Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Hradil als Vorsitzenden sowie die Hofrätin Dr. Grohmann und die Hofräte Mag. Wurzer, Mag. Painsi und Dr. Steger als weitere Richter in der Familienrechtssache des Antragstellers Daniel G*****, vertreten durch den Sachwalter Mag. Helmut Gruber, Rechtsanwalt, Moosbach 11, 6392 St. Jakob im Haus, gegen den Antragsgegner Gernold G*****, vertreten durch Brüggl & Harasser Rechtsanwaltspartnerschaft in Kitzbühel, wegen Unterhalt, über den Revisionsrekurs des Antragsgegners (Revisionsrekursinteresse 14.400 EUR) gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 9. Februar 2017, GZ 78 R 5/17h-55, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Kitzbühel vom 28. November 2016, GZ 5 Fam 47/15g-44, teilweise bestätigt, teilweise aufgehoben wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller hat die Kosten seiner Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen.
Text
Begründung:
Der am 2. 11. 1994 geborene Antragsteller entstammt der mittlerweile geschiedenen Ehe von Hannelore G***** und dem Antragsgegner. Er leidet an einer Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung, weshalb für ihn seit November 2013 der Antragstellervertreter zum Sachwalter (unter anderem) zur Einkommens- und Vermögensverwaltung sowie für die Vertretung vor Ämtern, Behörden und Gerichten bestellt ist.
Der Antragsteller hat weder einen positiven Schulabschluss noch eine Berufsausbildung. Seit 1. 1. 2014 war er nur an vier Tagen in einem Beschäftigungsverhältnis. Er ist einkommens- und vermögenslos. Seit dem Jahr 2016 erhält er Pflegegeld der Stufe 2. Er lebt im Haushalt seiner Mutter.
Der Antragsgegner ist als Schichtführer berufstätig und hat keine weiteren Sorgepflichten. Er weist ein monatliches Durchschnittseinkommen von 2.549,61 EUR auf.
Der Antragsteller begehrte am 9. 6. 2015 Unterhalt und zwar „rückwirkend mit 1. 1. 2014 monatlich zumindest 400 EUR bis zur Selbsterhaltungsfähigkeit des Antragstellers“. Aufgrund seiner psychischen Erkrankung sei er nicht in der Lage, ein laufendes Einkommen zu erzielen.
Der Antragsgegner wendete ein, der Antragsteller sei arbeitsfähig. Die Verweigerung der ihm zumutbaren Therapie führe zum Verlust seines Unterhaltsanspruchs. Der Antragsgegner unterstützte ihn mit 50 EUR pro Woche und habe seit Sommer 2015 insgesamt 1.805 EUR bezahlt.
Das Erstgericht verpflichtete den Antragsgegner rückwirkend ab 1. 1. 2014 monatlich 400 EUR an Unterhalt zu leisten und zwar den bis 30. 11. 2016 entstandenen Rückstand von insgesamt 14.000 EUR binnen einem Monat ab Rechtskraft der Entscheidung, die daran anschließenden monatlichen Unterhaltsbeiträge jeweils am Monatsersten im Vorhinein.
Das Rekursgericht gab dem Rekurs des Antragsgegners betreffend den laufenden Unterhalt von monatlich 400 EUR ab 1. 12. 2016 nicht Folge. Hinsichtlich des Unterhaltsrückstands hob es die Entscheidung auf, weil Feststellungen zu den eingewendeten Zahlungen des Antragsgegners fehlten. Dem Rekurs des Antragstellers gab es insoweit Folge, als der Zuspruch des laufenden Unterhalts nur als Teilbeschluss bestätigt wurde, im fortgesetzten Verfahren werde das Erstgericht den Antragsteller aufzufordern haben, ein vollständig bestimmtes Begehren in Ansehung des laufenden Unterhalts zu stellen.
Das Rekursgericht ging davon aus, die Therapieresistenz des Antragstellers sei Ausfluss seiner Erkrankung, sodass sie ihm nicht vorzuwerfen sei. Dass der Antragsteller verstehe, behandlungsbedürftig zu sein, ändere nichts daran, dass die Therapieresistenz Symptom der Krankheit sei. Die fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit des Antragstellers setze voraus, dass das Kind am Scheitern einer angemessenen Ausbildung oder einer Berufsausübung ein Verschulden treffe, was hier nicht der Fall sei. Den ordentlichen Revisionsrekurs ließ das Rekursgericht über Abänderungsantrag des Antragsgegners mit der Begründung zu, dass die Feststellungen des Erstgerichts einen Spielraum dahingehend offen ließen, dass sie wie vom Antragsgegner gewünscht interpretiert werden könnten. Wegen der allenfalls gegebenen Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens sei der Revisionsrekurs nachträglich zuzulassen.
Im ordentlichen Revisionsrekurs strebt der Antragsgegner die Abänderung im Sinn einer kostenpflichtigen Abweisung des Unterhaltsantrags an, hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
Der Antragsteller beantragt in seiner Revisionsrekursbeantwortung, dem Rechtsmittel nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Revisionsrekurs ist ungeachtet des den Obersten Gerichtshof nicht bindenden Ausspruchs des Rekursgerichts (§ 71 Abs 1 AußStrG) nicht zulässig.
1. Vorauszuschicken ist, dass der Antragsteller am 3. 8. 2017 und somit fristgerecht den Beschluss des Pflegschaftsgerichts vom 2. 8. 2017 über die pflegschaftsbehördliche Genehmigung der Antragstellung vorlegte (4 P 285/13y-53 des Bezirksgerichts Kitzbühel).
2. Eine (primäre) Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens machte der Antragsgegner im Abänderungsantrag nicht geltend, der – wie auch die Revisionsrekursausführungen selbst – lediglich eine unrichtige rechtliche Beurteilung des Rekursgerichts anspricht. Die Frage einer Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens bedarf daher schon deshalb – entgegen der Begründung des Zulassungsausspruchs – keiner näheren Erörterung durch das Höchstgericht.
3.1. Die Auslegung der in einer gerichtlichen Entscheidung enthaltenen Feststellungen ist jeweils einzelfallbezogen und bildet regelmäßig keine erhebliche Rechtsfrage (RIS-Justiz RS0118891 [T4]). Nur wenn die Auslegung der erstgerichtlichen Feststellungen durch die zweite Instanz eine unvertretbare Fehlbeurteilung darstellt, wäre die Anrufung des Obersten Gerichtshofs zur Korrektur zulässig (RIS-Justiz RS0118891 [T5]). Ein derartiger Fall liegt hier nicht vor.
3.2. Das Rekursgericht wertete die ausführliche Wiedergabe der Ergebnisse des psychiatrischen Sachverständigengutachtens durch das Erstgericht auf den Seiten 6 bis 8 der Beschlussausfertigung als erstgerichtliche Feststellungen. Dies ist schon deshalb vertretbar, weil sich aus dem Gesamtkontext des erstinstanzlichen Beschlusses und dem ausdrücklichen Verweis auf die unbedenklichen Ergebnisse des Gutachtens der Sachverständigen DDr. Wörgötter und der mündlichen Gutachtenserörterung unmissverständlich ergibt, dass das Erstgericht bei seinen Feststellungen insgesamt den Ausführungen der Sachverständigen folgen wollte.
3.3. Dass das Rekursgericht zwar von einer grundsätzlichen Zumutbarkeit einer Behandlung der im Revisionsrekursverfahren nicht mehr strittigen psychischen Erkrankung des Antragstellers ausging, es aber als typisches Symptom einer derartigen Erkrankung wertete, dass der Antragsteller einer derartigen, mit zeitlichem und emotionellem Aufwand verbundenen Behandlung ausweiche, stellt keine grobe Fehlbeurteilung der auf das psychiatrische Sachverständigengutachten gestützten Feststellungen dar und bedarf daher keiner Korrektur durch den Obersten Gerichtshof. Das Erstgericht ging ja immerhin ausdrücklich davon aus (Seite 7 des Beschlusses), Behandlungsabbrüche oder Widerstände gegen eine Behandlung seien „für jene Erkrankung, die die Störung des Antragstellers aufweise“, geradezu typisch, ihm fehle die Krankheitseinsicht und damit die wichtigste Voraussetzung für eine Therapie.
4.1. Die Frage der (fiktiven) Selbsterhaltungsfähigkeit haben die Vorinstanzen im Sinn der ständigen Rechtsprechung gelöst. Selbsterhaltungsfähig ist ein Kind dann, wenn es die zur Deckung seines Unterhalts erforderlichen Mittel selbst erwirbt oder aufgrund zumutbarer Beschäftigung zu erwerben imstande ist (RIS-Justiz RS0047567 [T4]). Bezieht ein Kind eigene Einkünfte, die zur Befriedigung seiner konkreten Lebensbedürfnisse hinreichen, fehlt es – unabhängig von der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen – an einem durch Unterhaltsleistungen sicherzustellenden Bedarf. Gleiches gilt auch dann, wenn das Kind tatsächlich keine eigenen Einkünfte bezieht, dazu aber unter Einsatz seine Fähigkeiten und Kräfte in der Lage wäre und daher als selbsterhaltungsfähig anzusehen ist (§ 231 Abs 3 ABGB; 10 Ob 73/16g = iFamZ 2017/10; 1 Ob 20/17y = iFamZ 2017/39 je mwN). Fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit liegt vor, wenn das unterhaltsberechtigte Kind nach Ende des Pflichtschulalters weder eine weitere zielstrebige Schulausbildung oder sonstige Berufsausbildung absolviert, noch eine mögliche Erwerbstätigkeit ausübt, also arbeits- und ausbildungsunwillig ist, ohne dass ihm krankheits- oder entwicklungsbedingte Fähigkeiten fehlten, für sich selbst aufzukommen (RIS-Justiz RS0114658). Voraussetzung der fiktiven Selbsterhaltungsfähigkeit ist, dass das Kind am Scheitern einer angemessenen Ausbildung oder Berufsausübung ein Verschulden trifft (RIS-Justiz RS0047605; 10 Ob 73/16g; 1 Ob 20/17y).
4.2. Ist die Selbsterhaltungsfähigkeit wegen einer psychischen Erkrankung des Kindes nicht eingetreten, wäre sein Unterhaltsanspruch nur bei Rechtsmissbrauch zu verneinen (RIS-Justiz RS0047330). Ob ein derartiger Rechtsmissbrauch anzunehmen ist, hängt in aller Regel von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab und vermag daher – von Fällen krasser Fehlbeurteilung durch die zweite Instanz abgesehen – die Zulässigkeit des Revisionsrekurses nicht zu rechtfertigen (RIS-Justiz RS0047330 [T4]).
5.1. Ein Verschulden des Antragstellers haben die Vorinstanzen hier ebenso vertretbar verneint wie einen Rechtsmissbrauch des Antragstellers.
5.2. Das Rekursgericht wies zutreffend darauf hin, dass der Umstand allein, dass der Antragsteller intellektuell verstehe, dass er eine Behandlung durchführen müsse, für sich allein noch nichts daran ändere, dass die Therapieresistenz ein Symptom der Krankheit sei. Auf die im Revisionsrekurs vermisste Feststellung, der Antragsteller sei jedenfalls so weit einsichts- und urteilsfähig, dass er Entscheidungen über medizinische Behandlungen selbst treffen könne, kommt es nicht an. Eine allenfalls ausreichend gegebene Einsichts- und Urteilsfähigkeit allein vermag die für notwendige Therapie erforderliche grundsätzliche Entschlusskraft und das nötige Durchhaltungsvermögen, das dem Antragsteller als Ausfluss seiner Krankheit fehlt, nach der vertretbaren Auffassung des Rekursgerichts nicht zu ersetzen. Entgegen den Ausführungen im Revisionsrekurs verweigert der Antragsteller die Behandlung nicht nur, weil er Mühe und Anstrengungen vermeidet; diese Verweigerung ist vielmehr ein Symptom seiner Erkrankung und ihm tatsächlich nicht vorwerfbar. Dem Antragsteller mangelt es vielmehr nach den Feststellungen an entsprechender Krankheitseinsicht, die wichtigste Voraussetzung für eine Therapie ist.
5.3. Für eine Anwendung der aus dem Schadenersatzrecht stammenden Schadensminderungspflicht nach § 1304 ABGB auf Unterhaltsansprüche eines Kindes besteht keine gesetzliche Grundlage, mangels analogiefähigen Sachverhalts besteht auch kein Anlass für eine analoge Anwendung. Die Verneinung eines Unterhaltsanspruchs kommt erst bei Rechtsmissbrauch, also bei vorsätzlichem Verhalten, das die durch die Unterhaltsleistungen abzudeckenden Bedürfnisse erst schafft oder das Zulangen der vor dem Akutwerden der geltend gemachten Fremdleistungspflicht auszuschöpfenden Mittel beeinträchtigt, in Betracht (RIS-Justiz RS0047330). Diese ständige Rechtsprechung zeigt schon, dass eine bloße Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten – etwa bei der Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses oder Verweigerung einer an sich zumutbaren Therapie – noch nicht zum (teilweisen) Verlust eines Unterhaltsanspruchs des Kindes führen kann.
5.4. Auch insoweit ist eine erhebliche Rechtsfrage somit nicht zu erkennen.
6. Da der Antragsteller objektiv nicht selbsterhaltungsfähig ist, was im Revisionsrekursverfahren nicht mehr strittig war, und ihm die Therapieunwilligkeit nach der vertretbaren Auffassung der Vorinstanzen nicht vorzuwerfen ist, war dem Revisionsrekurs des Vaters der Erfolg zu versagen.
7. Das in § 78 Abs 2 Satz 1 AußStrG enthaltene Erfolgsprinzip rechtfertigt einen Kostenzuspruch dann, wenn in der Revisionsrekursbeantwortung auf die Unzulässigkeit des gegnerischen Rechtsmittels hingewiesen wurde (RIS-Justiz RS0122774). Dies war hier nicht der Fall, sodass der Antragsteller die Kosten seiner Revisionsrekursbeantwortung selbst zu tragen hat.
Textnummer
E119575European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2017:0050OB00085.17M.0926.000Im RIS seit
20.10.2017Zuletzt aktualisiert am
30.05.2018