RS Vfgh 2014/10/8 G97/2013

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Veröffentlicht am 08.10.2014
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Index

L9480 Bestattung, Friedhof, Leichenbestattung, Totenbeschau

Norm

B-VG Art140 Abs1 Z1 litc
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
Wr Leichen- und BestattungsG §10 Abs1
EMRK Art8, Art14
EMRK 1. ZP Art1
StGG Art5
ABGB §16

Leitsatz

Abweisung des - zulässigen - Individualantrags auf Aufhebung einer Bestimmung des Wr Leichen- und BestattungsG über die verpflichtende Unterbringung von Leichen in einer Leichenkammer einer Bestattungsanlage; kein unverhältnismäßiger Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben; kein Verstoß gegen das Gleichheitsrecht; Verfügungsrecht über den eigenen Leichnam kein vermögenswertes Privatrecht

Rechtssatz

Zulässigkeit des Individualantrags auf Aufhebung der Wortfolge "einer Bestattungsanlage" in §10 Abs1 Wr Leichen- und BestattungsG - WLBG, LGBl 38/2004 idF LGBl 29/2013.

Es ist das höchstpersönliche Recht eines (noch lebenden) Menschen, Verfügungen über seinen Leichnam zu treffen. Diese sind Ausfluss seines über den Tod hinauswirkenden Persönlichkeitsrechtes gemäß §16 ABGB und sind im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Vorschriften und der guten Sitten zu treffen. Die angefochtene öffentlich-rechtliche Vorschrift des §10 Abs1 WLBG sieht die Unterbringung eines Leichnams in einer Leichenkammer einer Bestattungsanlage vor. Sie beschränkt die Gestaltungsfreiheit der Antragstellerin und greift damit in die Sphäre ihres Persönlichkeitsrechts ein.

Wegen §10 Abs1 WLBG ist es der Antragstellerin zu Lebzeiten nicht möglich, die über den Zeitpunkt ihres Todes hinaus wirksame Verfügung zu treffen, dass ihr Leichnam nicht in einer Leichenkammer einer Bestattungsanlage untergebracht werde. Daher ist der Eingriff auch bereits jetzt aktuell.

Das Argument der Wr Landesregierung, dass hinsichtlich der Bestattung ohnehin Gestaltungsfreiheit bestehe, geht ins Leere, weil es im vorliegenden Fall nicht um die Gestaltung der Trauerzeremonie, sondern um die Unterbringung der Leiche vor Beginn der Aufbahrung bzw Trauerzeremonie geht.

Anfechtungsumfang nicht zu eng gewählt; kein zumutbarer Umweg.

Kein Widerspruch zu Art8 EMRK.

Vor dem Hintergrund der Judikatur des EGMR (vgl EKMR 10.03.1981, Fall X gegen Bundesrepublik Deutschland, Appl 8741/79; EGMR 17.01.2006, Fall Elli Poluhas Dödsbo, Appl 61564/00; EGMR 21.01.2014, Fall Sisman, Appl 46352/10; ua) besteht kein Zweifel, dass im vorliegenden Fall, in dem es um eine Rechtsvorschrift geht, die die Verwirklichung des Wunsches einer Lebenden, im Fall ihres Todes ihren Leichnam nicht in einer Leichenkammer einer Bestattungsanlage unterzubringen, unmöglich macht, ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verbürgte Recht auf Privatleben gegeben ist.

Der behauptete Eingriff ist hier gesetzlich vorgesehen. Das gesetzliche Gebot, dass eine Leichenkammer Teil einer Bestattungsanlage sein muss, dient zweifellos auch dem legitimen Ziel, Gefahren für das Leben und die Gesundheit Dritter abzuwehren.

Der Eingriff in das Privat- und Familienleben ist auch verhältnismäßig: Wegen der von Leichen ausgehenden möglichen Gesundheitsgefahren einerseits und aus Gründen der Pietät andererseits hat der Gesetzgeber bei der Organisation und Gestaltung des Leichen- und Bestattungswesens ein besonderes Maß an Sorgfalt und Umsicht walten zu lassen. Das bedeutet, dass er - der Judikatur des EGMR entsprechend - einen weiten Gestaltungsspielraum in diesem Bereich hat. Vor dem Hintergrund, dass das WLBG den Normunterworfenen einen großen Freiraum bei der Errichtung von Bestattungsanlagen und Privatbegräbnisstätten, bei der Aufbewahrung von Urnen, bei der Art der Bestattung, bei der Gestaltung der Trauerzeremonie und der Modalitäten der Beerdigung sowie letztlich bei der Gestaltung der einzelnen Gräber einräumt, ist es nicht unverhältnismäßig, wenn der Gesetzgeber die Unterbringung von Leichen nach Vornahme der Totenbeschau bis zum Beginn der Trauerzeremonie nur in der Leichenkammer einer - rechtlich auch möglichen privaten - Bestattungsanlage gestattet. Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung die ihm unter den gegebenen Umständen von der Verfassung gesetzten Schranken des Art8 EMRK nicht überschritten.

Eine Verletzung des Art14 EMRK ist im vorliegenden Fall ausgeschlossen, da das WLBG nicht nach persönlichen Eigenschaften (Geschlecht, Rasse etc) differenziert. Die Anknüpfung des §1 WLBG an "Leichen der in Wien verstorbenen oder tot aufgefundenen Personen" verwendet ein rein sachbezogenes Kriterium, welches nicht unter die Generalklausel des "sonstigen Status" fällt .

Der VfGH ist auf die Erörterung der im Antrag geltend gemachten Bedenken beschränkt. Es ist ihm daher verwehrt, ein erstmals in einem späteren Verfahrensschritt vorgetragenes Bedenken wahrzunehmen.

Kein Verstoß gegen das Gleichheitsrecht.

Aus dem Argument, dass in anderen Bundesländern die Unterbringung der Leichen auch in Leichenkammern möglich sei, die nicht Teil einer Bestattungsanlage seien, ist unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes nichts zu gewinnen, liegt es doch in der Natur eines Bundesstaates, dass sich die einzelnen landesrechtlichen Regelungen voneinander unterscheiden.

Die angefochtene Wortfolge ist auch für sich allein betrachtet nicht unsachlich.

Angesichts der mit einem geordneten Leichen- und Bestattungswesen verbundenen öffentlichen Interessen kommt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Dass dieser überschritten worden wäre, ist nicht erkennbar. Ob die Regelung zweckmäßig ist und das Ergebnis in allen Fällen als befriedigend empfunden wird, kann nicht mit dem Maß des Gleichheitssatzes gemessen werden.

Das höchstpersönliche Recht eines (noch lebenden) Menschen, die hier in Rede stehenden Verfügungen über seinen Leichnam zu treffen, ist kein vermögenswertes Privatrecht.

Der Vermögenswert eines Rechts bzw einer Rechtsposition ist für den Begriff des Eigentums iSd Art5 StGG (Art1 1. ZPEMRK) konstitutiv. Da dem Verfügungsrecht über den eigenen Leichnam kein Vermögenswert entspricht, ist Art5 StGG (Art1 1. ZPEMRK) als verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab für die angefochtene Regelung nicht anwendbar.

Die übrigen im Antrag behaupteten finanziellen Auswirkungen stellen lediglich wirtschaftliche Reflexwirkungen dar, sie betreffen nicht die Rechtssphäre der Antragstellerin.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Leichen- und Bestattungswesen, Privat- und Familienleben, Rechtspolitik, Bundesstaatsprinzip, Eigentumseingriff, VfGH / Individualantrag, VfGH / Bedenken

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2014:G97.2013

Zuletzt aktualisiert am

14.03.2016
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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