TE Lvwg Erkenntnis 2017/8/24 VGW-151/016/5783/2017

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.08.2017
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Entscheidungsdatum

24.08.2017

Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht
E1E
59/04 EU – EWR
19/05 Menschenrechte

Norm

NAG §21 Abs1
NAG §21 Abs3
NAG §47 Abs1
NAG §47 Abs2
12010E020 AEUV Art20
EMRK Art. 8

Text

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Verwaltungsgericht Wien hat durch seinen Richter MMag. Dr. Böhm-Gratzl über die Beschwerde der A. (auch: A...) D., geb. 1974, russische Staatsangehörige, wohnhaft in E.-straße, Wien, vertreten durch den Migrantinnenverein, vom 30.3.2017 gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien, Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 35, vom 1.3.2017, Zl. MA35-9/3115306-02, mit welchem der Antrag der Beschwerdeführerin vom 24.11.2016 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 des Bundesgesetzes über die Niederlassung und den Aufenthalt in Österreich – NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, idF BGBl. I Nr. 68/2013 abgewiesen wurde, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 10.8.2017 durch mündliche Verkündung

zu Recht erkannt:

I. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG wird der Beschwerde stattgegeben, wird der angefochtene Bescheid aufgehoben und wird der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltstitel für den Zweck „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, idF BGBl. I Nr.68/2013 für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

II. Gemäß § 31 Abs. 1 und § 17 VwGVG iVm § 76 Abs. 1 AVG wird der Beschwerdeführerin der Ersatz der Barauslagen für den der mündlichen Verhandlung vom 10.8.2017 beigezogenen nichtamtlichen Dolmetsch dem Grunde nach auferlegt.

III. Gegen dieses Erkenntnis ist gemäß § 25a VwGG eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig.

Entscheidungsgründe

Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien, Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 35, vom 1.3.2017 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin, einer am ...1974 geborenen russischen Staatsangehörigen, vom 24.11.2016 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG – zusammengefasst – wegen ihrer unzulässigen Inlandsantragstellung abgewiesen. U.a. führte die belangte Behörde wie folgt aus:

„Nach vorliegender Aktenlage wird vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen im Ergebnis nicht davon ausgegangen, dass es für Ihre österreichische Ankerperson bedeuten würde, ‚de facto‘ Österreich und das Gebiet der Europäischen Union verlassen zu müssen, wenn Ihnen kein Aufenthaltstitel erteilt wird.

Dies aus folgenden Erwägungen:

Sie sind Ehegattin und Mutter von österreichischen Staatsbürgern. Aus der Aktenlage ergeben sich keinerlei Hinweise darauf, dass sich Ihr zusammenführender Gatte oder Ihr am ...2015 geborenes Kind in einer Ausnahmesituation befindet die bei Nichtgewährung eines Aufenthaltstitels an Sie bedeuten würde, dass sie de facto gezwungen wären das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen. Ihr Vorbringen ist vielmehr als bloßer Wunsch nach einem gemeinsamen Familienleben in Österreich zu werten. Der bloße Wunsch nach einem Zusammenleben in Österreich rechtfertigt nicht die Annahme eines de facto Zwanges im oben genannten Sinn. Auch weitere besondere Umstände, die in Ihrem Fall auf eine Ausnahmesituation schließen lassen könnten, haben Sie weder vorgebracht, noch ergeben sich diese unmittelbar aus dem Akteninhalt.“

(Unkorrigiertes Originalzitat)

Hiegegen richtet sich die form- und fristgerecht erhobene Beschwerde vom 30.3.2017, in welcher unter Verweis auf § 21 Abs. 3 NAG und Art. 8 EMRK – im Wesentlichen – vorgebracht wird, dass im konkreten Fall auf Grund der Angehörigeneigenschaft der Beschwerdeführerin zu ihrem Ehegatten und dem mj. Sohn, welche beide die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, die Inlandsantragstellung zuzulassen gewesen wäre. Es werde daher beantragt, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung den angefochtenen Bescheid zu beheben, die Zulässigkeit der Inlandsantragstellung festzustellen und einen Aufenthaltstitel für den Zweck „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ zu erteilen, in eventu die Rechtsache an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Die belangte Behörde nahm von der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung Abstand und legte den bezughabenden Verwaltungsakt dem erkennenden Gericht (einlangend am 25.4.2017) vor.

Das Verwaltungsgericht Wien nahm am 26.4.2017 Einsicht in öffentliche Register (Zentrales Melderegister, Versicherungsdatenbank, Zentrales Fremdenregister, Strafregister der Republik Österreich).

Da dem erkennenden Gericht im Lichte des Beschwerdeschriftsatzes Zweifel gekommen waren, stellte die gewillkürte Vertretung der Beschwerdeführerin nach Aufforderung mit Eingabe vom 8.5.2017 klar, dass im vorliegenden Fall weiterhin die Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Familienangehöriger“ begehrt werde.

Am 10.8.2017 führte das Verwaltungsgericht Wien in gegenständlicher Rechtsache eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, zu welcher alle Verfahrensparteien sowie – als Zeuge – der Ehegatte der Beschwerdeführerin, R. U., nachweislich und ordnungsgemäß geladen wurden. Während die belangte Behörde der Verhandlung begründunglos fernblieb, erschienen die Beschwerdeführerin – in Begleitung ihres gewillkürten Vertreters T. Au. –sowie der genannte Zeuge und die als Dolmetsch für die russische Sprache geladene Fr. Dkfm. V. H.. Das zugehörige Verhandlungsprotokoll stellt sich – auszugsweise – wie folgt dar:

„Die Beschwerdeführerin gibt zu Protokoll:

Ich halte mich seit 29. Mai 2013 durchgehend in Österreich auf.

In Wien leben mein Onkel und dessen Familie sowie meine Cousine und deren Familie, in Linz hält sich meine Tante und deren Familie auf. Zudem befindet sich mein Ehegatte in Wien.

Meine Cousine hat selbst fünf Kinder und sehe ich sie einmal wöchentlich. Zu meinem Onkel habe ich einmal pro Monat persönlichen Kontakt.

Ich bin mit meinen Nachbarn sowie meiner Chefin bei der C. befreundet.

Ich habe einen 23 Jahre alten Sohn, der sich in Russland aufhält und dort studiert. Mein Sohn M. wird im kommenden September zwei Jahre alt.

Ich bin aktuell nicht berufstätig, hätte jedoch die Möglichkeit, an einer ... Schule als Lehrerin zu unterrichten.

Ich bin zur Zeit täglich mit der Betreuung meines Sohnes und mit Hausarbeit beschäftigt. Mein Ehegatte verlässt die Wohnung um 5 vor 9 Uhr und kehrt um ca. 16 Uhr zurück. Er ist berufstätig. In der Zwischenzeit bin ich zumeist alleine, manchmal erhalte ich Besuch von Angehörigen und Nachbarn.

Ich bin gesund und leide an keinen Erkrankungen.

Mein Ehegatte leidet an keinen chronischen Erkrankungen. Seine Berufstätigkeit ist allerdings körperlich anstrengend. Mein Sohn M. leidet an keinen Krankheiten, er ist gesund.

Ich lebe mit meinem Ehegatten und meinem Sohn in einem Haushalt. Aufgrund der Berufstätigkeit meines Ehegatten nehme ich die Betreuung unseres Kindes vor allem wahr. Ich bin zur Betreuung meines Sohnes in der Lage.

Gemeinsam mit meinem Ehegatten baden wir das Kind und nehmen, wenn dies die Berufstätigkeit meines Gatten zulässt, gemeinsam Arzttermine wahr. Während der Zeit, in der mein Gatte tagsüber berufstätig ist, nehme ich die Betreuung meines Kindes alleine wahr.

Meine Cousine könnte mir, sollte es notwendig sein, bei der Betreuung des Kindes helfen. Bislang war dies jedoch nicht notwendig.

Meine Cousine hat selbst fünf Kinder und wenn diese im Kindergarten oder in der Schule sind, wäre es meiner Cousine möglich, stundenweise auf meinen Sohn aufzupassen.

Ich könnte meinen Sohn meiner Tante in Linz anvertrauen. Sie ist sehr verantwortungsvoll und pflichtbewusst.

Meine Tante in Linz ist sicherlich über 50 Jahre alt, hatte schon mehrere Rückenoperationen und ist nicht gesund. Meine Tante muss bereits ihren gehbehinderten Mann betreuen und würde sie zusätzlich ein lebhaftes Kind nicht betreuen können.

Ich verneine, dass es irgendjemanden während meiner Abwesenheit aus Österreich möglich wäre, die Betreuung meines Kindes zu übernehmen.

Ich kann ohne meinen Sohn nicht leben. Er ist meine ‚Seele‘. Für meinen Ehegatten ist es der einzige Sohn und liebt er ihn sehr. Ich bin bereits seit fünf Jahren von meinem ersten Sohn getrennt und fällt mir das sehr schwer. Ich bin 42 Jahre alt und ist dies für uns die letzte Chance, eine Familie zu haben.

Sollte es zu einer Trennung zwischen mir und meinem Sohn kommen, glaube ich nicht, dass er zu einem guten Menschen heranwachsen könne.

Mein Sohn sucht stets körperlichen Kontakt zu mir.

In jener Schule, in der ich in Wien unterrichten könnte, gibt es eine spezielle Kinderbetreuungseinrichtung für die dort lehrenden.

Mein Sohn würde sich in meiner Nähe aufhalten. Ich würde auch nur vier Stunden pro Werktag arbeiten. Ich war in der Vergangenheit noch nie von meinem Sohn M. getrennt.

[...]

Zeuge: R. U.

Ehegatte, gibt nach Wahrheitserinnerung und nach Belehrung über die Entschlagungsmöglichkeit an: Ich möchte aussagen.

Meine Ehegattin hält sich seit 2013 durchgehend in Österreich auf.

In Österreich leben meine beiden Töchter, die 2004 und 2005 geboren wurden und derzeit bei ihrer Mutter leben.

Eine Tante meiner Ehegattin lebt in Linz, ein Onkel in Wien. Zudem lebt eine Cousine meiner Ehegattin und deren Familie – sie hat fünf Kinder – ebenfalls in Wien.

Zu ihrem Onkel und der Cousine hat meine Ehegattin täglichen telefonischen Kontakt. Wie häufig sie persönlichen Kontakt haben, kann ich nicht angeben, ich bin tagsüber berufstätig und daher weiß ich dies nicht. Meine Ehegattin ist mit unseren Nachbarn befreundet.

Ich übe eine Schichtarbeit von 10 Uhr bis zumindest 18 Uhr aus, verlasse meine Wohnung um 9 Uhr und kehre zumeist zwischen 20 und 21 Uhr zurück. Ich bin auch am Wochenende berufstätig und habe einen Tag in der Woche frei.

Ich leide an keinen Erkrankungen. Ich kenne keine Erkrankungen, an denen meine Gattin leidet. Auch mein Sohn ist gesund.

Ich lebe gemeinsam mit meiner Ehegattin und unserem Sohn in unserem Haushalt. Während der Zeiten meiner Berufstätigkeit betreut meine Gattin meinen Sohn. Es gibt außer mir, wenn ich meinen freien Tag in der Woche habe, niemanden, der die Betreuung des Sohnes übernehmen könnte. Ich kann für das Kind nicht kochen.

Onkel und Tante sind selbst alte Leute, die Cousine hat selbst fünf Kinder.

Die Bindung zu unserem Kind ist eine enge, wir lieben unseren Sohn.

Eine Trennung meines Sohnes von seiner Mutter würde sich sehr schlecht auf ihn auswirken. Die Trennung von der Mutter wäre sicherlich dramatisch für die Entwicklung meines Sohnes. Meine Gattin und unser Sohn waren in der Vergangenheit nie getrennt.

Wäre meine Ehegattin gezwungen Österreich zu verlassen, kenne ich niemanden der sich um den Sohn kümmern könnte.

[...]

In seinen Schlussausführungen gibt der BfV an:

Die Interessen des Kindes sind in einem Fall wie dem gegenständlichen als sehr hoch zu gewichten, in diesen prägenden Jahren der Entwicklung von der Mutter getrennt zu Serin, würde einen bleibenden psychischen und sonstigen Nachteil in der Entwicklung nach sich ziehen. Die intensivste Bindung die wir in unserem irdischen Leben kennen, ist die Bindung zwischen Mutter und Kind. Die Beschwerdeführerin ist in einer begünstigen rechtlichen Situation dadurch, dass ihr Sohn ein österreichischer Staatsbürger ist. Zum Kernbestandteil des Rechts als Staatsbürger gehört, dass das Kind auch tatsächlich in Österreich verbleiben kann und dass ausreichend in Österreich mit Hilfe der engsten Bezugspersonen für das Kind gesorgt wird. Gegenwärtig ist die Station der Beschwerdeführerin so, dass sie bald viereinhalb Jahre in Österreich ist und dieser längere Aufenthalt ausschließlich mit positiven Faktoren verbunden ist. Beide Elternteile haben auch fixe und realistische Zukunftspläne und demonstrieren einen starken Arbeitswillen, sodass nicht davon auszugehen ist, dass in Zukunft soziale Geldaushilfen in Anspruch genommen werden würden. Ich ersuche daher dem Antrag auf Erteilung der Aufenthaltsbewilligung unter Berücksichtigung sämtlicher berührter Interessen stattzugeben.“

(Unkorrigiertes Originalzitat)

Im Anschluss an diese Verhandlung wurde das gegenständliche Erkenntnis samt den wesentlichen Entscheidungsgründen mündlich verkündet. Mit Eingabe vom 23.8.2017 beantragte die belangte Behörde gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG eine schriftliche Ausfertigung der Entscheidung, welche hiemit ergeht.

Das Verwaltungsgericht Wien sieht den folgenden – entscheidungserheblichen – Sachverhalt als erwiesen an:

Die Beschwerdeführerin ist eine am ...1974 geborene russische Staatsangehörige und im Besitz eines bis zum 24.10.2026 gültigen russischen Reisepasses. Sie ehelichte am ...2013 in Wien den am ...1967 geborenen österreichischen Staatsbürger R. U..

Die Beschwerdeführerin reiste illegal nach Österreich ein und hält sich bis zuletzt durchgehend im Bundesgebiet auf. Sie brachte am 23.5.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz ein, welcher im Instanzenzug mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16.7.2015 abgewiesen wurde. Uno actu wurde ausgesprochen, dass eine Rückkehrentscheidung bis zum 22.11.2015 vorrübergehend unzulässig ist. Dieses Erkenntnis erwuchs in Rechtskraft.

Der Ehe der Beschwerdeführerin mit R. U. entstammt der am ...2015 in Wien geborene Sohn M. U., welcher die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt.

Mit Telefax vom 28.10.2015 beantragte der damalige anwaltliche Vertreter der Beschwerdeführerin einen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 AsylG 2005. Über diesen Antrag ist bis zuletzt nicht entschieden worden.

Am 11.2.2016 beantragte die Beschwerdeführerin erstmals die Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG und wurde dieser Antrag mit Bescheid vom 9.3.2016 zurückgewiesen. Einer hiegegen gerichteten Beschwerde gab das Verwaltungsgericht Wien mit Erkenntnis vom 14.6.2016 keine Folge. Die Entscheidung erwuchs in Rechtskraft.

Am 24.11.2016 brachte die Beschwerdeführerin erneut einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 NAG persönlich bei der belangten Behörde ein. Trotz entsprechender Belehrung mit Schriftsatz vom 18.1.2017 wurde ein Zusatzantrag nach § 21 Abs. 3 NAG bis zur Bescheiderlassung nicht gestellt. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 1.3.2017 wurde der verfahrenseinleitende Antrag abgewiesen. Hiegegen richtet sich die vorliegende Beschwerde.

Die Beschwerdeführerin lebt seit ihrer Einreise nach Österreich mit ihrem Ehegatten und ihrem Sohn in einem gemeinsamen Haushalt in  Wien, E.-straße. Der Ehegatte der Beschwerdeführerin ist mit geringfügigen Unterbrechungen seit dem Jahr 2005 in Österreich berufstätig und geht seit 1.4.2017 bei der „P. GmbH“ in  Wien einer Tätigkeit als Vollzeitarbeiter im Schichtbetrieb an sechs Tagen pro Woche nach. Er verlässt die gemeinsame Wohnung um 9.00 Uhr und kehrt zumeist erst zwischen 20.00 und 21.00 Uhr wieder. Die Betreuung und Pflege des gemeinsamen, aktuell ca. zwei Jahre alten Sohnes wird – nicht nur während der berufstätigen Abwesenheiten des Ehegatten – durchgehend von der Beschwerdeführerin selbst wahrgenommen und ist sie dazu, nicht zuletzt da sie an keinen Erkrankungen leidet, auch in der Lage. Andere Vertrauenspersonen, die sich des Kindes längerfristig annehmen könnten, sind nicht ersichtlich. Der Kindesvater sieht sich außer Stande, neben seiner Berufstätigkeit alleine für seinen Sohn zu sorgen, sodass ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und seiner Mutter besteht. Die emotionale Bindung der Eltern und zu ihrem Sohn ist sehr stark. Es gab bislang keine Zeiten der Trennung zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Sohn.

Zur Beweiswürdigung:

Die obige Darlegung des Verfahrensverlaufes stützt sich auf den Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, an dessen Echtheit, Richtigkeit und Vollständigkeit keine Zweifel bestehen und dem auch keine Verfahrenspartei entgegengetreten ist. Hinsichtlich des Wohnsitzes der hier interessierenden Familie und der Berufstätigkeit des Ehegatten der Beschwerdeführerin nahm das erkennende Gericht Einsicht in das Zentrale Melderegister und die Versicherungsdatenbank.

Im Übrigen gründen sich die Feststellungen auf den Ergebnissen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Wien vom 10.8.2017 und auf dem persönlichen Eindruck, den sich der erkennende Richter in diesem Rahmen von der Beschwerdeführerin und ihrem Ehegatten verschaffen konnte. Deren – oben im Wortlaut wiedergegebene – Aussagen erschienen höchst glaubhaft, waren plausibel, nachvollziehbar und lebensnah. Auch war die starke emotionale Bindung der Eltern zu ihrem Sohn, der vor Ort anwesend war, für den erkennenden Richter unzweifelhaft feststellbar.

Wie bereits oben erwähnt, entsendete die belangte Behörde keinen Vertreter zu jener Verhandlung und hat sie zu den Beweisergebnissen nicht Stellung bezogen. Der entscheidungserhebliche Sachverhalt steht für das erkennende Gericht fest.

Das Verwaltungsgericht Wien hat hiezu erwogen:

Der Prüfungsumfang des Verwaltungsgerichtes richtet sich nach § 27 VwGVG. In diesem Rahmen ist das Verwaltungsgericht auch befugt, Rechtswidrigkeitsgründe aufzugreifen, die im Beschwerdeschriftsatz nicht vorgebracht wurden (vgl. etwa VwGH 26.3.2015, Ra 2014/07/0077).

Das erkennende Gericht hat auf Grund der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seines Erkenntnisses zu entscheiden (vgl. VwGH 21.10.2014, Ro 2014/03/0076), sodass Änderungen des entscheidungserheblichen Sachverhaltes im Stadium des Beschwerdeverfahrens beachtlich und vom Amts wegen aufzugreifen sind.

Zum Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels:

Die hier maßgeblichen Normen des NAG, BGBl. I Nr. 100/2005, lauten in ihrer geltenden Fassung BGBl. I Nr. 70/2015 bzw. Nr. 68/2013 – auszugsweise – wie folgt:

„Verfahren bei Erstanträgen

§ 21. (1) Erstanträge sind vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.

(2) [...]

(3) Abweichend von Abs. 1 kann die Behörde auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 vorliegt und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar ist:

1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen (§ 2 Abs. 1 Z 17) zur Wahrung des Kindeswohls oder

2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3).

Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Fremde zu belehren.

(4) – (6) [...]

Aufenthaltstitel ‚Familienangehöriger‘ und

‚Niederlassungsbewilligung – Angehöriger‘

§ 47. (1) Zusammenführende im Sinne der Abs. 2 bis 4 sind Österreicher oder EWR-Bürger oder Schweizer Bürger, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und nicht ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben.

(2) Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Zusammenführenden sind, ist ein Aufenthaltstitel ‚Familienangehöriger‘ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen.

(3) – (5) [...]“

Hievon ausgehend ist für den vorliegenden Fall wie folgt festzustellen:

Der Ehegatte der drittstaatsangehörigen Beschwerdeführerin ist österreichischer Staatsbürger und sohin „Zusammenführender“ im Sinne des § 47 Abs. 1 NAG. In weiterer Folge ist daher zu prüfen, ob hier die Voraussetzungen des 1. Teiles des NAG erfüllt werden (vgl. § 47 Abs. 2 leg. cit.).

Gemäß § 21 Abs. 1 NAG sind Erstanträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vor der Einreise in das österreichische Bundesgebiet im Ausland einzubringen. Jenem Gebot ist die Beschwerdeführerin durch Antragstellung im Inland am 24.11.2016 nicht nachgekommen. Dass sie zur Inlandsantragstellung gemäß Abs. 2 par. cit. berechtigt gewesen wäre, ist nicht ersichtlich; insbesondere hielt sie sich zum Zeitpunkt der Antragseinbringung rechtsgrundlos im Bundesgebiet auf.

Gemäß § 21 Abs. 3 NAG kann jedoch die Antragstellung im Inland – aus dort angeführten Gründen – auf begründeten Antrag zugelassen werden, worüber der Fremde von der Behörde zu belehren ist. Im konkreten Fall ist eine solche Belehrung nachweislich mit Schriftsatz vom 18.1.2017 erfolgt. Allerdings brachte die Beschwerdeführerin bis zur Erlassung des angefochtenen Bescheides keinen Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 leg. cit. ein. Die Antragstellung im Inland war daher insgesamt unzulässig und wäre der verfahrenseinleitende Antrag deshalb abzuweisen.

Zu beachten ist jedoch, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um die Mutter eines am ...2015 geborenen, die österreichische Staatsbürgerschaft – und sohin die Unionsbürgerschaft – besitzenden Sohnes handelt, sodass zu prüfen ist, ob der Verweigerung eines Aufenthaltstitels im konkreten Fall die aus Art. 20 AEUV erfließenden Rechte entgegenstehen.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in Anlehnung an die Judikatur des Gerichtshofes der Europäischen Union mehrfach ausgesprochen hat, steht Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegen, die bewirken, dass Unionsbürgern – wie hier einem die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Kind einer Drittstaatsangehörigen – der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen dieser Status verleiht, verwehrt wird. Das Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezieht sich auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Sollten derartige Gründe – der bloße Wunsch nach Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union reicht allerdings nicht aus – bestehen, würde die gegenüber einem Fremden ausgesprochene Anordnung, das Bundesgebiet wegen des unrechtmäßigen Aufenthalts zu verlassen, dem Unionsrecht widersprechen und daher nicht zulässig sein (vgl. etwa VwGH 19.12.2012, 2012/22/0218; 17.4.2013, 2013/22/0062).

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union ist hiebei zu ermitteln, welcher Elternteil die tatsächliche Sorge für das Kind wahrnimmt und ob tatsächlich ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit besteht. Im Rahmen dieser Beurteilung ist dem Recht auf Achtung des Familienlebens entsprechend Rechnung zu tragen. Der Umstand, dass der – die Unionsbürgerschaft besitzende – Elternteil wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, bildet hier einen Gesichtspunkt von Bedeutung. Ebenso sind im Sinne des Kindeswohles das Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, der Grad seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und das Risiko, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre, zu berücksichtigen (vgl. EuGH 10.5.2017, Rs. C-133/15, Chavez-Vilchez, Rn. 70 f.).

Es obliegt dem Fremden, jene Information, welche für eine Beurteilung in obigem Sinne erforderlich sind, von sich aus beizubringen. Jedoch haben die nationalen Behörden darüber zu wachen, dass die Anwendung dieser Beweislastregel nicht geeignet ist, die praktische Wirksamkeit des Art. 20 AEUV zu beeinträchtigen. So werden jene nicht davon entbunden, die erforderlichen Ermittlungen anzustellen, um festzustellen, wo der – die Unionsbürgerschaft besitzende – Elternteil wohnt, um zum einen die Frage zu prüfen, ob jener wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind alleine wahrzunehmen, und zum anderen zu klären, ob zwischen dem Kind und dem drittstaatsangehörigen Elternteil solch ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, dass die ein Aufenthaltsrecht versagende Entscheidung jenem Kind die Möglichkeit nähme, den Kernbestand seiner aus dem Unionsbürgerstatus folgenden Rechte tatsächlich in Anspruch zu nehmen (vgl. EuGH 10.5.2017, Rs. C-133/15, Chavez-Vilchez, Rn. 75 ff.).

Auch hat der Verfassungsgerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung – in Anlehnung an die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (vgl. aktuell hiezu Czech, Das Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 8 EMRK in der Rechtsprechung des EGMR, EuGRZ 2017, 229 [237 f.]) – mehrfach darauf hingewiesen, dass in Konstellation, in welchen ein Elternteil infolge des Vollzuges fremdenrechtlicher Bestimmungen mit dem Verlassen des Aufenthaltsstaates seines Kindes konfrontiert wird, dem Kindeswohl ein entsprechend hoher Stellenwert beizumessen ist, wobei dies insbesondere für Minderjährige im Kleinkindesalter gilt (vgl. hiezu zB VfGH 28.2.2012, B 1644/10; 11.6.2012, U 128/12; 25.2.2013, U 2241/12; 19.6.2015, E 426/2015; 9.3.2016, E 22/2016; 9.6.2016, E 2617/2015; 12.10.2016, E 1349/2016).

Für den konkreten Fall ist ausgehend von obiger Judikatur festzustellen, dass die Beschwerdeführerin die tatsächliche und tägliche Sorge für ihr Kind wahrnimmt, sie hiezu auch in der Lage und bereit ist und tatsächlich ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kind und seiner Mutter besteht. V.a. in Anbetracht des Umstandes, dass es sich hiebei um ein Kind im erst zweiten Lebensjahr handelt, ist im Sinne des Kindeswohles festzuhalten, dass es im Fall einer längerfristigen Trennung des Sohnes von seiner Mutter zweifellos und nachvollziehbar zu negativen Konsequenzen für die Kindesentwicklung kommen wird. Die von der Beschwerdeführerin derzeit für das Kind wahrgenommene Pflege und Betreuung kann auch nicht ohne Weiteres vom Kindesvater zur Gänze übernommen werden, zumal jener einer Vollzeitberufstätigkeit nachgeht. Auch wäre die Aufgabe dieser Berufstätigkeit durch den Vater und der hiemit verbundene Verlust der Selbsterhaltungsfähigkeit von Vater und Sohn dem Kindeswohl keinesfalls zuträglich. Andere Personen, welche die Kindesbetreuung längerfristig ausüben könnten, sind hier nicht ersichtlich. Das erkennende Gericht kommt daher zum Schluss, dass bei Abweisung des verfahrenseinleitenden Antrages der Sohn der Beschwerdeführerin gezwungen wäre, das Gebiet der Europäischen Union zu verlassen.

Der Verweigerung der Erteilung eines Aufenthaltstitels an die Beschwerdeführerin stehen daher – unter den besonderen Umständen des konkreten Falles – die unmittelbar aus Art. 20 AEUV erfließenden und Vorrang gegenüber den nationalen Bestimmungen genießenden (so ständige Judikatur seit EuGH 15.7.1964, Rs. C-6/64, Costa) Rechte entgegen, sodass der Beschwerdeführerin der begehrte Aufenthaltstitel – schon alleine deshalb und ohne Prüfung der Voraussetzungen des 1. Teiles des NAG – zu erteilen ist.

Dass der Aufenthalt der Beschwerdeführerin im österreichischen Bundesgebiet zu einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit führen könnte, ist nicht ersichtlich, wobei insbesondere auf die bisherige strafrechtliche Unbescholtenheit der Beschwerdeführerin und – im Sinne einer Prognoseentscheidung – auf den positiven Eindruck, den selbige beim erkennenden Richter hinterlassen hat, hinzuweisen ist.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden. Die zeitliche Befristung des erteilen Aufenthaltstitels gründet sich auf § 20 Abs. 1 NAG.

Nicht übersehen wird, dass – nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes Wien – der Antrag der Beschwerdeführerin vom 28.10.2015 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 55 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, idF BGBl. I Nr. 87/2012 nach wie vor offen ist. Jene Antragstellung schafft jedoch kein Bleiberecht im Bundesgebiet und steht aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nicht entgegen (vgl. § 58 Abs. 13 leg. cit.). Daher ist diesfalls eine Antragstellung nach dem NAG zulässig (vgl. § 1 Abs. 2 Z 1 leg. cit.).

Zum Ersatz von Barauslagen:

Der Ersatz der Barauslagen für den der Verhandlung vom 10.8.2017 beigezogenen nichtamtlichen Dolmetsch gründet sich auf die im Spruch zitierten Gesetzesstellen. Die Barauslagen, die mit der gegenständlichen Entscheidung der Beschwerdeführerin lediglich dem Grunde nach auferlegt werden, werden nach Festsetzung und Anweisung an den Dolmetsch der Beschwerdeführerin mit getrenntem Beschluss der Höhe nach vorzuschreiben sein.

Zum Revisionsausspruch:

Die ordentliche Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen (obzitierten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen. Weiters ist die dazu vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche, über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung der hier zu lösenden Rechtsfrage vor, zumal auch die Gesetzeslage eindeutig ist (vgl. etwa VwGH 28.5.2014, Ro 2014/07/0053; 3.7.2015, Ra 2015/03/0041). Zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist der Verwaltungsgerichtshof im Allgemeinen nicht berufen (vgl. VwGH 24.3.2014, Ro 2014/01/0011; 28.4.2015, Ra 2014/19/0177).

Schlagworte

Aufenthaltstitel Familienangehöriger, Inlandsantragstellung, Zusatzantrag, Unionsbürgerschaft, Kernbestand, Kindeswohl, Anwendungsvorrang

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGWI:2017:VGW.151.016.5783.2017

Zuletzt aktualisiert am

22.09.2017
Quelle: Landesverwaltungsgericht Wien LVwg Wien, http://www.verwaltungsgericht.wien.gv.at
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