TE Vfgh Erkenntnis 2015/3/11 E1884/2014

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Veröffentlicht am 11.03.2015
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art8
FremdenpolizeiG 2005 §61, §64, §67

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Verhängung eines Aufenthaltsverbotes über einen als Kleinkind nach Österreich gekommenen mazedonischen Staatsangehörigen wegen verfassungswidriger Interessenabwägung

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.              Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.              Der im Dezember 1984 geborene Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Republik Mazedonien. Er reiste nach Vollendung des dritten Lebensjahres im Jahre 1988 nach Österreich ein und absolvierte hier seine gesamte Schul- bzw. Lehrlingsausbildung. Im Jahr 2001 wurde die erste, im Jahr 2003 wurde die zweite Tochter des Beschwerdeführers geboren. Beide besitzen die österreichische Staatsbürgerschaft. Im Jahr 2003 begründete der Beschwerdeführer eine Lebensgemeinschaft mit seiner derzeitigen Ehegattin (Eheschließung 2012), aus der 2010 ein Sohn hervorging. Sowohl seine Ehefrau als auch sein Sohn besitzen die österreichische Staatsbürgerschaft.

2.              Zwischen 2000 und 2012 beging der Beschwerdeführer (teils noch als Jugendlicher) diverse Straftaten, wegen derer er insgesamt 15 Mal strafgerichtlich (Sachbeschädigung, Hehlerei, Körperverletzung, Nötigung, gefährliche Drohung, Raufhandel, Betrug, unbefugter Gebrauch von Fahrzeugen, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Verletzung der Unterhaltspflicht) – vorwiegend zu Geld- zuletzt auch zu einer dreißigmonatigen Haftstrafe (wegen qualifiziertem Diebstahl und Überlassung von Suchtgift) – verurteilt wurde. Der Vollzug dieser Haftstrafe wurde gemäß §39 SMG aufgeschoben, damit sich der Beschwerdeführer einer Entzugstherapie gemäß §11 SMG unterziehen konnte.

3.              Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Kufstein vom 9. Dezember 2013 wurde gegen den Beschwerdeführer ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von zehn Jahren verhängt. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Berufung. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gab das nun zuständige Landesverwaltungsgericht Tirol der nun als Beschwerde zu wertende Berufung insofern Folge, als das Aufenthaltsverbot auf die Dauer von fünf Jahren herabgesetzt wurde.

4.              Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5.              Die Bezirkshauptmannschaft Kufstein hat die Verwaltungsakten, das Landesverwaltungsgericht Tirol die Gerichtsakten vorgelegt. Beide haben auf eine Gegenschrift bzw. Äußerung verzichtet.

II.              Erwägungen

1.              Die hier gemäß §125 Abs23 FPG maßgeblichen Bestimmungen des FPG in der Fassung BGBl 38/2011 lauten:

"Schutz des Privat- und Familienlebens

§61. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

4. der Grad der Integration;

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden;

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung oder Ausweisung ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung oder einer Ausweisung ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung oder Ausweisung schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§§45 und 48 oder §§51 ff NAG) verfügen, unzulässig wäre.

(4) […]"

"Aufenthaltsverbot

§67. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist.

(2) Ein Aufenthaltsverbot kann für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden.

(3) […]

(4) Bei der Festsetzung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes ist auf die für seine Erlassung maßgeblichen Umstände Bedacht zu nehmen. Die Frist beginnt mit Eintritt der Durchsetzbarkeit zu laufen.

(5) §59 Abs1 gilt sinngemäß."

III.              Erwägungen

1.              Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2.              Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

3.              Einen derartigen, durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt hat das Landesverwaltungsgericht Tirol §61 Abs1 FPG unterstellt. Gemäß §61 Abs1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes, mit dem in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art8 Abs2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der Beurteilung, welcher Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und damit dringend geboten ist, hat die Behörde bzw. das Verwaltungsgericht die Kriterien des §61 Abs2 FPG unter Beachtung der Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen. Der in dem angefochtenen Erkenntnis dokumentierte Abwägungsprozess entspricht diesen verfassungsgesetzlichen Vorgaben nicht:

3.1.              Der Beschwerdeführer lebte im Jahre 2014 seit 26 Jahren in Österreich und zwar seit seinem dritten Lebensjahr. Auch wenn ihm – wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt – auf Grund einer einmaligen Versäumung der Antragsfrist zur Verlängerung seines Aufenthaltstitels der absolute Schutz des §64 Abs1 Z2 FPG idF BGBl I 38/2011 vor der Ausweisung (langjähriger rechtmäßiger Aufenthalt eines als Kleinkind nach Österreich gekommenen Fremden) zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr zugute kommen konnte, so kommt dennoch dem Umstand, dass der Beschwerdeführer als Kleinkind nach Österreich gekommen ist und seither hier lebt, bei der Interessenabwägung erhebliches Gewicht zu, und zwar auch insoweit, als dieser Umstand ein Indiz dafür ist, dass von nennenswerten Bindungen an den Herkunftsstaat (als ein wichtiges Element bei der Beurteilung der Zumutbarkeit eines dauerhaften Aufenthaltes in jenem Staat) nicht mehr ohne weiteres ausgegangen werden kann. Ein gegenteiliges Ermittlungsergebnis liegt jedenfalls nicht vor, weil sich das Landesverwaltungsgericht mit dieser Frage nicht auseinandergesetzt hat.

3.2.              Darüber hinaus hat es das Landesverwaltungsgericht Tirol unterlassen, der Frage nachzugehen, welche Auswirkungen das Aufenthaltsverbot auf die Familienmitglieder des Beschwerdeführers, der nach der Aktenlage nunmehr ein drogenfreies Leben führt, insbesondere auf das Wohl des etwa vierjährigen Sohnes des Beschwerdeführer hätte, mit dem dieser im gemeinsamen Haushalt wohnt (vgl. dazu EGMR 16.4.2013, Fall Udeh, Appl. 12020/09, Z52 ff.). Dabei ist auch hinsichtlich der Beziehung zu seiner Ehefrau zu beachten, dass die Lebensgemeinschaft mit dieser nach der Aktenlage bereits seit 2003 besteht (vgl. auch dazu EGMR, Fall Udeh, Z50).

3.3.              Schließlich ist dem Landesverwaltungsgericht bei der Abwägung insofern ein (weiterer) Rechtsirrtum unterlaufen, als es die Verurteilungen des Beschwerdeführers bei der Abwägung nicht bloß im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose berücksichtigt hat, sondern ihm als das Gewicht seiner Integration mindernd ein weiteres Mal zum Nachteil gereichen ließ. Demgegenüber sind bei der unter Beachtung von Art8 Abs2 EMRK vorzunehmenden Interessenabwägung die Gründe, die für den Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienleben sprechen, jenen gegenüber zu stellen, die dagegen sprechen. Eine der gebotenen Gesamtabwägung vorgelagerte zusätzliche Schwächung oder Verstärkung einzelner Gründe infolge ausgewählter, gegenbeteiligter Gründe entspricht nicht diesem Abwägungskonzept.

3.4.              Die vom Landesverwaltungsgericht Tirol vorgenommene Interessenabwägung ist somit in gehäuftem Maße fehlerhaft; sie lässt wesentliche Aspekte, die zu Gunsten des Beschwerdeführers sprechen außer Acht und entspricht daher nicht den Anforderungen des Art8 Abs2 EMRK.

IV.              Ergebnis

1.              Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden. Das angefochtene Erkenntnis wird daher aufgehoben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2.              Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3.              Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie der Ersatz der Eingabengebühr in der Höhe von € 240,– enthalten.

4.              Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Schlagworte

Fremdenpolizei, Aufenthaltsverbot, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2015:E1884.2014

Zuletzt aktualisiert am

23.03.2015
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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