RS Vfgh 2015/3/11 E1264/2014

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Veröffentlicht am 11.03.2015
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Index

L9200 Sozialhilfe, Grundsicherung, Mindestsicherung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art15a
B-VG Art18 Abs1
Oö MindestsicherungsG §4 Abs1 Z1
MeldeG 1991 §19, §19a
Bund-Länder-Vereinbarung gemäß Art15a B-VG über eine bundesweite Bedarfsorientierte Mindestsicherung, BGBl I 96/2010 Art9 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Versagung der bedarfsorientierten Mindestsicherung mangels gewöhnlichen Aufenthalts in Oberösterreich angesichts eines Rehabilitationsaufenthalts in Niederösterreich; vertrags- und verfassungskonforme Interpretation der Regelung des Oö MindestsicherungsG über den gewöhnlichen Aufenthalt als Anspruchsvoraussetzung geboten

Rechtssatz

Keine Bedenken gegen §4 Abs1 Z1 Oö MindestsicherungsG (Oö BMSG), wonach bedarfsorientierte Mindestsicherung nur Personen geleistet werden darf, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Land Oberösterreich haben und die Voraussetzungen des §19 oder des §19a MeldeG erfüllen.

Es liegt im Wesen des Bundesstaates, ähnliche Staatsaufgaben im Rahmen der den Bundesländern verfassungsrechtlich zugemessenen Kompetenzen verschieden zu regeln. Aus diesem Grund schließt das bundesstaatliche Prinzip auch die Anwendung des Gleichheitssatzes auf das Verhältnis der Regelungen verschiedener Gesetzgeber zueinander aus (mit Judikaturhinweisen).

Der Gesetzgeber verwendet durch das Abstellen auf den gewöhnlichen Aufenthalt einen unbestimmten Gesetzesbegriff. Im vorliegenden Fall geben jedoch nicht nur die Materialien Aufschluss über den Begriffsinhalt, sondern die Rechtsordnung selbst definiert den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts an mehreren anderen Stellen (vgl etwa §66 Abs2 JN), weshalb von einem weitgehend fest umrissenen Inhalt dieses Begriffes ausgegangen werden kann.

Vereinbarungen nach Art15a B-VG verpflichten nur die Vertragsparteien und bedürfen - um die durch sie intendierten Rechtswirkungen über die Bindung der Vertragspartner untereinander hinaus zu aktualisieren - der Transformation. Sie stellen aus diesem Grund keine höherrangige Norm dar, an der etwa landesrechtliche Vorschriften gemessen werden könnten.

Unter Verweis auf die Materialien zu §4 Abs1 Z1 Oö BMSG nimmt das Verwaltungsgericht Oberösterreich an, dass der Beschwerdeführer seit seiner Unterbringung in der stationären Einrichtung seinen Lebensmittelpunkt nicht mehr in Oberösterreich, sondern nunmehr in Niederösterreich habe und deshalb auch sein gewöhnlicher Aufenthalt dort liege.

Da sich der gewöhnliche Aufenthaltsort des Beschwerdeführers vor Beginn der Rehabilitationsmaßnahme nach der Aktenlage aber unstrittig in Oberösterreich am Wohnort seiner Großmutter befunden hat und an deren Anschrift auch eine Hauptwohnsitzmeldung des Beschwerdeführers besteht, war das Verwaltungsgericht richtigerweise vor die Frage gestellt, ob der Beschwerdeführer trotz regelmäßiger Besuche bei seiner Großmutter während seines Rehabilitationsaufenthaltes seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort bzw ob er aus besonderen Gründen auch den von ihm gewählten Hauptwohnsitz in Oberösterreich verloren hat.

Denn gemäß Art9 Abs2 der Vereinbarung über eine bundesweite bedarfsorientierte Mindestsicherung trifft die Verpflichtung, Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung zu gewähren, jenes Land, in dem die Person, die Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung geltend macht, "ihren Hauptwohnsitz oder in Ermangelung eines solchen ihren gewöhnlichen Aufenthalt" hat.

Der Oö Landesgesetzgeber lässt in §4 Abs1 Z1 Oö BMSG als Anspruchsvoraussetzung zwar das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthaltsortes genügen, woraus aber vor dem Hintergrund des Art9 Abs2 der Art15a-Vereinbarung nicht der Umkehrschluss gezogen werden kann, dass der Hauptwohnsitz unbeachtlich wäre, wie auch der generelle Verweis in §4 Abs1 Z1 Oö BMSG auf §19 MeldeG (sowie - wenngleich für Obdachlose - die Verweisung auf §19a des MeldeG) erkennen lassen. Wird also die Vorschrift des §4 Abs1 Z1 Oö BMSG im Lichte des Art9 Abs2 der Vereinbarung nach Art15a B-VG vertragskonform, aber auch im Lichte des Sachlichkeitsgebotes des Gleichheitssatzes verfassungskonform interpretiert, so verbietet sich eine Auslegung in dem Sinn, dass bei Zweifeln über das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthaltsortes auch das Bestehen eines Hauptwohnsitzes für die Anspruchsgewährung nicht ausreichend ist.

Das Verwaltungsgericht Oberösterreich hat daher - abgesehen von der Verkennung der Fragestellung - §4 Abs1 Z1 Oö BMSG einen unsachlichen und damit gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt. Es hat daher auch unterlassen zu prüfen, ob allenfalls besondere Gründe dafür sprechen, dass der Beschwerdeführer trotz des wegen der Zweckbindung nur vorübergehenden Charakters des Rehabilitationsaufenthaltes in Krumbach gleichzeitig auch seinen Hauptwohnsitz nach Niederösterreich verlegen wollte.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Mindestsicherung, Wohnsitz, Bundesstaat, Bundesstaatsprinzip, Rechtsbegriffe unbestimmte, Determinierungsgebot, Vereinbarungen nach Art 15a B-VG, Auslegung verfassungskonforme

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2015:E1264.2014

Zuletzt aktualisiert am

09.11.2016
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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