RS Vfgh 2014/11/29 B413/2013

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Veröffentlicht am 29.11.2014
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Index

16/02 Rundfunk

Norm

B-VG Art91
ORF-G §4b, §38a Abs1
EMRK Art6 Abs1 / Strafrecht
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EU-Grundrechte-Charta Art47 Abs2
VwGG §39

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Abschöpfung von Einnahmen des ORF aus dem Programmentgelt wegen Überschreitung der Grenzen des öffentlich-rechtlichen Auftrags auf Grund von Live-Übertragungen im Sport-Spartenprogramm; Abschöpfungsverfahren nicht als Strafverfahren zu qualifizieren; kein Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage im Sinne der EMRK; Regelung im Einklang mit den europarechtlichen Vorgaben des Beihilfenrechts; keine Verletzung im Recht auf eine mündliche Verhandlung im Hinblick auf die nachprüfende Kontrolle des letztinstanzlichen Bescheides durch den Verwaltungsgerichtshof

Rechtssatz

Das Vorliegen einer "strafrechtlichen Anklage" nach Art6 Abs1 EMRK ist nach der im Fall Engel beginnenden Rechtsprechung des EGMR nach der Einordnung im innerstaatlichen Recht, nach der Natur des Vergehens und nach der Art und Schwere der Strafe zu beurteilen (EGMR 23.11.1976, Fall Engel ua, Appl 5100/71 ua).

Das Abschöpfungsverfahren gem §38a ORF-G ist nach österreichischem Recht nicht als Strafverfahren zu qualifizieren. Die Anordnung der Abschöpfung von Einnahmen nach §38a ORF-G wird "unbeschadet" der Verhängung von Verwaltungsstrafen nach §38 getroffen, auf das Verfahren ist das AVG bzw das VwGVG, nicht aber das VStG anzuwenden.

Auch die Natur des Vergehens ist nicht strafrechtlich iSv Art6 EMRK. Die Bestimmung richtet sich nur an einen einzigen Rundfunkveranstalter, den ORF. Die Erläuterungen führen ausdrücklich aus, dass das im ORF-G vorgesehene Sanktionssystem dadurch zu ergänzen sei, dass nicht-pönale Konsequenzen an eine untersagte Quersubventionierung dadurch geknüpft werden, dass eine rechtswidrige Mittelverwendung rückgängig gemacht werde. Es handle sich nicht um eine Sanktion, sondern bloß um einen "actus contrarius", um eine beihilfenrechtskonforme Situation herzustellen, und es komme nicht darauf an, ob den ORF ein Verschulden treffe (Erläut zu §38a zur RV 611 BlgNR, 24. GP).

Das Instrument der Abschöpfung dient dazu, eine Verwendung von Mitteln aus Programmentgelt für kommerzielle Zwecke hintanzuhalten. Auch die Höhe des Abschöpfungsbetrags vermag die Anwendbarkeit von Art6 EMRK in strafrechtlicher Hinsicht nicht zu begründen.

Angesichts des Umstandes, dass das Abschöpfungsverfahren keine strafrechtliche Anklage iSv Art6 EMRK zum Gegenstand hat, kommt auch die Anwendbarkeit des Art91 B-VG nicht in Betracht. Ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot, den Kernbereich der Strafgerichtsbarkeit den Gerichten vorzubehalten, liegt nicht vor.

Die gesetzliche Regelung des §38a ORF-G wurde mit der ORF-G-Novelle BGBl I50/2010 eingefügt und sollte den Vorgaben aus der Kommissionsentscheidung im Beihilfeverfahren E2/2008 Rechnung tragen.

§38a Abs1 ORF-G sieht ua vor, dass bei Heranziehung von Mitteln aus dem Programmentgelt, die für Tätigkeiten jenseits des öffentlich-rechtlichen Auftrags herangezogen wurden, eine Abschöpfung in der "Höhe dieser Mittel" anzuordnen ist. Mit dieser Anordnung wird der Entscheidung der Kommission Rechnung getragen, eine Abschöpfung nur eines Teils der Mittel wäre nicht im Einklang mit dem Recht der Europäischen Union.

Zwar können die Beträge, die abgeschöpft werden, erheblich sein. Stets handelt es sich jedoch um Beträge, die dem ORF aus dem Programmentgelt zugeflossen sind und die er für Tätigkeiten außerhalb des öffentlich-rechtlichen Auftrags verwendet hat, mit der Konsequenz, dass er regelmäßig auch hiefür Einnahmen etwa aus Werbung erzielt hat. Dass eine Tätigkeit insgesamt nicht kostendeckend war und isoliert gesehen sogar zu finanziellen Verlusten des ORF geführt hat, macht die Regelung - zumal vor dem Hintergrund einer hinreichend detaillierten Definition des öffentlich-rechtlichen Auftrags insbesondere durch den im Beschwerdesachverhalt maßgeblichen §4b ORF-G - nicht verfassungswidrig.

Keine Willkür, insbesondere auch nicht im Hinblick auf die Höhe des festgesetzten Abschöpfungsbetrages.

Das Recht auf eine mündliche Verhandlung iSd Art6 Abs1 EMRK ist allein schon deshalb nicht verletzt, weil die beschwerdeführende Partei Beschwerde an den VwGH erheben konnte und dort auf Grund der mit Art6 EMRK im Einklang stehenden gesetzlichen Bestimmung des §39 VwGG die Durchführung einer mündliche Verhandlung vor einem Gericht erwirken konnte, das hinsichtlich seiner Kognitionsbefugnis für die Zwecke von Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen den Anforderungen des Art6 EMRK entspricht. Damit ist aber nicht nur gewährleistet, dass jedenfalls in der nachprüfenden Kontrolle des letztinstanzlichen Bescheides mit dem VwGH ein Gericht entscheidet, das bei verfassungskonformer Wahrnehmung seiner Zuständigkeit den Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiliches Tribunal nach Art6 EMRK genügt, sondern auch, dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art6 EMRK eine mündliche Verhandlung stattfindet.

Art47 Abs2 GRC gewährleistet ein Art6 Abs1 EMRK vergleichbares Recht auf eine mündliche Verhandlung. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob das zugrunde liegende Verfahren einen Sachverhalt betrifft, in dem die Behörden und Gerichte in Durchführung des Unionsrechts handeln (VfSlg 19632/2012).

Entscheidungstexte

  • B413/2013
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 29.11.2014 B413/2013

Schlagworte

Rundfunk, Strafrecht, Verwaltungsstrafrecht, Strafgerichtsbarkeit (Kernbereich), EU-Recht, Verhandlung mündliche, Verwaltungsgerichtshof

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2014:B413.2013

Zuletzt aktualisiert am

15.03.2016
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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