Index
32/01 Finanzverfahren allgemeines Abgabenrecht;Norm
BAO §116 Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Meinl und die Hofräte Dr. Karger, Dr. Sulyok, Dr. Fuchs und Dr. Zorn als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Doralt, über die Beschwerde des RL, gegen den Bescheid der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland (Berufungssenat IX a) vom 4. Dezember 1995, Zl. 6-94/5120/04, betreffend Wiederaufnahme hinsichtlich Einkommensteuer 1984, 1985 und 1986 sowie Einkommensteuer 1984, 1985 und 1986, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von 2.500 S binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren (Schriftsatzaufwand) wird abgewiesen.
Begründung
Der Beschwerdeführer bezog in den Streitjahren neben seinen nichtselbstständigen Einkünften als Universitätsprofessor selbstständige Einkünfte als Fachschriftsteller und Rechtsanwalt, wegen derer er gemäß § 41 Abs. 1 EStG 1972 zur Einkommensteuer veranlagt wurde. Bei der Ermittlung der Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit ging das Finanzamt dabei jeweils von den Daten der vom Dienstgeber ausgestellten Lohnzettel aus. Die demnach ermittelten Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit betrugen für das Jahr 1984 313.785 S, für das Jahr 1985 351.053 S und für das Jahr 1986 382.034 S. Auf die Einkommensteuerschuld wurden entsprechend den Lohnzetteln nach § 46 Abs. 1 Z. 2 EStG 1972 Lohnsteuerbeträge von 94.616,40 S (1984), 115.179,60 S (1985) und 126.235,20 S (1986) angerechnet.
Die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1984, 1985 und 1986, die zunächst gemäß § 200 Abs. 1 BAO als vorläufige Bescheide erlassen worden waren, wurden mit Bescheiden vom 11. Juni 1990 (1984 und 1986) und vom 15. Oktober 1990 (1985) gemäß § 200 Abs. 2 BAO für endgültig erklärt. Dabei traten in der Höhe der Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit und den anrechenbaren Lohnsteuerbeträgen keine Änderungen ein. Die Bescheide wurden rechtskräftig.
Mit einem an das Wohnsitzfinanzamt des Beschwerdeführers gerichteten Schreiben vom 21. Dezember 1987 stellte der Beschwerdeführer betreffend die bei seiner Lehr- und Prüfungstätigkeit gesondert erhaltenen Abgeltungen in Form von Kollegiengelder und Prüfungsgebühren den Antrag, diese "als sonstige Einnahmen im Sinne des § 67 EStG 1972 anzusehen, die einbehaltene Lohnsteuer dieser Änderung anzupassen und diese Beträge zur Auszahlung zu bringen". Abschließend enthielt dieses Schreiben den Hinweis, der Antrag werde zugleich beim Finanzamt für Körperschaften als Finanzamt der Betriebsstätte des Arbeitgebers eingebracht.
Mit stattgebender Berufungsvorentscheidung vom 11. Mai 1994 entschied das Finanzamt für Körperschaften als Betriebsstättenfinanzamt (vgl. § 57 Abs. 1 letzter Satz BAO) über diesen Antrag in einem Rückzahlungsverfahren nach § 240 Abs. 3 BAO dahingehend, dass u.a. für 1984 Lohnsteuer in Höhe von 7.497,91 S, für 1985 in Höhe von 8.466,54 S und für 1986 von 7.448,20 S zurückzuzahlen sei (Anm.: Diese stattgebende Berufungsvorentscheidung ist im fortgesetzten Verfahren nach dem die Berufungsentscheidung der belangten Behörde vom 2. Mai 1990, Zl. GA 5-2384/89, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufhebenden Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 22. Dezember 1993, 90/13/0152, ergangen).
In der Folge stellte das Finanzamt für Körperschaften mit 30. Juni 1994 datierte so genannte berichtigte Lohnzettel für die Jahre 1984 bis 1986 aus. Nach der Aktenlage übermittelte das Finanzamt für Körperschaften diese berichtigten Lohnzettel dem Wohnsitzfinanzamt des Beschwerdeführers mit einem Begleitschreiben vom 30. Juni 1994, in dem darauf hingewiesen wurde, dass im Zuge eines Erstattungsverfahrens gemäß § 240 Abs. 3 BAO entsprechend der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtshofes die zu viel einbehaltene Lohnsteuer für die sonstigen Bezüge zurückerstattet worden sei. Auf Grund der Neuberechnung habe sich jedoch eine höhere Überschreitung des Jahressechstels ergeben, wodurch eine Berichtigung der Lohnzettel notwendig geworden sei. Es werde ersucht auf Grund der berichtigten Lohnzettel die Veranlagungsverfahren wieder aufzunehmen.
Mit Bescheiden jeweils vom 8. August 1994 nahm das Wohnsitzfinanzamt daraufhin die Verfahren hinsichtlich der Einkommensteuer für die Jahre 1984 bis 1986 gemäß § 303 Abs. 4 BAO wieder auf. In den zugleich neu erlassenen Einkommensteuerbescheiden für die genannten Jahre wurden die Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit für das Jahr 1984 in Höhe von 329.392, für das Jahr 1985 in Höhe von 382.693 und für das Jahr 1986 in Höhe von 410.214 S festgesetzt. In der Höhe der anrechenbaren Lohnsteuer trat gegenüber den bisher erlassenen Einkommensteuerbescheiden keine Änderung ein. In einer in den Verwaltungsakten enthaltenen - undatierten - Begründung betreffend "Einkommensteuerwiederaufnahme für 1982 - 1986" ist zu lesen, das Finanzamt für Körperschaften habe die zu viel einbehaltene Lohnsteuer, die auf die sonstigen Bezüge entfallen sei, rückerstattet. Auf Grund der Neuberechnung habe sich eine höhere Überschreitung des Jahressechstels ergeben, wodurch eine Berichtigung der Lohnzettel notwendig geworden sei. Auf Grund der berichtigten Lohnzettel sei die Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen durchzuführen gewesen.
Im Berufungsschriftsatz vom 24. August 1994 und seiner Ergänzung vom 12. September 1994 verwies der Beschwerdeführer darauf, dass ein Wiederaufnahmsgrund nicht vorliege und die Vorgangsweise des Finanzamtes auch materiellrechtlich gesetzwidrig sei. Die entsprechenden Einkünfte seien dem Beschwerdeführer durch jeweils vorgelegte Lohnzettel vom Dienstgeber bestätigt worden. Ein Sachverhalt, wonach gemäß § 82 Abs. 2 EStG 1972 der Arbeitnehmer neben dem Arbeitgeber (der für die Abfuhr der Lohnsteuer hafte) herangezogen werden dürfe, liege nicht vor. Wenn in der Begründung des Finanzamtes dahin argumentiert werde, dass das Jahressechstel in einem höheren Ausmaß überschritten worden sei, als in den Lohnzetteln angeführt, handle es sich gerade um klassische Fälle, in denen der Lohnsteuerpflichtige von einer Haftung auf Grund des EStG befreit sei und die Mehrbeträge ausschließlich vom Dienstgeber zu fordern seien. "Berichtigte Lohnzettel" seien dem Beschwerdeführer außerdem nicht zugekommen. Das Lohnsteuerrückerstattungsverfahren sei schließlich nur im Wege des § 240 BAO zu führen gewesen.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung keine Folge. Zur Entscheidung betreffend Wiederaufnahme ging die belangte Behörde davon aus, dass durch den Bescheid über die Lohnsteuererstattung des Finanzamtes für Körperschaften gemäß § 240 Abs. 3 BAO die Sechstelbegünstigung gemäß § 67 Abs. 2 EStG 1972 für die später ausbezahlten sonstigen Bezüge beeinflusst worden sei. Auf Grund der Neuberechnung habe sich eine höhere Überschreitung des Jahressechstels ergeben, wodurch eine Berichtigung der Lohnzettel für die betreffenden Jahre notwendig geworden sei. Die Sechstelüberschreitung sei nach dem Tarif zu versteuern und gemäß § 41 Abs. 4 EStG 1972 in die Veranlagung einzubeziehen. Der Spruch des Bescheides über die Lohnsteuererstattung vom 11. Mai 1994 stelle eine Vorfrage im Sinne des § 303 Abs. 1 lit. c BAO dar und die Kenntnis dieser Umstände führe zu einem im Spruch anders lautenden Bescheid. Eine Vorfrage im Sinne dieser Gesetzesbestimmung liege vor, wenn der Spruch der erkennenden Behörde in der Hauptfrage erst nach Klärung einer in den Wirkungsbereich einer anderen Behörde (Gericht) oder derselben Behörde in einem anderen Verfahren fallenden Frage gefällt werden könne. Das Finanzamt für Körperschaften habe beim Erstattungsverfahren gemäß § 240 Abs. 3 BAO "über diese Frage" entschieden und sei zu einem anderen Ergebnis gelangt, als die Abgabenbehörde bei ihrer eigenständigen Beurteilung bei der Veranlagung des Beschwerdeführers. Die Klärung der Höhe der abzuführenden Lohnsteuer falle in den Wirkungsbereich des zuständigen Finanzamtes des Arbeitgebers. Dieses habe nachträglich über diese Frage anders entschieden als die Abgabenbehörde (Wohnsitzfinanzamt des Beschwerdeführers) bei ihrer vorweggenommenen eigenständigen Beurteilung der Frage. Aus diesem Grund sei das Verfahren gemäß § 303 Abs. 1 lit. c iVm § 303 Abs. 4 BAO von Amts wegen wieder aufzunehmen gewesen.
Zur "Heranziehung des Arbeitnehmers zur Haftung" wird im angefochtenen Bescheid ausgeführt, die Einschränkungen gemäß § 82 EStG 1972 seien im Veranlagungsverfahren nicht maßgebend. Bei der Veranlagung bestehe für die Behörde keine Bindung an die Feststellungen im Lohnsteuerverfahren. Auch ein fehlerhafter Lohnsteuerabzug könne im Rahmen der Veranlagung korrigiert werden (praktische Durchbrechung des Grundsatzes des § 82 Abs. 2 EStG 1972). Die dem Lohnsteuerabzug unterworfenen, ihm aber nicht unterzogenen Einkünfte dürften bei der Veranlagung zur Einkommensteuer nicht schon deshalb unberücksichtigt bleiben, weil der Arbeitnehmer im Lohnsteuerverfahren wegen der auf sie entfallenden Lohnsteuer nach § 82 Abs. 2 EStG 1972 nicht in Anspruch genommen werden könne. Die vom Regelfall abweichende, durch § 82 Abs. 2 leg. cit. vorgesehene Beschränkung der Inanspruchnahme des Arbeitnehmers als Steuerschuldner der nicht einbehaltenen und nicht abgeführten Lohnsteuer solle sich nur im Lohnsteuerverfahren auswirken, nicht aber auch im Verfahren zur Veranlagung der Einkommensteuer.
Die vom Beschwerdeführer vor dem Verfassungsgerichtshof erhobene Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid hat dieser mit Erkenntnis vom 30. September 1997, B 2/96-17, abgewiesen. Der Verfassungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 30. Jänner 1998, B 2/96-19, die Beschwerde über nachträglichen Antrag des Beschwerdeführers gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG an den Verwaltungsgerichtshof abgetreten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die - ergänzte - Beschwerde erwogen:
Nach § 303 Abs. 4 BAO ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen u.a. unter den Voraussetzungen des Abs. 1 lit. c leg. cit. zulässig. § 303 Abs. 1 lit. c BAO sieht die Wiederaufnahme vor, wenn der Bescheid von Vorfragen abhängig war und nachträglich über eine solche Vorfrage von der hiefür zuständigen Behörde (Gericht) in wesentlichen Punkten anders entschieden wurde.
Dazu ist festzuhalten, dass eine abweichende Vorfragenentscheidung nur dann einen Wiederaufnahmsgrund darstellt, wenn die Abgabenbehörde an die Entscheidung der Hauptfragenbehörde gebunden war (vgl. Ritz2, BAO, Rz 19 zu § 303 mwN). Bindungswirkung kann nur der Spruch eines Bescheides entfalten (vgl. Stoll, BAO-Kommentar, 1322). Im angefochtenen Bescheid wird ausgeführt, der Spruch des Bescheides über die Lohnsteuererstattung vom 11. Mai 1994 stelle die Vorfrage im Sinne des § 303 Abs. 1 lit. c BAO dar. Dabei übersieht aber die belangte Behörde, dass mit dem Lohnsteuererstattungsbescheid nur über die Rückzahlung bestimmter Lohnsteuerbeträge abgesprochen wurde - die im Übrigen nicht zu einer geänderten Anrechnung iSd § 46 Abs. 1 Z. 2 EStG 1972 bei der Einkommensteuerveranlagung führten - , ein Abspruch über Lohnsteuerbemessungsgrundlagen oder allfällige "Sechstelüberschreitungen" ist damit nicht erfolgt (für sich allein sind "Sechstelüberschreitungen" aus der Rückerstattung von Lohnsteuerbeträgen auch nicht zwingend abzuleiten). An sich zutreffend nimmt diesbezüglich die Begründung der erstinstanzlichen Wiederaufnahmsbescheide Bezug auf in "berichtigten" Lohnzetteln angeführte Beträge. Bei diesen nur intern erstellten Lohnzetteln handelte es sich aber zweifelsfrei nicht um bescheidmäßige Vorfragenentscheidungen im Sinne des § 303 Abs. 1 lit. c BAO. Damit hat die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid im Abspruch über die Bestätigung der Wiederaufnahmsbescheide des Finanzamtes bereits wegen fehlender tauglicher Vorfragenentscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet. Dazu kommt, dass - wie auch die belangte Behörde zutreffend feststellt - bei der Veranlagung keine Bindung an Feststellungen im Lohnsteuerverfahren besteht, vielmehr die Einkommensteuerveranlagung von einem Lohnsteuerverfahren unabhängig ist (vgl. Doralt, EStG4, § 41 Tz 3 mwN, sowie Stoll, a.a.O., 2033, der auch ausdrücklich eine fehlende Bindung an im Verfahren nach § 240 BAO ergangene Bescheide erwähnt). Das Finanzamt hat damit im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung eigenständig die bei der Veranlagung zu erfassenden Lohnbezüge - auch in Bezug auf eine vom Arbeitgeber allenfalls bisher nicht berücksichtigte "Sechstelüberschreitung" - zu ermitteln und der Besteuerung zu unterziehen, ohne dass diese Entscheidung von einer Vorfrage im Sinne des § 303 Abs. 1 lit. c BAO abhängig wäre. Auch deshalb war die Verfahrenswiederaufnahme unter Anwendung der zitierten Gesetzesbestimmung unzulässig.
Der angefochtene Bescheid ist daher in seiner Wiederaufnahmsentscheidung inhaltlich rechtswidrig. Er war somit insoweit gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das auch die Wiederaufnahmsentscheidung bekämpfende Beschwerdevorbringen weiter einzugehen war. Mit der Aufhebung der Wiederaufnahmsentscheidung verliert der ebenfalls angefochtene Sachbescheid betreffend Einkommensteuer 1984, 1985 und 1986 in den wieder aufgenommenen Verfahren seine Rechtsgrundlage und war daher ebenfalls gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Schriftsatzaufwand war nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer als Rechtsanwalt in eigener Sache eingeschritten ist, somit nicht durch einen Rechtsanwalt vertreten war (§ 49 Abs. 1 VwGG idF BGBl. I Nr. 88/1997, vgl. z.B. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 5. September 1997, SlgNr. 14.726/A).
Wien, am 22. September 2000
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2000:1998150014.X00Im RIS seit
23.01.2001