TE Vfgh Erkenntnis 2014/11/24 E35/2014 ua

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Veröffentlicht am 24.11.2014
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

AsylG 2005 §5, §10
FremdenpolizeiG 2005 §61
Dublin II-VO des Rates vom 18.02.03, EG 343/2003 Art3 Abs2, Art16
EMRK Art8

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Zurückweisung des Asylantrags und Ausweisung nach Polen; keine hinreichende Würdigung des Familienlebens

Spruch

I. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesministerin für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.877,60 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.               Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation. Der Erstbeschwerdeführer reiste gemeinsam mit seinem minderjährigen Neffen, dem Zweitbeschwerdeführer, am 23. November 2013 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte noch am selben Tag für sich und seinen Neffen, dessen gesetzlicher Vertreter er ist, Anträge auf internationalen Schutz.

2. Das Bundesasylamt richtete daraufhin am 26. November 2013 ein auf Art16 Abs1 litc der Verordnung (EG) Nr 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. 2003 L 50, S 1 (im Folgenden: Dublin II-VO) gestütztes Wiederaufnahmeersuchen an Polen. Mit Schreiben vom 27. November 2013 stimmte Polen diesem Ersuchen ausdrücklich zu.

3. Im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt gab der Erstbeschwerdeführer zu Protokoll, dass seine Eltern und seine beiden minderjährigen Kinder in Österreich leben würden, und er zu diesen auch in telefonischem Kontakt stehe; ein Treffen habe sich bislang noch nicht realisieren lassen. Der minderjährige Zweitbeschwerdeführer führte im Rahmen seiner Einvernahme aus, dass seine Eltern und Geschwister sich nach wie vor in der Russischen Föderation aufhalten würden, weshalb sein Onkel, der Erstbeschwerdeführer, das Sorgerecht für ihn habe.

4. Mit Bescheiden des Bundesasylamtes jeweils vom 13. Dezember 2013 wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz, ohne in die Sache einzutreten, gemäß §5 Abs1 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 – AsylG 2005), BGBl I 100/2005 idF BGBl I 4/2008, als unzulässig zurückgewiesen, und wurde ausgesprochen, dass für die Prüfung der Anträge gemäß Art16 Abs1 litc Dublin II-VO Polen zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurden die Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Polen gemäß §10 Abs4 AsylG 2005, BGBl I 100 idF BGBl I 38/2011, für zulässig erklärt (Spruchpunkt II.). Begründend wurde darin u.a. ausgeführt, dass die Beschwerdeführer mit den ihrerseits angeführten Familienangehörigen in Österreich nicht in gemeinsamem Haushalt leben würden bzw. auch bislang kein solcher bestanden habe. Auch bestehe weder ein finanzielles, noch ein sonstiges relevantes Abhängigkeitsverhältnis.

5. In ihren gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden brachten die Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass die minderjährigen Kinder des Erstbeschwerdeführers in Österreich aufenthaltsberechtigt seien, weil deren Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation mit Entscheidung des Asylgerichtshofes vom 1. August 2012 auf Dauer für unzulässig erklärt worden sei. Der Mutter und dem Vater des Erstbeschwerdeführers sei mit Entscheidung des Asylgerichtshofes vom selben Tag subsidiärer Schutz zuerkannt worden. Darüber hinaus würden Bruder und Schwester des Erstbeschwerdeführers als anerkannte Flüchtlinge in Österreich leben. Im Bescheid fänden sich diesbezüglich keinerlei Ausführungen bzw. werde lediglich darauf hingewiesen, dass der Erstbeschwerdeführer mit seinen minderjährigen Kindern nicht in gemeinsamem Haushalt lebe und auch keine besondere Abhängigkeit bzw. Beziehungsintensität bestehe. Dennoch ergebe sich die Pflicht zum Selbsteintritt wegen drohender Verletzung von Art8 EMRK infolge der den Erstbeschwerdeführer treffenden Zurückweisungsentscheidung, weil die minderjährigen Kinder des Erstbeschwerdeführers dessen Familienangehörige iSd Dublin II-VO seien. Gemäß der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) sei mit dem Familienbegriff des Art8 EMRK jedenfalls die Beziehung von Eltern zu deren minderjährigen Kindern umfasst, dies ohne Rücksicht auf ein tatsächliches Zusammenleben.

6. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 3. Februar 2014 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden gemäß §5 AsylG 2005, BGBl I 100 idF BGBl I 87/2012 und §61 des Bundesgesetzes über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel (Fremdenpolizeigesetz 2005 – FPG), BGBl I 100/2005 idF BGBl I 87/2012, als unbegründet ab.

Zu einer Verpflichtung Österreichs, vom Selbsteintrittsrecht nach Art3 Abs2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen bzw. einer möglichen Verletzung von Art8 EMRK führt das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers im Wesentlichen aus:

"[…]

Der EGMR bzw. die EMRK verlangen zum Vorliegen des Art8 EMRK das Erfordernis eines 'effektiven Familienlebens', das sich in der Führung eines gemeinsamen Haushaltes, dem Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines speziell engen, tatsächlich gelebten Bandes zu äußern hat […].

Der Begriff des 'Familienlebens' in Art8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Als Kriterien hierfür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern […], zwischen Geschwistern […] und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten […] anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt […]. Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert […].

Der Erstbeschwerdeführer führte familiäre Bindungen in aufsteigender sowie absteigender Linie zu seinen minderjährigen Kindern ins Treffen, welche sich aufenthaltsberechtigt in Österreich aufhalten. Hierzu ist auszuführen, dass einerseits […] der Erstbeschwerdeführer über viele Jahre hinweg auf Grund eines Gefängnisaufenthaltes und örtlicher Dislokation über keinerlei Kontakt zu den minderjährigen Kindern verfügte. Zweitens bestand zu den minderjährigen Kindern offenbar zu keinem Zeitpunkt ein gemeinsamer Haushalt; auch nicht im Herkunftsstaat sowie stellt sich der vorliegende Fall drittens als Sonderkonstellation der Gestalt dar, dass der Erstbeschwerdeführer überdies nicht zur Obsorge betreffend die minderjährigen Kinder berechtigt ist; vielmehr ist die leibliche Großmutter bzw. Mutter des Erstbeschwerdeführers zur Obsorge betreffend die minderjährigen Kinder berechtigt bzw. verpflichtet.

Besondere Berücksichtigung findet die Tatsache, dass die genannten minderjährigen Kinder des Erstbeschwerdeführers sich seit 12 Jahren (!) in Pflege und Erziehung der väterlichen Großeltern befinden und zu ihren leiblichen Eltern während dieses Zeitraumes keinerlei Kontakt bestand.

[…]

Der Erstbeschwerdeführer hat sohin – seiner Darstellung nach – sinngemäß zu keinem Zeitpunkt mit den minderjährigen Kindern im gemeinsamen Haushalt gelebt bzw. zu [deren] Unterhalt oder Erziehung beigetragen. Festzuhalten ist, dass die beiden minderjährigen Kinder in den Jahren 1997 bzw. 1999 geboren wurden und der Erstbeschwerdeführer ausdrücklich im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme angegeben hat, gar nicht zu wissen, wer überhaupt während der gesamten Jahre die Obsorge für die Kinder gehabt habe. Zum Zeitpunkt der niederschriftlichen Einvernahme des Erstbeschwerdeführers am 12.12.2013 hatte dieser die Minderjährigen überdies noch nicht einmal gesehen, lediglich habe es telefonischen Kontakt gegeben. Hervorzuheben ist im gegenständlichen Fall, dass der Erstbeschwerdeführer abgesehen vom Kleinkindalter der minderjährigen Kinder zu keinem Zeitpunkt persönlich präsent war und sich an Unterhalt, Pflege und Erziehung [nicht] beteiligt hat. Aufgrund der vorliegenden Sonderkonstellation der Familienverhältnisse ist davon auszugehen, dass von Seiten der minderjährigen Kinder überdies keine normale familiäre Nähe bzw. Bindung zum leiblichen Vater besteht […]. Die bloß in casu vorliegende biologische Verwandtschaft des Erstbeschwerdeführers zu den Minderjährigen vermag über die Tatsache, dass die Kinder de facto über keinerlei familiäre Bindung zum Vater verfügen und de facto [z]eitlebens von den Großeltern aufgezogen wurden und sich diesbezüglich enge familiäre Bindungen entwickelt haben müssen, nicht hinwegzutäuschen […]. Hinsichtlich des Erstbeschwerdeführers kann sohin insgesamt betrachtet nicht erkannt werden, dass dieser bei einer Ausweisung seiner Person nach der Republik Polen in seinen durch Art8 EMRK gewährleisteten Recht[en] beeinträchtigt ist.

[…]

Das Bundesverwaltungsgericht gelangt in diesem Verfahren somit insgesamt zu dem Ergebnis, dass im vorliegenden Fall keine Verletzung von Bestimmungen der GRC oder der EMRK zu befürchten ist. Daher bestand auch keine Veranlassung, von dem in Art3 Abs2 Dublin-Verordnung vorgesehenen Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen und eine inhaltliche Prüfung [der Anträge] auf internationalen Schutz vorzunehmen." (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)

7. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

Darin bringen die Beschwerdeführer unter anderem vor, dass der Erstbeschwerdeführer bis Juni 2000 mit seiner (damaligen) Ehefrau und den beiden Kindern in Katar-Jurt nahe Grosny im gemeinsamen Haushalt gelebt habe. Seine Tochter sei im Jahr 1997 geboren worden, sein Sohn im Jahr 1999. Im Juni 2000 sei der Erstbeschwerdeführer verhaftet worden. Ihm seien anlässlich der Festnahme Drogen untergeschoben worden, weswegen er in weiterer Folge zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden sei. Die Haftstrafe habe er in einem Gefängnis in Westsibirien, etwa 5000 km von Tschetschenien entfernt, verbüßt. Kurz nach der Inhaftierung des Erstbeschwerdeführers habe dessen damalige Ehefrau die beiden minderjährigen Kinder verlassen, um welche sich fortan die Eltern des Erstbeschwerdeführers gekümmert hätten. Während seines Gefängnisaufenthaltes habe der Erstbeschwerdeführer, soweit es ihm möglich gewesen sei, brieflich und telefonisch Kontakt mit seinen Kindern bzw. Eltern gehalten. Besuche seien nicht möglich gewesen, dies insbesondere wegen der weiten Entfernung zur Haftanstalt sowie der Gefährlichkeit und Kosten der Reise. Nach sieben Jahren Freiheitsentzug sei der Erstbeschwerdeführer enthaftet worden und habe sich umgehend zu seiner Familie begeben. In der Folge habe er gemeinsam mit seinen Kindern und Eltern in Katar-Jurt gelebt, wobei auch ein gemeinsamer Alltag stattgefunden und der Erstbeschwerdeführer an der Pflege und Erziehung der Kinder mitgewirkt habe. Tageweise sei er abwesend gewesen, weil er Gelegenheitsarbeiten auf Baustellen angenommen habe, um seine Familie finanziell zu unterstützen und für den Unterhalt der Kinder aufzukommen. In dieser Zeit sei es bereits häufig zu Hausdurchsuchungen am Wohnort der Familie gekommen und habe man des Öfteren nach dem Erstbeschwerdeführer gefragt. Im Oktober 2008 seien die Eltern des Erstbeschwerdeführers auf Grund von Problemen geflüchtet und hätten die Kinder mit sich genommen. Der Erstbeschwerdeführer habe die Flucht nicht gemeinsam mit seiner Familie antreten können, weil er lediglich bedingt aus der Haft entlassen worden sei und das Land nicht habe verlassen können. Sie hätten jedoch vereinbart, dass er nachkommen würde, sobald er die Möglichkeit dazu haben werde. Nach der Flucht seiner Eltern und Kinder habe der Erstbeschwerdeführer zu diesen nahezu täglichen Kontakt per Telefon oder Internet gehalten. Die Kinder hätten den Vater sehr vermisst. Im Jahr 2013 habe der Erstbeschwerdeführer sich endlich einen Reisepass ausstellen lassen können und gemeinsam mit seinem minderjährigen Neffen das Land verlassen. Die beiden seien zunächst nach Polen gefahren, hätten jedoch vorgehabt, von Polen aus nach Österreich zu den dort lebenden Verwandten zu gelangen.

Der angefochtenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes könne zunächst nicht zweifelsfrei entnommen werden, ob das Gericht vom Vorliegen eines Eingriffes in das Privat- und Familienleben des Erstbeschwerdeführers ausgehe. Einerseits würden "enge familiäre Anknüpfungspunkte in Form seiner Eltern, welche subsidiären Schutz genießen sowie zweier minderjähriger Kinder, deren Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet auf Dauer unzulässig ist" (vgl. Seite 6 des Erkenntnisses) festgestellt; dann würde wiederum ausgesprochen, dass "die Kinder de facto über keinerlei familiäre Bindung zum Vater" verfügen würden (vgl. Seite 13 des Erkenntnisses). Zudem habe das Bundesverwaltungsgericht seiner Entscheidung jedenfalls einen falschen Familienbegriff zugrunde gelegt bzw. im Zuge der Prüfung des Familienlebens des Erstbeschwerdeführers zu seinen beiden minderjährigen Kindern den erweiterten Familienbegriff des Art8 EMRK herangezogen. Entsprechend der Judikatur des EGMR liege jedoch grundsätzlich ein relevantes Familienleben zwischen ehelichen Kindern und deren Vater vor. Dies umso mehr, wenn – wie im Falle des Erstbeschwerdeführers – (zeitweilig) auch ein gemeinsamer Haushalt bestanden habe, welcher lediglich unfreiwillig aufgegeben worden sei. Die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach zusätzliche Umstände vorliegen müssten, um ein Familienleben zwischen Eltern und deren minderjährigen Kindern zu manifestieren, seien demnach unzutreffend. Auch das Vorliegen eines Obsorge-Beschlusses, welcher die Großeltern mit der Pflege und Erziehung der Kinder in Österreich betraue, führe keinesfalls zwingend zum Erlöschen der Eltern-Kind-Beziehung iSd Art8 EMRK (vgl. EGMR 28.5.1988, Fall Berrehab, Appl. 10730/84; 23.9.1994, Fall Hokkanen, Appl. 19823/92; 24.2.1995, Fall McMichael, Appl. 16424/90; 19.2.1996, Fall Gül, Appl. 23218/94 und 24.4.1996, Fall Boughanemi, Appl. 22070/93).

Aus der genannten Judikatur des EGMR ergebe sich auch, dass das familiäre Band zwischen einem Vater und seinem (insbesondere ehelichen) Kind derart stark sei, dass es nur unter exzeptionellen Umständen zerreißen könne. Derlei Umstände habe der EGMR in keinem der obzitierten Fälle angenommen. Selbst in einem Fall, in welchem die Trennung der Eltern bereits sechs Monate vor der Geburt des Kindes stattgefunden habe, zu keiner Zeit Unterhalt für das Kind geleistet worden sei, persönlicher Kontakt aufgrund einer Abschiebung nicht möglich gewesen sei und das Kind erst nach der Ausweisungsentscheidung des Vaters von diesem anerkannt worden sei, sei der EGMR davon ausgegangen, dass keine ausreichenden Gründe für die Annahme des Abreißens besagten familiären Bandes vorlägen.

Das Bundesverwaltungsgericht habe es verabsäumt, den zur Beurteilung einer möglichen Verpflichtung Österreichs zum Selbsteintritt wesentlichen Sachverhalt festzustellen und entsprechend zu würdigen. Es habe insbesondere keine Ermittlungen dahingehend angestellt, ob der Erstbeschwerdeführer vor seinem Gefängnisaufenthalt bzw. danach mit den Kindern in gemeinsamem Haushalt gelebt habe, ob regelmäßiger persönlicher und/oder brieflicher bzw. telefonischer Kontakt bestanden habe und ob Unterhaltszahlungen geleistet worden seien. Auch sei die Perspektive der minderjährigen Kinder des Erstbeschwerdeführers in keiner Weise berücksichtigt worden.

8. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt.

II.              Erwägungen

9. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1.1.              Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).

1.2.              Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei der Beurteilung des Familienlebens des Erstbeschwerdeführers unterlaufen:

1.3.              Nach Art3 Abs2 Dublin II-VO kann jeder Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz prüfen, auch wenn er nach den in der Dublin II-VO festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Wie der Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung festhält, kann die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes gemäß Art3 Abs2 Dublin II-VO zur Vermeidung einer sonst eintretenden Verfassungswidrigkeit geboten sein (vgl. etwa VfSlg 17.340/2004, 19.264/2010).

1.4.              Im Rahmen der Prüfung, ob Österreich zur Wahrung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte vom Selbsteintrittsrecht nach Art3 Abs2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen hat, hat das Bundesverwaltungsgericht auch zu untersuchen, ob die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes zur Vermeidung einer Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienleben gemäß Art8 EMRK geboten ist.

1.5.              Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR entsteht ein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl. EGMR 21.6.1988, Fall Berrehab, Appl. 10730/84 [Z21]; 26.5.1994, Fall Keegan, Appl. 16969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (vgl. EGMR 19.2.1996, Fall Gül, Appl. 23218/94 [Z32]). Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens iSd Art8 Abs1 EMRK, solange nicht jegliche Bindung gelöst ist (vgl. EGMR 24.4.1996, Fall Boughanemi, Appl. 22070/93 [Z33 und 35]).

1.6.              Das Bundesverwaltungsgericht geht aktenwidrig davon aus, dass zwischen dem Erstbeschwerdeführer und dessen minderjährigen Kindern kein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben besteht und begründet dies im Wesentlichen damit, dass "der Erstbeschwerdeführer über viele Jahre hinweg auf Grund eines Gefängnisaufenthaltes und örtlicher Dislokation über keinerlei Kontakt zu den minderjährigen Kindern verfügte […] und [mit] den minderjährigen Kindern offenbar zu keinem Zeitpunkt ein gemeinsamer Haushalt [bestand]; […] überdies [sei der Erstbeschwerdeführer] nicht zur Obsorge betreffend die minderjährigen Kinder berechtigt." Dabei verkennt das Bundesverwaltungsgericht, dass das familiäre Band zwischen Eltern und Kindern im Sinne der oben dargestellten Judikatur des EGMR nur unter exzeptionellen Umständen zerreißen kann und es sohin lediglich darauf ankommt, ob tatsächlich jede Verbindung zwischen Eltern(teil) und Kind gelöst wurde (EGMR, Fall Boughanemi, Z35).

1.7.              Dadurch, dass das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Beurteilung der Frage, ob Österreich zum Selbsteintritt nach Art3 Abs2 Dublin II-VO verpflichtet wäre – ausgehend von seinem Rechtsirrtum – die Umstände des konkreten Falles, insbesondere betreffend die Behauptungen des Erstbeschwerdeführers, wonach dieser im Heimatland vor und nach seines Gefängnisaufenthaltes mit seinen beiden minderjährigen Kindern im gemeinsamen Haushalt gelebt und während dieser Zeit auch maßgeblich zu deren Pflege, Erziehung und Unterhalt beigetragen habe, nicht hinreichend ermittelt bzw. aktenwidrig gewürdigt hat, wurde der Erstbeschwerdeführer in seinem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt.

1.8.              Gleiches gilt für den minderjährigen Zweitbeschwerdeführer, der gemeinsam mit seinem obsorgeberechtigten Onkel, dem Erstbeschwerdeführer, nach Österreich eingereist ist.

III.              Ergebnis

10. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

11. Das angefochtene Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

12. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

13. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag in Höhe von € 218,– sowie Umsatzsteuer in Höhe von € 479,60 enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Ausweisung, Privat- und Familienleben, Ermittlungsverfahren, EU-Recht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2014:E35.2014

Zuletzt aktualisiert am

16.01.2015
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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