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62/01 ArbeitsmarktverwaltungNorm
B-VG Art11 Abs2Leitsatz
Aufhebung einer Bestimmung des AlVG über den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Beschwerden gegen Bescheide einer Geschäftsstelle des AMS und von Vorlageanträgen mangels Erforderlichkeit einer vom VwGVG abweichenden RegelungRechtssatz
Aufhebung des §56 Abs3 AlVG idF des Verwaltungsgerichtsbarkeits-AnpassungsG - Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, BGBl I 71/2013, wegen Verstoßes gegen Art136 Abs2 dritter Satz B-VG.
§58 Abs2 und Abs3 VwGVG kann kein Regelungsgehalt dahingehend entnommen werden, dass durch diese Bestimmungen alle vor Inkrafttreten des VwGVG kundgemachten verwaltungsgerichtsverfahrensrechtlichen Regelungen von vorneherein vom Kodifikationsgebot des Art136 Abs2 B-VG ausgenommen und insoweit von der Prüfung am Erforderlichkeitsmaßstab dieser Verfassungsbestimmung freigestellt sein sollen (vgl E v 08.10.2014, G83/2014 ua).
Die angefochtene Bestimmung weicht von den in §13 und §15 VwGVG getroffenen Regelungen ab, die grundsätzlich die aufschiebende Wirkung von Beschwerden vorsehen.
Nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers und dem Wortlaut des Art136 Abs2 B-VG entspricht das Kriterium, dass durch Bundes- oder Landesgesetz Regelungen über das Verfahren der Verwaltungsgerichte getroffen werden können, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sind, jenem des Art11 Abs2 letzter Halbsatz B-VG. Vom VwGVG abweichende Regelungen - wie die angefochtene - dürfen daher nur dann getroffen werden, wenn sie zur Regelung des Gegenstandes "unerlässlich" sind (vgl zu Art11 Abs2 B-VG die Rechtsprechung beginnend mit VfSlg 8945/1980).
Der VfGH verkennt nicht, dass im Arbeitslosenversicherungsrecht zweifellos eine besonders große Zahl von Verfahren und Beschwerden von den zuständigen Behörden und dem Bundesverwaltungsgericht zu bewältigen ist.
Ebenso anerkennt der VfGH, dass mit dem in der angefochtenen Bestimmung grundsätzlich vorgesehenen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung den in der Praxis bestehenden Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Einbringung allenfalls unberechtigt empfangener Geldleistungen begegnet werden soll.
Der Gesetzgeber hat bei Schaffung der Bestimmung das Interesse der Versichertengemeinschaft, die Einbringlichkeit von (vermeintlich) zu Unrecht gewährten Leistungen an den einzelnen Versicherten ohne Zuwarten auf eine rechtskräftige Entscheidung im Falle der Bekämpfung eines Bescheides besonders stark gewichtet.
Trotz dieser für sich genommen erheblichen Gesichtspunkte entspricht die Regelung nicht dem Kriterium der Erforderlichkeit iSd Art136 Abs2 B-VG, weil sie dem Rechtsstaatsprinzip und dem daraus abgeleiteten Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes insoweit widerspricht, als sie dem Interesse des einzelnen Versicherten, nicht generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung so lange belastet zu werden, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist, nicht hinreichend Rechnung trägt.
Insbesondere lässt es die angefochtene Bestimmung nicht zu, die berührten öffentlichen Interessen mit den Interessen von Verfahrensparteien abzuwägen.
Die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung hängt überdies nach dem Wortlaut der angefochtenen Bestimmung davon ab, dass die Behörde eine Beschwerdevorentscheidung (§14 VwGVG) erlässt. Nach §14 Abs1 VwGVG steht es der Behörde in Verfahren über Beschwerden gemäß Art130 Abs1 Z1 B-VG (Bescheidbeschwerden) frei, eine Beschwerdevorentscheidung zu treffen. Den Parteien des Verwaltungsverfahrens steht ein subjektives Recht auf Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung nicht zu. Sieht die Behörde aber von der Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung ab, so bleibt der Versicherte auch bei offensichtlichen Fehlern im behördlichen Verfahren mit den negativen Folgen derselben belastet, bis eine endgültige Erledigung seines Rechtsschutzgesuchs vorliegt.
Ausspruch gem Art140 Abs7 zweiter Satz B-VG, dass die aufgehobene Bestimmung nicht mehr anzuwenden ist.
Entscheidungstexte
Schlagworte
Arbeitslosenversicherung, Verwaltungsgerichtsverfahren, Wirkung aufschiebende, Rechtsstaatsprinzip, Rechtsschutz, Verwaltungsverfahren, Rechte subjektive, Bedarfskompetenz, BedarfsgesetzgebungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2014:G74.2014Zuletzt aktualisiert am
15.03.2016