Index
40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
AsylG 1997 §23;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Puck und die Hofräte Dr. Baur und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Winter, über die Beschwerde der JE in Wien, geboren am 19. April 1971, vertreten durch Mag. Dagmar Neyer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Rotenlöwengasse 16/5, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 14. Juli 1998, Zl. 200.688/0-V/13/98, betreffend § 7 Asylgesetz (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund (Bundeskanzleramt) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige von Nigeria und am 19. September 1997 in das Bundesgebiet eingereist. Am 23. September 1997 beantragte sie Asyl.
Die Beschwerdeführerin begründete ihre Flucht aus Nigeria anlässlich ihrer Einvernahme durch das Bundesasylamt im Wesentlichen damit, dass sie als Angehörige "der Volksgruppe der Ogoni" in ihrem Leben bedroht gewesen sei. Sie habe in Bodo City mit ihrem Ehemann gelebt, den sie am 20. Mai 1997 zuletzt lebend gesehen habe. Seine Leiche sei am 28. Mai 1997 "im Busch um Bodo City" aufgefunden worden. Ihr Ehemann sei vermutlich von "Anhängern rivalisierender Gruppen ermordet" worden. Ihr Mann habe nach der Ermordung "seines Anführers" gekämpft, der "Saro-Wiwa" geheißen habe. Auf Grund der in Bodo City herrschenden Stammesfehden zwischen den "Ogonis und den Okrikas" sei ihr Leben nicht mehr sicher gewesen, weshalb sie zunächst zu ihren Eltern nach Port Harcourt übersiedelt sei, wo sie bis zum 20. August 1997 gelebt habe. Sie habe sich dann nach Lagos in ein Militärlager begeben, weil auch "in Port Harcourt die Stammesfehden zwischen den Ogonis und den Okrikas" vorgeherrscht hätten. In Lagos sei sie nicht geblieben, weil auch dort "Ogonis" nicht sicher seien.
Das Bundesasylamt stellte fest, dass die Beschwerdeführerin ihr "Heimatland auf Grund der herrschenden Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Stämmen" verlassen habe und führte weiters aus, dass in den Angaben der Beschwerdeführerin keine Anhaltspunkte für eine Verfolgung aus Gründen der Genfer Flüchtlingskonvention zu erblicken seien. Auch aus dem Tod ihres Ehemannes ergebe sich nichts anderes, weil die Beschwerdeführerin "in keinster Weise aus dem Tod ihres Gatten möglicherweise erlittene Schwierigkeiten" angegeben habe. Überdies wären "aus dem Tode Ihres Gatten resultierende Schwierigkeiten, hätten Sie solche vorgebracht, in ihrem Fall irrelevant, da diese als Resultat aus Stammesfehden zu sehen sein würden".
Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Berufung. In dieser verwies die Beschwerdeführerin vor allem darauf, dass in ihrer Heimat "Sippenhaft praktiziert" werde, "um die Opposition und den Ogoni-Stamm zu schwächen und deren Angehörige einzuschüchtern. Die Praxis der Sippenhaft in Nigeria (sei in) den in- und ausländischen Medien vielfach dokumentiert." Sie habe in ihrer Einvernahme dargelegt, dass sie auch "auf Grund der politschen Aktivitäten meines Gatten" gefährdet sei. Nach weiteren rechtlichen Ausführungen, wonach dem Staat nicht nur Aktivitäten von Staatsorganen sondern auch von sonstigen Personen oder Gruppen zuzurechnen seien, wenn diese vom Staat unterstützt, gebilligt oder tatenlos hingenommen würden, brachte die Beschwerdeführerin noch vor, sie habe dargelegt, dass sie einer Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Sie könne lediglich nicht angeben, welcher "staatlichen Einheit die Verfolger angehörten". Dazu beantragte sie u. a. ihre Einvernahme im Berufungsverfahren.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 7 Asylgesetz als unbegründet ab. Von einer Einvernahme der Beschwerdeführerin sah die belangte Behörde unter Hinweis auf Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG ab, weil der Sachverhalt geklärt sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, in der Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht werden.
Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, in der Fassung des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974, (im Folgenden: FlKonv) ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. schon Steiner, Österreichisches Asylrecht (1990) 30; aus jüngerer Zeit etwa die hg. Erkenntnisse vom 27. Juni 1995, Zl. 94/20/0836; vom 24. Oktober 1996, Zl. 95/20/0231; vom 28. März 1995, Zl. 95/19/0041, u.v.a.) liegt eine dem Staat zuzurechnende Verfolgungshandlung nicht nur dann vor, wenn diese unmittelbar von staatlichen Organen aus Gründen der Konvention gesetzt wird, sondern es kann eine dem Staat zuzurechnende asylrelevante Verfolgungssituation u.a. auch dann gegeben sein, wenn der Staat nicht gewillt ist, von "Privatpersonen" ausgehende Handlungen mit Verfolgungscharakter zu unterbinden, sofern diesen - würden sie von staatlichen Organen gesetzt - Asylrelevanz zukommen sollte.
Die Behörde erster Instanz hat lediglich festgestellt, dass die Beschwerdeführerin "auf Grund der herrschenden Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Stämmen" aus Nigeria geflüchtet sei. In ihren weiteren Ausführungen ging die Behörde erster Instanz davon aus, dass die Beschwerdeführerin keine "aus dem Tod Ihres Gatten möglicherweise erlittene Schwierigkeiten" angegeben habe. Im Übrigen wären daraus resultierende Schwierigkeiten irrelevant, weil sie "als Resultat aus Stammesfehden zu sehen" seien, was aber "die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht" zu begründen vermöge. Dem hielt die Beschwerdeführerin in ihrer Berufung entgegen, dass sie auf Grund der in ihrer Heimat vorherrschenden Sippenhaftung ebenfalls mit dem Tode bedroht gewesen sei und die staatlichen Behörden die Bedrohung der "Ogonis" durch einen gegnerischen Stamm zumindest billigten.
Die belangte Behörde stellte in ihrem Bescheid entsprechend den Angaben der Beschwerdeführerin fest, dass ihr Ehemann im Mai 1997 von Unbekannten erstochen aufgefunden worden sei. Der Mann der Beschwerdeführerin habe nach der Ermordung seines Anführers "Saro Wiwa" gekämpft, "um dessen Tod zu rächen". Die Beschwerdeführerin habe ihre Heimatstadt auf Grund der dort herrschenden Stammesfehden zwischen den "Ogonis und den Okrikas" verlassen.
Der weiteren Behauptung der Beschwerdeführerin in der Berufung, wonach sie auf Grund der in Nigeria herrschenden "Sippenhaftung" in ihrem Leben bedroht gewesen sei, folgte die belangte Behörde auf Grund ihrer erstmals im Berufungsverfahren weiters getroffenen Feststellungen, wonach die Beschwerdeführerin nach dem Tod ihres Ehemannes zu ihren Eltern übersiedelt und dort mehrere Monate "unbehelligt" verblieben sei, nicht. Es sei deshalb nicht nachvollziehbar, dass sich die Beschwerdeführerin vor einer sie betreffenden Verfolgung gefürchtet habe bzw. könnten objektive Anhaltspunkte nicht festgestellt werden, die die behauptete Furcht als begründet ansehen ließen. "Hätte die Antragstellerin tatsächlich eine konkrete Verfolgungssituation auf Grund von Sippenhaftung befürchtet", dann hätte sie sich "nicht an einem Wohnort ihrer Familie/Sippe monatelang" aufgehalten, sondern sie hätte "mit Sicherheit einen anderen Aufenthaltsort gewählt". Im Übrigen habe die Beschwerdeführerin auch keine konkreten Anhaltspunkte dafür ins Treffen führen können, die eine gegen sie gerichtete "Verfolgung von massiver Eingriffsintensität" hätten belegen können.
Demnach hat die belangte Behörde die Abweisung des Asylantrages im Wesentlichen auf den im Berufungsverfahren - ohne Einbeziehung der Beschwerdeführerin im Rahmen einer mündlichen Verhandlung - erstmals herangezogenen Gesichtspunkt einer mangelhaften Glaubwürdigkeit ihrer Angaben gestützt, weil die Beschwerdeführerin im Falle des Vorliegens einer "Sippenhaftung" Nigeria sofort verlassen und nicht - wie von ihr angegeben - Zuflucht bei ihrer Familie gesucht hätte.
Diesem Argument wird in der Beschwerde unter Hinweis darauf, dass die belangte Behörde die Beschwerdeführerin entgegen ihrem Antrag im Berufungsverfahren nicht einvernommen habe, entgegengehalten, dass die Beschwerdeführerin im Falle ihrer Befragung im Berufungsverfahren hätte darlegen können, warum sie sich "drei Monate lang unbehelligt" bei ihren Eltern habe aufhalten können. Grund dafür sei gewesen, dass sie "erst durch die Heirat mit (ihrem) Gatten, Mitglied der Volksgruppe der Ogonis" geworden sei. Da ihre Eltern diesem Stamm nicht angehörten, hätte sie sich dort zunächst gefahrlos aufhalten können, zumal sie als "zusätzliche Sicherheitsmaßnahme (ihren) Mädchennamen Elechi wieder angenommen" habe.
Nach dem Art. II Abs. 2 lit. d Z 43a EGVG ist auch auf das behördliche Verfahren des unabhängigen Bundesasylsenates das AVG anzuwenden, § 67d AVG jedoch mit der Maßgabe, dass eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärt erscheint. Dies ist dann der Fall, wenn er nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens und nach schlüssiger Beweiswürdigung der Behörde erster Instanz festgestellt wurde und in der Berufung kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der Behörde erster Instanz entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt - erstmalig und mangels Bestehens eines Neuerungsverbotes zulässigerweise - neu und in konkreter Weise behauptet wird (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 11. November 1998, Zl. 98/01/0308). Eine mündliche Verhandlung ist aber auch dann durchzuführen, wenn die belangte Behörde von den Sachverhaltsfeststellungen der Behörde erster Instanz - in Widerspruch zum Vorbringen in der Berufung - abweichen und neue, entscheidungswesentliche Feststellungen zu treffen beabsichtigt.
Im vorliegenden Fall hat die Behörde erster Instanz lediglich festgestellt, dass die Beschwerdeführerin auf Grund von Stammesfehden aus Nigeria geflüchtet sei. Die belangte Behörde hätte daher angesichts ihrer über die Feststellungen der Behörde erster Instanz hinausgehenden Sachverhaltsannahmen der Beschwerdeführerin jedenfalls insoweit in einer mündlichen Verhandlung Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen, als ihre diesbezüglichen Feststellungen in Widerspruch zum Berufungsvorbringen stehen; insbesondere hätte sich die belangte Behörde näher mit den Umständen des Aufenthaltes der Beschwerdeführerin nach dem Tode ihres Mannes und ihrer damit im Zusammenhang stehenden allfälligen Bedrohung auseinander setzen müssen. Indem die Beschwerdeführerin darlegt, dass sie im Falle ihrer Einvernahme nähere Ausführungen zu den Umständen, aus denen die belangte Behörde die Unglaubwürdigkeit ihrer Bedrohung geschlossen hatte, hätte machen können und weiters anmerkt, dass sie ihre Angaben zu den Fluchtgründen noch dahingehend hätte ergänzen können, dass "die Praxis der Sippenhaftung und die willkürliche Ermordung von politisch Aktiven auch in in- und ausländischen Medien vielfach dokumentiert" sei, hat sie die Relevanz des angeführten Verfahrensmangels hinreichend dargetan.
Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die belangte Behörde bei Einvernahme der Beschwerdeführerin zu einer anderen Einschätzung der Glaubwürdigkeit ihrer Angaben und damit zu einem anderen Bescheid hätte gelangen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Hinsichtlich der zitierten Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i.V.m. der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Wien, am 21. September 2000
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2000:1998200434.X00Im RIS seit
04.12.2000