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L9200 Sozialhilfe, Grundsicherung, MindestsicherungNorm
B-VG Art18 Abs2Leitsatz
Gesetzwidrigkeit einer Bestimmung der Oö Mindestsicherungsverordnung über den festgelegten Mindeststandard für volljährige Menschen mit Beeinträchtigungen infolge Anrechnung des Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe für erheblich Behinderte; Unzulässigkeit einer Anrechnung des Erhöhungsbetrags bei der Bemessung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes auf Grund des Berücksichtigungsgebotes; verfassungskonforme Interpretation der gesetzlichen Grundlage des Oö MindestsicherungsG möglichRechtssatz
Aufhebung des §1 Abs1 Z2 der Verordnung der Oö Landesregierung über die Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung und den Einsatz der eigenen Mittel (Oö MindestsicherungsV - Oö BMSV), LGBl 75/2011 idF des ArtII LGBl 24/2013.
Die Bestimmung des §1 Abs1 Z2 Oö BMSV erfasst auch volljährige Menschen mit Beeinträchtigungen.
Dies hat zur Konsequenz, dass alleinstehende oder alleinerziehende Personen ohne Beeinträchtigungen gem §1 Abs1 Z1 Oö BMSV einen Mindeststandard iHv € 867,30 beziehen, während für alleinstehende oder alleinerziehende Personen mit Beeinträchtigungen gemäß §1 Abs1 Z2 Oö BMSV ein Mindeststandard iHv € 642,70 vorgesehen ist. Folgt man den Materialien zu §13 Abs3a Oö MindestsicherungsG (Oö BMSG), so liegt diese Differenz darin begründet, dass der Familienbeihilfebezug beeinträchtigter Personen durch Festlegung eines entsprechend verminderten Mindeststandards für beeinträchtigte Personen gemäß §1 Abs1 Z2 Oö BMSV berücksichtigt werden sollte.
Es ist dem Landesgesetzgeber nicht verwehrt, den Bezug der Familienbeihilfe bei der Bemessung von Transferleistungen, die bei der die Leistung empfangenden Person demselben Zweck wie die Familienbeihilfe dienen, zu berücksichtigen. Vor allem steht das bundesstaatliche Berücksichtigungsgebot einer solchen Regelung nicht entgegen, wenn es sich um Leistungen mit der Zweckbestimmung der gänzlichen Sicherung des Lebensunterhaltes handelt.
Die Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung dienen - gleich wie der Grundbetrag der Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag - der Sicherung des Lebensunterhaltes. Auf die Familienbeihilfe darf daher insoweit entweder schon bei der Bemessung der Mindeststandards für die Mindestsicherung oder aber auch durch Anrechnung als Einkommen Rücksicht genommen werden.
Der Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Personen gemäß §8 Abs4 FLAG 1967 dient demgegenüber aber nicht der Bestreitung des allgemeinen Lebensunterhaltes, sondern nach der Absicht des Bundesgesetzgebers der teilweisen Abgeltung behinderungsbedingten Sonderbedarfes. Das hat zur Konsequenz, dass der Oö Landesgesetzgeber im Lichte des Berücksichtigungsgebotes zwar den Grundbetrag der Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag, nicht jedoch auch den Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe bei der Bemessung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes anrechnen darf. Da der Erhöhungsbetrag nicht dem allgemeinen Zweck der Sicherung des Lebensunterhaltes, sondern der Unterstützung bei der Finanzierung behinderungsbedingter Mehraufwendungen dient, darf er vom Landesgesetzgeber allenfalls zur Beitragsleistung zur Gewährung behinderungsbedingter Zusatzleistungen herangezogen werden.
§13 Abs3a Oö BMSG kann verfassungskonform interpretiert werden: Diese Vorschrift lässt nach ihrem Wortlaut - und weil auch die Materialien keine andere Auslegung nahelegen - eine solche Differenzierung der Mindeststandards zum Lebensunterhalt zu, die nur die dem Unterhalt dienende Grundleistung der Familienbeihilfe berücksichtigt. Daraus folgt, dass §1 Abs1 Z2 Oö BMSV der Vorschrift des §13 Abs3a Oö BMSG im eben dargelegten Verständnis widerspricht: Der in der Verordnungsbestimmung ab 01.01.2013 vorgesehene Mindeststandard war nämlich um € 224,60 niedriger als jener für alleinstehende Personen ohne Beeinträchtigungen nach §1 Abs1 Z1 Oö BMSV. Damit hat diese Differenz im Jahr 2013 den Grundbetrag der Familienbeihilfe zuzüglich des Kinderabsetzbetrages um € 13,50 überstiegen, sodass in eben dieser Höhe der Erhöhungsbetrag der Familienbeihilfe in verfassungswidriger Weise auf Leistungen der bedarfsorientierten Mindestsicherung angerechnet wurde.
Die Ausführungen der Oö Landesregierung zu den European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC) und zur Vereinbarung gemäß Art15a B-VG über eine bundesweite bedarfsorientierte Mindestsicherung nehmen nicht auf die Bedenken des VfGH Bezug.
Im vorliegenden Fall wurde nicht die Zulässigkeit der Berücksichtigung des Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe bei der Erbringung behinderungsbedingter Leistungen nach dem Oö ChancengleichheitsG (Oö ChG) in Zweifel gezogen, sondern der "Vorwegabzug" auch dieses Teils der Familienbeihilfe für Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes, sodass sie für behinderungsbedingte Mehraufwendungen nicht mehr zur Verfügung steht.
§1 Abs1 Z2 Oö BMSV wurde zwar durch die Verordnung LGBl 107/2013 abgeändert, gehört jedoch mit einem auf die Vergangenheit bezogenen Geltungsbereich weiterhin dem Rechtsbestand an. Der VfGH hat daher die genannte Bestimmung als gesetzwidrig aufzuheben.
(Anlassfall B1003/2013 ua, E v 26.11.2014, Aufhebung der angefochtenen Bescheide).
Entscheidungstexte
Schlagworte
Mindestsicherung, Behinderte, Familienlastenausgleich, Berücksichtigungsprinzip, Auslegung verfassungskonforme, Vereinbarungen nach Art 15a B-VG, Geltungsbereich (zeitlicher) einer VerordnungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2014:V75.2014Zuletzt aktualisiert am
15.03.2016