RS Vfgh 2014/12/11 G18/2014

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Veröffentlicht am 11.12.2014
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Index

20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
ABGB §193 Abs2
BVG über die Rechte von Kindern Art1, Art7

Leitsatz

Aufhebung einer Regelung des ABGB über das Erfordernis eines Mindestaltersabstands von sechzehn Jahren zwischen Wahleltern und Wahlkind wegen eines Verstoßes gegen das BVG über die Rechte von Kindern; unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Kindeswohls durch die ausnahmslose und generelle Anordnung des Altersabstands ohne die Möglichkeit einer Unterschreitung in bestimmten Fällen

Rechtssatz

Aufhebung der Wortfolge "mindestens sechzehn Jahre" in §193 Abs2 ABGB idF BGBl I 15/2013.

Zulässigkeit des Antrags des OGH; Antrag nicht zu eng gefasst.

Der Einwand der Bundesregierung, dass der nach Aufhebung verbleibende Gesetzesteil einen völlig veränderten Inhalt erhielte, trifft nicht zu. Zwar fällt der Mindestaltersabstand mit der Aufhebung der angefochtenen Wortfolge weg. Es verbleibt jedoch die (jedenfalls vom Willen des Gesetzgebers unzweifelhaft erfasste) Anordnung, dass die Wahleltern älter als das Wahlkind sein müssen. Ferner hat das Gericht bei der Entscheidung über die Bewilligung der Adoption im Falle der Aufhebung der angefochtenen Wortfolge unverändert die Kriterien des §194 Abs1 ABGB anzuwenden.

Art1 des BVG über die Rechte von Kindern (BGBl I 4/2011) normiert nicht nur einen Bereich grundrechtlichen Schutzes, in den unter den Voraussetzungen des Art7 BVG über die Rechte von Kindern eingegriffen werden darf, sondern auch einen Auftrag an die Gesetzgebung und - insbesondere im Rahmen seines zweiten Satzes - an die Vollziehung, das Kindeswohl vorrangig zu wahren.

Das Kindeswohl genießt - ebenso wie der Anspruch auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung - nicht absoluten Vorrang, sondern steht unter dem Vorbehalt von nach Art7 BVG über die Rechte von Kindern zulässigen Beschränkungen. Eine gesetzliche Regelung, die zu Maßnahmen ermächtigt, welche die Entwicklung und Entfaltung und mithin das Kindeswohl beeinträchtigen können, muss zur Erreichung der in Art7 genannten Ziele notwendig sein, mithin einem dieser Ziele dienen und verhältnismäßig sein.

Der Schutz des Kindeswohls war schon bisher auf einfachgesetzlicher Ebene ein Grundsatz des Kindschaftsrechts. Mit der Verankerung auf Verfassungsebene wird er nun auch zu einem Prüfungsmaßstab und zu einer Auslegungsleitlinie für die Berücksichtigung der Interessen von Kindern und Jugendlichen in der Rechtsordnung.

Der Gesetzgeber verfügt bei der Regelung der Voraussetzungen der Adoption allgemein sowie bei der Festlegung von Altersgrenzen und Mindestaltersabständen im Besonderen über einen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum.

§193 Abs2 ABGB dient einem legitimen Ziel iSd Art7 BVG über die Rechte von Kindern. Es wird damit eine einfache und leicht handhabbare Regelung geschaffen, die Rechtssicherheit schafft und Enttäuschungen von Wahleltern hintanhält, die die Voraussetzungen (knapp) nicht erfüllen und eine negative Entscheidung erhalten. Auch dient eine Altersabstandsgrenze an sich dem Kindeswohl und damit den Rechten der betroffenen Kinder.

Ein Mindestaltersabstand von 16 Jahren ist grundsätzlich sachlich, weil er einen "Generationensprung" abbildet, mag der Altersabstand zwischen Eltern und Kindern heute im statistischen Durchschnitt größer sein bzw im Einzelfall geringfügig unterschritten werden. Eine ausnahmslose und generelle Anordnung des Altersabstands kann jedoch - wie der dem Antrag des OGH zugrunde liegende Fall zeigt - das Kindeswohl in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigen, dann nämlich, wenn ein Wahlkind längere Zeit in Familienverhältnissen gelebt hat, die einer Eltern-Kind-Beziehung sehr ähnlich sind oder gar entsprechen, und eine Adoption alleine wegen des zu geringen Altersabstands nicht bewilligt werden kann.

Eine solche Regelung schließt die Unterschreitung des Mindestaltersabstands auch dann aus, wenn das Kindeswohl die Bewilligung der Adoption geböte. In Fällen, in denen sich ein Kind bereits in einem Familienverband befindet, der durch Adoption rechtlich verfestigt werden soll, hat das grundrechtliche Schutzgut der bestmöglichen Entwicklung und Entfaltung des Kindes erhebliches Gewicht, welches durch das Gebot der Berücksichtigung des Kindeswohls als vorrangige Erwägung in Art1 letzter Satz BVG über die Rechte von Kindern verstärkt wird. Hinzu kommt, dass das Gebot eines Mindestabstands im Alter der Betroffenen anders als im Fall der Altersgrenze des §193 Abs1 ABGB nicht durch Zuwarten und Zeitablauf später erfüllt wird, sondern - zwischen denselben Beteiligten - dauerhaft unerfüllbar bleibt.

Dem steht das Interesse an Rechtssicherheit und leichter Handhabbarkeit einer absoluten Grenze gegenüber. Wenngleich auch dieses erheblich ist, zeigt die Regelung des §180 Abs2 ABGB aF, die bis zum 31.01.2013 in Geltung stand, dass die Normierung eines Mindestaltersabstands mit der Möglichkeit der Unterschreitung nach richterlichem Ermessen im Fall des Vorliegens bestimmter Voraussetzungen keineswegs eine rechtsstaatlich bedenkliche Rechtsunsicherheit oder Schwierigkeiten in der Handhabung hervorrufen muss.

In einer Gegenüberstellung der Nachteile starrer Altersgrenzen mit dem Gewicht der rechtfertigenden Gründe gelangt der VfGH zum Ergebnis, dass letztere die Schwere des Eingriffs nicht aufzuwiegen vermögen, der Eingriff mithin unverhältnismäßig ist.

Die Bestimmung des §193 Abs2 ABGB, die, ohne das konkrete Kindeswohl zu berücksichtigen, alleine auf das Erfordernis des Mindestaltersabstands von sechzehn Jahren abzielt, ohne die Möglichkeit einer Unterschreitung in bestimmten Fällen vorzusehen, verstößt daher gegen Art1 BVG über die Rechte von Kindern.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Zivilrecht, Adoption, Kindschaftsrecht, Kinder, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Prüfungsmaßstab

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2014:G18.2014

Zuletzt aktualisiert am

17.03.2016
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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