher und türkischer Sprache. Ich habe türkisch studiert.
Ich lebe gemeinsam mit dem Bf in einer Wohnung. Sonst lebt dort niemand. Ich beteilige mich mit EUR 365,- pro Monat an den Wohnungskosten.
In unserer Freizeit treffen wir uns mit Freunden, gehen ins Kino und betreiben Sport.
Ich arbeite zurzeit als Betreuerin in der Einrichtung ‚O.‘. Ich verdiene EUR 1.144,- netto pro Monat. Diese Summe erhalte ich 14 Mal jährlich.
Mir ist nicht bekannt, dass der Bf Schulden in Österreich oder der Türkei hätte. Auch Kreditschulden sind mir nicht bekannt.
Keine weiteren Fragen
[...]
Schluss des Beweisverfahrens:
Der BfV gibt in seinen Schlussausführungen an:
Der Bf lebt und arbeitet in Österreich. Er erfüllt die Voraussetzungen für die Erteilung einer Rot-Weiß-Rot – Karte plus in Umsetzung des ARB 1/80.
Auf die Fortsetzung der mündlichen Verhandlung sowie auf die mündliche Verkündung der Entscheidung wird verzichtet. Die Entscheidung ergeht schriftlich.“
(Unkorrigiertes Originalzitat)
Das Verwaltungsgericht Wien nimmt den folgenden – entscheidungserheblichen – Sachverhalt als erwiesen an:
Der Beschwerdeführer ist ein am ...1989 geborener Staatsangehöriger der Republik Türkei und im Besitz eines bis zum 1.4.2024 gültigen türkischen Reisepasses. Er hatte von seiner erstmaligen Einreise nach Österreich im Jahr 2010 an durchgehend Aufenthaltstitel für den Zweck „Studierende“ gemäß § 64 NAG inne – zuletzt gültig bis zum 5.6.2017 – und brachte am 29.9.2016 den gegenständlichen Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gemäß § 41a NAG persönlich bei der belangten Behörde ein, welcher mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 4.5.2017 abgewiesen wurde.
Der Beschwerdeführer ist durchgehend seit 21.8.2015 bei K., „B.“, in Wien, ..., zuletzt im Ausmaß von 30 Wochenstunden als Kellner berufstätig und lukriert hiebei ein monatliches Einkommen iHv EUR 1.092,69 netto (inkl. aliquoter Sonderzahlungen) sowie ca. EUR 400,– pro Monat an Trinkgeldern. Dem Beschwerdeführer wurden für diese Tätigkeit vom Arbeitsmarktservice wiederholt Beschäftigungsbewilligungen ausgestellt (siehe Bescheid vom 19.8.2015 für den Zeitraum vom 20.8.2015 bis 19.8.2016, Bescheid vom 5.9.2016 für den Zeitraum von 21.8.2016 bis 20.8.2017 und Bescheid vom 10.5.2017 für den Zeitraum von 11.5.2017 bis 10.5.2018).
Der Beschwerdeführer ist von 2.9.2015 bis zuletzt in Wien, R.-straße, zum Hauptwohnsitz gemeldet. Die an dieser Adresse befindliche ca. 70 m² große Wohnung wird von ihm sowie von H. F. auf Grund eines am 1.3.2016 abgeschlossenen, unbefristeten Mietvertrages bewohnt. Der monatliche Mietzins beläuft sich auf insg. EUR 650,– (inkl. Betriebskosten) zzgl. Aufwendungen für Strom und Gas iHv umgerechnet EUR 30,33 plus EUR 102,33 pro Monat. H. F., mit welcher der Beschwerdeführer in einer Lebensgemeinschaft lebt und die auf Grund ihrer Berufstätigkeit monatlich EUR 1.334,66 netto (inkl. aliquoter Sonderzahlungen) ins Verdienen bringt, beteiligt sich mit EUR 365,– pro Monat an den anfallenden Wohnkosten.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich unter der Nummer „...“ aktuell als Arbeiter bei der Wiener Gebietskrankenkasse sozialversichert.
Er ist sowohl in Österreich als auch in der Türkei strafrechtlich unbescholten und liegen keine verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen vor.
Zur Beweiswürdigung:
Die obigen Feststellungen gründen sich auf dem Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes, auf dem Beschwerdevorbringen, dem Inhalt des Gerichtsaktes sowie auf den ergänzend aufgenommenen Beweisen, zu welchen sich die belangte Behörde – trotz Einräumung der Möglichkeit hiezu – bis zuletzt nicht geäußert hat. Weiters stützt sich das Verwaltungsgericht Wien auf die – oben im Wortlaut wiedergegebenen – Ergebnisse der mündlichen Verhandlung vom 12.10.2017, in welcher der Beschwerdeführer sowie die Zeugin F. einen höchst glaubhaften und positiven Eindruck beim erkennenden Richter hinterlassen haben. Es besteht daher kein Zweifel an der Richtigkeit des Vorbringens, wird dieses doch auch durch die Urkundenvorlagen inhaltlich bekräftigt. Nicht zuletzt durch Einschau in obgenannte öffentliche Register konnten die Angaben des Beschwerdeführers und der genannten Zeugin bestätigt werden.
Der hier entscheidungserhebliche Sachverhalt steht damit fest.
Das Verwaltungsgericht Wien hat hiezu erwogen:
Das erkennende Gericht hat auf Grund der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seines Erkenntnisses zu entscheiden (vgl. VwGH 21.10.2014, Ro 2014/03/0076), sodass Änderungen des entscheidungserheblichen Sachverhaltes im Stadium des Beschwerdeverfahrens beachtlich und vom Amts wegen aufzugreifen sind.
Im konkreten Fall begehrt der Beschwerdeführer – unter Berufung auf die Bestimmungen des ARB 1/80 – die Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ gemäß § 41a NAG.
Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 lautet – auszugsweise – wie folgt:
„Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt“
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union entfaltet Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (vgl. zB EuGH 16.12.1992, Rs. C-237/91, Kus, Rn. 28). Entgegenstehende nationale Bestimmungen haben unangewendet zu bleiben (vgl. hiezu VwGH 26.6.2012, 2010/09/0234).
Es ist demnach zu prüfen, ob diese Bestimmung auf den konkreten Sachverhalt anwendbar ist:
Hiefür ist zuvorderst Voraussetzung, dass der türkische Staatsangehörige als ein dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörender Arbeitnehmer zu qualifizieren ist. Der Begriff des „Arbeitnehmers“ in diesem Sinne hat eine unionsrechtliche Bedeutung und darf nicht eng ausgelegt werden. Er ist anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der betroffenen Person kennzeichnen (vgl. hiezu bspw. EuGH 19.11.2002, Rs. C-188/00, Kurz, Rn. 32; so etwa auch VwGH 18.12.2012, 2010/09/0185).
Als Arbeitnehmer ist jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. EuGH 4.2.2010, Rs. C-14/09, Genc, Rn. 19; so etwa auch VwGH 18.12.2012, 2010/09/0185).
Ab welcher Grenze eine Tätigkeit als „völlig untergeordnet und unwesentlich“ anzusehen ist, hängt von einer Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses ab. Bei der Gesamtbewertung des Arbeitsverhältnisses sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: die Arbeitszeit, die Höhe der Vergütung, ein Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags, die Dauer des Arbeitsverhältnisses im Unternehmen (vgl. EuGH 4.2.2010, Rs. C-14/09, Genc, Rn. 26 f.; so etwa auch VwGH 18.12.2012, 2010/09/0185).
Auch sind die aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfließenden Ansprüche von keiner weiteren Voraussetzung als der Arbeitnehmereigenschaft des türkischen Staatsangehörigen auf dem regulären Arbeitsmarkt abhängig, insbesondere nicht von den Voraussetzungen, unter denen der türkische Staatsangehörige das Recht auf Einreise und Aufenthalt erlangt hat. Bei der Prüfung wird der Zweck, zu dem ursprünglich die Einreise in das Hoheitsgebiet gestattet wurde, demnach nicht berücksichtigt (vgl. hiezu bspw. EuGH 30.9.1997, Rs. C-36/96, Günaydin, Rn. 52; so etwa auch VwGH 26.6.2012, 2010/09/0234).
Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 verlangt ebenso wenig, dass der türkische Staatsangehörige als Arbeitnehmer in die Europäische Union eingereist ist. Er kann die Arbeitnehmereigenschaft auch erst nach seiner Einreise erlangt haben (vgl. hiezu EuGH 24.1.2008, Rs. C-294/06, Payir, Rn. 38; so etwa auch VwGH 13.12.2011, 2008/22/0180).
Im Lichte dieser Rechtsprechung besteht im vorliegenden Fall kein Zweifel, dass der Beschwerdeführer die genannten Voraussetzungen erfüllt, zumal er durchgehend seit dem 21.8.2015 bis zuletzt als Arbeitnehmer bei K., „B.“, ..., Wien, für (zuletzt) 30 Wochenstunden angestellt ist und hiefür ein monatliches Einkommen iHv EUR 1.092,69 netto (inkl. aliquoter Sonderzahlungen) lukriert. Dass der Beschwerdeführer ursprünglich mit der Absicht, einem Universitätsstudium nachzugehen, in das österreichische Bundesgebiet eingereist ist, verschlägt hier nicht.
Nun setzt die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 weiters voraus, dass die Beschäftigung des türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ordnungsgemäß ist. Eine Beschäftigung ist „ordnungsgemäß“ in diesem Sinne, wenn der Arbeitnehmer die Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats über die Einreise in dessen Hoheitsgebiet und über die Beschäftigung befolgt und somit das Recht hat, eine Berufstätigkeit in diesem Staat auszuüben (vgl. etwa EuGH 24.1.2008, Rs. C-294/06, Payir, Rn. 29). Die Ordnungsgemäßheit der Beschäftigung setzt somit ein nicht bestrittenes Aufenthaltsrecht voraus (aaO, Rn. 39; so etwa auch VwGH 26.6.2012, 2010/09/0234).
Keine gesicherte, sondern stets nur eine vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt hat ein türkischer Arbeitnehmer in dem Zeitraum, in dem er bis zum Ausgang eines Rechtsstreits über sein Aufenthaltsrecht vorläufig in dem betreffenden Mitgliedstaat verbleiben und dort eine Beschäftigung ausüben darf (vgl. hiezu EuGH 20.9.1990, Rs. C-192/89, Sevince, Rn. 31).
Im gegenständlichen Fall ist der Beschwerdeführer auf Grund wiederholt an ihn erteilter Beschäftigungsbewilligungen durchgehend legal in Österreich berufstätig und bestand zumindest bis zum Ablauf des zuletzt an ihn erteilten Aufenthaltstitels für den Zweck „Studierende“ mit 5.6.2017 ein „unbestrittenes Aufenthaltsrecht“ in obigem Sinne, sodass jedenfalls eine ordnungsgemäße Beschäftigungszeit von mittlerweile mehr als einem Jahr vorliegt.
Eine Voraussetzung für die Inanspruchnahme der aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfließenden Rechte ist gemäß dessen UAbs. 1, dass der türkische Arbeitnehmer zuvor ein Jahr bei demselben Arbeitgeber ununterbrochen ordnungsgemäß beschäftigt war. Dies verlangt somit eine vertragliche Beziehung, die eine Verfestigung des Arbeitsverhältnisses erkennen lässt (vgl. EuGH 29.5.1997, Rs. C-386/95, Eker, Rn. 22; so etwa auch VwGH 15.9.2010, 2007/18/0908).
Wie den konkreten Beweisergebnissen zu entnehmen ist, ist der Beschwerdeführer ununterbrochen seit 21.8.2015 bis zuletzt bei K. beschäftigt, womit auch diese Voraussetzung verwirklicht wurde.
Folglich ist Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 ARB 1/80 auf den vorliegenden Fall anwendbar und kann sich der Beschwerdeführer auf die aus dem ARB 1/80 erfließenden Gewährleistungen berufen.
Art. 13 ARB 1/80 ordnet an, dass die Vertragsparteien des Abkommens „für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen“ dürfen (sog. Stillhalteklausel). Dies normiert gleichsam Art. 41 des Zusatzprotokolls vom 23.11.1970 zum Assoziationsabkommen EWG-Türkei (ABl. L 1972/293, 3).
Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung judiziert, sind infolgedessen die Voraussetzungen zur Erteilung eines Aufenthaltstitels im Fall türkischer Staatsangehöriger nicht anhand der Normen des NAG, sondern anhand der Bestimmungen des Bundesgesetzes über die Einreise, den Aufenthalt und die Niederlassung von Fremden (Fremdengesetz 1997) – FrG, BGBl. I Nr. 75/1997 – ungeachtet dessen mittlerweile erfolgten Außer-Kraft-Tretens – zu messen (vgl. etwa VwGH 15.12.2011, 2007/18/0430; 19.1.2012, 2011/22/0313).
Die allgemeinen Voraussetzungen für die Erteilung von Aufenthaltstiteln nach den Bestimmungen des FrG stellen sich in der Stammfassung wie folgt dar:
„Erteilung der Einreise- und Aufenthaltstitel
§ 8. (1) Einreise- und Aufenthaltstitel können Fremden auf Antrag erteilt werden, sofern diese ein gültiges Reisedokument besitzen und kein Versagungsgrund wirksam wird (§§ 10 bis 12). Visa können nur befristet, Aufenthaltstitel auch unbefristet erteilt werden. Visa und befristete Aufenthaltstitel dürfen nur insoweit erteilt werden, als ihre Gültigkeitsdauer jene des Reisedokumentes nicht übersteigt. Die Gültigkeitsdauer des Reisedokumentes soll jene eines Visums um mindestens drei Monate übersteigen. Sammelvisa dürfen nur Fremden erteilt werden, denen ein Sammelreisepaß ausgestellt wurde.
(2) Für die Erteilung der Aufenthaltstitel ist zwischen Erstniederlassungsbewilligung und weiterer Niederlassungsbewilligung sowie zwischen Erstaufenthaltserlaubnis und weiterer Aufenthaltserlaubnis zu unterscheiden.
(3) Die Behörde hat bei der Ausübung des in Abs. 1 eingeräumten Ermessens jeweils vom Zweck sowie von der Dauer des geplanten Aufenthaltes des Fremden ausgehend
1. auf seine persönlichen Verhältnisse, insbesondere seine familiären Bindungen, seine finanzielle Situation und die Dauer seines bisherigen Aufenthaltes,
2. auf öffentliche Interessen, insbesondere die sicherheitspolizeilichen und wirtschaftlichen Belange, die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes und die Volksgesundheit und
3. auf die besonderen Verhältnisse in dem Land des beabsichtigten Aufenthaltes Bedacht zu nehmen.
(4) Ehegatten, die ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), BGBl. Nr. 210/1958, nicht führen, dürfen sich für die Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln nicht auf die Ehe berufen.
(5) Für die Erteilung eines Erstaufenthaltstitels bedarf es des Nachweises eines Rechtsanspruches auf eine für Inländer ortsübliche Unterkunft für den Fremden, der sich hier niederlassen will. Dieser Nachweis ist auch für die Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels erforderlich; er gilt für in Österreich geborene Kinder als erbracht, wenn der Familie die vor der Geburt bewohnte Unterkunft weiterhin zur Verfügung steht.
[…]
Versagung eines Einreise- oder Aufenthaltstitels
§ 10. (1) Die Erteilung eines Einreise- oder Aufenthaltstitels ist zu versagen, wenn
1. gegen den Fremden ein rechtskräftiges Aufenthaltsverbot besteht;
2. der Aufenthaltstitel zeitlich an den durch ein Reise- oder Durchreisevisum ermöglichten Aufenthalt anschließen und nach der Einreise erteilt werden soll;
3. der Aufenthaltstitel - außer für Saisonarbeitskräfte (§ 9), für begünstigte Drittstaatsangehörige (§ 47) oder Angehörige von Österreichern (§ 49) - nach sichtvermerksfreier Einreise (§ 28 oder § 29) erteilt werden soll;
4. sich der Fremde nach Umgehung der Grenzkontrolle nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält;
5. der Fremde unentschuldigt einer Ladung zur erkennungsdienstlichen Behandlung (§ 96 Abs. 1 Z 5), in der diese Folge angekündigt ist, nicht Folge leistet oder an der erkennungsdienstlichen Behandlung nicht mitwirkt.
(2) Die Erteilung eines Einreise- oder Aufenthaltstitels kann wegen Gefährdung öffentlicher Interessen (§ 8 Abs. 3 Z 2) insbesondere versagt werden, wenn
1. der Fremde nicht über einen alle Risken abdeckenden Krankenversicherungsschutz verfügt oder nicht über ausreichende eigene Mittel zu seinem Unterhalt oder - bei der Erteilung eines Einreise- oder befristeten Aufenthaltstitels - für die Wiederausreise verfügt;
2. der Aufenthalt des Fremden zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte, es sei denn, diese Belastung ergäbe sich aus der Erfüllung eines gesetzlichen Anspruches;
3. der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde;
4. der Aufenthalt des Fremden die Beziehungen der Republik Österreich zu einem anderen Staat beeinträchtigen würde;
5. Grund zur Annahme besteht, der Fremde werde nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Titels das Bundesgebiet nicht unaufgefordert verlassen.
(3), (4) […]
Versagung eines Aufenthaltstitels
§ 12. (1) Die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist außer in den Fällen des § 10 Abs. 4 zu versagen, wenn Fremde, die hiezu gemäß § 8 Abs. 5 verpflichtet sind, keinen Rechtsanspruch auf eine für Inländer ortsübliche Unterkunft nachweisen.
(2), (3) […]“
Für den konkreten Fall ist festzustellen, dass kein Versagungsgrund gemäß § 10 Abs. 1 und Abs. 2 Z 4 und 5 FrG ersichtlich ist und dass im Fall des Aufenthalts des Beschwerdeführers im österreichischen Bundesgebiet auch keine Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung oder Sicherheit im Sinne des § 10 Abs. 2 Z 3 leg. cit. zu befürchten ist, wobei auf die bisherige strafgerichtliche und verwaltungsstrafrechtliche Unbescholtenheit des Beschwerdeführers hingewiesen wird.
Weiters verwirklicht der Beschwerdeführer durch die bis zuletzt bestehende Anspruchsberechtigung im Rahmen der Allgemeinen Sozialversicherung das Erfordernis eines „alle Risiken abdeckenden Krankenversicherungsschutzes“ im Sinne des § 10 Abs. 2 Z 1 FrG.
Schließlich hat der Beschwerdeführer durch die Vorlage eines am 1.3.2016 abgeschlossenen, unbefristeten Mietvertrages über eine ca. 70 m² große, durch zwei Personen belegte Wohnung in Wien den Nachweis eines Rechtsanspruches auf eine ortsübliche Unterkunft gemäß § 8 Abs. 5 und § 12 Abs. 1 FrG erbracht.
Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 10 Abs. 2 Z 2 FrG hat sich die Behörde – und damit auch das erkennende Gericht – bei Berechnung des Unterhaltsbedarfs einer Familie im Regelfall nur an jenem Gesamtbetrag zu orientieren, welcher nach Auffassung der jeweiligen Landesregierung im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides – bzw. hier des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtes – zur Deckung des Bedarfes für einen Haushaltsvorstand und der jeweiligen Zahl der unterhaltsberechtigten Haushaltsangehörigen auch dann ausreichend ist, wenn daneben keine weiteren Mittel zur Verfügung stehen (vgl. hiezu etwa VwGH 21.12.2001, 2000/19/0153; 3.4.2009, 2008/22/0711). Die mit einer Unterkunft einhergehenden Kosten sind bei dieser Berechnung zu berücksichtigen (vgl. VwGH 3.12.1999, 99/19/0094).
Die – infolgedessen nach Ansicht des erkennenden Gerichts einschlägige – Verordnung der Wiener Landesregierung zum Gesetz zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Wien 2017 (WMG-VO 2017), LGBl. Nr. 32, lautet – auszugsweise – wie folgt:
„§ 1.
Mindeststandards, Grundbeträge zur Deckung des Wohnbedarfs und
Geringfügigkeitsgrenze
(1) [...]
(2) Für volljährige Personen, die mit anderen volljährigen Personen in einer Bedarfsgemeinschaft gemäß § 7 Abs. 2 Z 2 WMG leben [i.e. u.a. Personen im gemeinsamen Haushalt, zwischen denen eine Lebensgemeinschaft besteht; Anm. des erkennenden Richters], beträgt der Mindeststandard EUR 633,35.
Dieser enthält folgenden Grundbetrag zur Deckung des Wohnbedarfs:
a) für volljährige Personen, soweit sie nicht unter lit. b oder c fallen EUR 158,34;
b), c) [...]
(3) – (5) [...]“
Demnach führt die Erteilung eines Aufenthaltstitels an einen Fremden in der Regel dann zu keiner finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft, wenn dem – wie hier – in Wohngemeinschaft mit seiner Lebensgefährtin situierten Beschwerdeführer im Fall einer Anspruchsberechtigung nach dem Wiener Mindestsicherungsgesetz – vor dem Abzug regelmäßiger Aufwendungen, wie bspw. Mietzinsraten – ein Netto-Monatseinkommen von zumindest EUR 633,35 x 2, sohin insg. EUR 1.266,70, zur Sicherung seiner Lebensbedürfnisse zur freien Verfügung stehen.
Das dem Beschwerdeführer und seiner Lebensgefährtin zur freien Verfügung stehende Netto-Monatseinkommen (inkl. aliquoter Sonderzahlungen; zu deren Berücksichtigung vgl. zB VwGH 15.12.2011, 2008/18/0629) beträgt EUR 1.092,69 (Gehalt des Beschwerdeführers) + 400,– (Trinkgelder des Beschwerdeführers) + 1.334,66 (Gehalt seiner Lebensgefährtin), sohin insg. EUR 2.827,35. Nach Abzug der regelmäßigen Aufwendungen – i.e. in concreto EUR 650,– (monatlicher Mietzins) + 30,33 (monatliche Kosten für Strom) + 102,33 (monatliche Kosten für Gas) – verbleibt ein Betrag iHv EUR 2.044,69 und liegt dieser weit über jenem Betrag, der unter Heranziehung des § 1 Abs. 2 WMG-VO 2017 zur finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen würde.
Somit wird gegenständlich auch die Erteilungsvoraussetzung des § 10 Abs. 2 Z 2 FrG erfüllt.
Mit jenen Rechten, die einem türkischen Arbeitnehmer im Bereich der Beschäftigung verliehen werden, geht ein entsprechendes Aufenthaltsrecht einher, zumal anderenfalls die Rechte auf Zugang zum Arbeitsmarkt und auf tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung wirkungslos wären. Das aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 folgende Aufenthaltsrecht besteht ex lege, sodass eine Aufenthaltserlaubnis nur deklarativen Charakter hat (vgl. hiezu zB EuGH 16.12.1992, Rs. C-237/91, Kus, Rn. 36; so etwa auch VwGH 23.6.2015, Ro 2014/22/0038).
Im Ergebnis ist dem alle Voraussetzungen erfüllenden Beschwerdeführer – mangels einer entsprechenden innerstaatlichen Gesetzesbestimmung einer für diese Fälle auszustellenden Dokumentation – jener nationale Aufenthaltstitel zu erteilen, der den türkischen Staatsangehörigen bestmöglich in die Lage versetzt, von seinen aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ableitbaren Rechten im österreichischen Bundesgebiet auch in Hinkunft effektiv Gebrauch machen zu können. Der vom Beschwerdeführer begehrte Aufenthaltstitel für den Zweck „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ verschafft jenem das in der genannten Bestimmung festgeschriebene Aufenthaltsrecht.
Es war sohin – ohne Eingehen auf das weitere Beschwerdevorbringen – spruchgemäß zu entscheiden.
Die zeitliche Befristung des erteilen Aufenthaltstitels gründet sich auf § 20 Abs. 1 NAG, der auch im Anwendungsbereich des ARB 1/80 gilt (vgl. VwGH 16.9.2015, Ra 2015/22/0091).
Zum Revisionsausspruch:
Die ordentliche Revision ist zulässig, zumal im gegenständlichen Verfahren eine Rechtsfrage zu lösen war, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukommt, da eine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage des „Umstieges“ von einem Aufenthaltstitels für den Zweck „Studierende“ auf einen Titel für den Zweck „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ im Anwendungsbereich des ARB 1/80 bis dato fehlt.
Schlagworte
Assoziationsabkommen EWG-Türkei, Arbeitnehmereigenschaft, ordnungsgemäße Beschäftigung, Aufenthaltsrecht, deklarative WirkungAnmerkung
VwGH 22.2.2018, Ro 2017/2270019; EinstellungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGWI:2017:VGW.151.016.8651.2017Zuletzt aktualisiert am
06.03.2018