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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
EMRK Art8Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens infolge verfassungswidriger Überprüfung der Aufhebung des faktischen AbschiebeschutzesSpruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Entscheidungen im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) verletzt worden.
Die Entscheidungen werden aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 1.106,40 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführer sind armenische Staatsangehörige. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind beide 1967 geboren. Der 1994 geborene Drittbeschwerdeführer und der 2004 geborene Viertbeschwerdeführer sind die gemeinsamen Kinder des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin. Sie (und ein weiterer, am nunmehrigen Verfahren nicht mehr beteiligter Sohn des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin) stellten erstmals am 2. September 2006 Anträge auf internationalen Schutz.
2. Diese Anträge wurden vom Bundesasylamt (in der Folge: BAA) mit Bescheid vom 3. Dezember 2007 sowohl hinsichtlich der Gewährung des Status von Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch von subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gleichzeitig wurden die Beschwerdeführer nach Armenien ausgewiesen (Spruchpunkt III). Die dagegen an den Unabhängigen Bundesasylsenat erhobenen Berufungen wurden vom Asylgerichtshof als Beschwerden weiterbehandelt und mit Entscheidung vom 19. Oktober 2011 abgewiesen. Diese Entscheidung wurde mit der Zustellung am 28. Oktober 2011 rechtskräftig.
3. Am 18. November 2011 stellten die Beschwerdeführer bei der Bezirkshauptmannschaft Hallein Anträge auf Erteilung einer "Rot-Weiß-Rot-Karte plus" gemäß §41 Abs9 NAG. Diese Anträge wurden letztlich mit im Instanzenzug ergangenen Bescheiden der Bundesministerin für Inneres vom 27. Juni 2012 abgewiesen. Die dagegen an den Verwaltungsgerichtshof erhobenen Beschwerden blieben erfolglos.
4. Am 11. Juli 2012 stellten die Beschwerdeführer neuerlich Anträge auf internationalen Schutz. Als einzigen Grund gaben sie übereinstimmend an, dass der Drittbeschwerdeführer im Oktober 2012 18 Jahre alt und damit in Armenien wehrpflichtig werde. Ihm drohe ein lebensgefährlicher Einsatz in der Krisenregion Bergkarabach. Weiters legten sie detailliert ihre Integration in Österreich dar.
5. Mit mündlich verkündeten Bescheiden des BAA vom 20. Juli 2012 wurde der faktische Abschiebeschutz gemäß §12a Abs2 des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl I 100/2005 idF BGBl I 38/2011, aufgehoben und der Akt gemäß §41a Abs1 leg.cit. dem Asylgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt.
6. Mit den angefochtenen Entscheidungen erklärte der Asylgerichtshof die Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes jeweils für rechtmäßig. In der Begründung verwies er auf die gegen die Beschwerdeführer bestehenden rechtskräftigen Ausweisungen. Die Beschwerdeführer würden ihre Folgeanträge auf Gründe stützen, die bereits im Erstverfahren vorgelegen seien. Daher stehe die Rechtskraft der Erstentscheidung dem zweiten Antrag entgegen. Somit seien die Folgeanträge voraussichtlich zurückzuweisen. Bereits im ersten Verfahren sei ausgesprochen worden, dass die Beschwerdeführer keiner realen Gefahr einer Verletzung von Art2 oder 3 EMRK oder des 6. oder 13. ZPEMRK ausgesetzt wären oder für sie als Zivilpersonen eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes bestehen würde. Auch im zweiten Verfahren vor dem BAA sei keine solche Bedrohung hervorgekommen. Die Lage im Herkunftsstaat habe sich im Vergleich zu der in der Entscheidung über den Erstantrag festgestellten Situation nicht zum Nachteil der Beschwerdeführer verändert.
7. Gegen diese Entscheidungen richtet sich die vorliegende, auf den früheren Art144a B-VG gestützte und nunmehr nach Art144 B-VG in der am 1. Jänner 2014 in Kraft getretenen Fassung zu behandelnde Beschwerde, in der eine Verletzung im Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art2 StGG, Art7 Abs1 B-VG), auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 BVG rassische Diskriminierung), auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG), auf Unterbleiben von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Art3 EMRK) und auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) sowie eine Verletzung in Rechten wegen Anwendung baugesetzwidriger Verfassungsbestimmungen geltend gemacht wird.
8. Der Asylgerichtshof legte die Akten der Asylverfahren vor und beantragt die Abweisung der Beschwerde. Von der Erstattung einer Gegenschrift sah er ab.
II. Rechtslage
Die §§12a und 41a AsylG 2005 in der oben angeführten Fassung lauteten auszugsweise:
"Faktischer Abschiebeschutz bei Folgeanträgen
§12a. […]
(2) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§2 Abs1 Z23) gestellt und liegt kein Fall des Abs1 vor, kann das Bundesasylamt den faktischen Abschiebeschutz des Fremden aufheben, wenn
1. gegen ihn eine aufrechte Ausweisung besteht oder eine Rückkehrentscheidung erlassen wurde,
2. der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen ist, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist, und
3. die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung keine reale Gefahr einer Verletzung von Art2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur Konvention bedeuten und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
[…]
Überprüfung der Aufhebung des faktischen Abschiebeschutzes
§41a. (1) Eine Entscheidung des Bundesasylamtes, mit der der faktische Abschiebeschutz eines Fremden aufgehoben wurde (§12a Abs2), ist vom Asylgerichtshof unverzüglich einer Überprüfung zu unterziehen. Das Verfahren ist ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden. §40 gilt sinngemäß. §66 Abs2 AVG ist nicht anzuwenden.
(2) Die Aufhebung des Abschiebeschutzes gemäß §12a Abs2 und eine aufrechte Ausweisung sind mit der Erlassung der Entscheidung gemäß §12a Abs2 durchsetzbar. Mit der Durchführung der die Ausweisung umsetzenden Abschiebung ist bis zum Ablauf des dritten Arbeitstages ab Einlangen der gemäß §22 Abs10 zu übermittelnden Verwaltungsakten bei der zuständigen Gerichtsabteilung des Asylgerichtshofes zuzuwarten. Der Asylgerichtshof hat das Bundesasylamt unverzüglich vom Einlangen der Verwaltungsakten bei der zuständigen Gerichtsabteilung und von der im Rahmen der Überprüfung gemäß Abs1 getroffenen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes zu verständigen.
(3) Über die Rechtmäßigkeit der Aufhebung des Abschiebeschutzes im Rahmen der Überprüfung gemäß Abs1 hat der Asylgerichtshof binnen acht Wochen zu entscheiden."
III. Erwägungen
1. Soweit die Beschwerdeführer die Baugesetzwidrigkeit der früheren Art129c und 132a B-VG behaupten, ist auf VfSlg 18.613/2008 zu verweisen, wo der Verfassungsgerichtshof in den Bestimmungen über die Einrichtung des Asylgerichtshofes keine Gesamtänderung der Bundesverfassung (Art44 Abs3 B-VG) gesehen hat. Auch sonst sind aus Anlass des Beschwerdefalles keine Bedenken gegen die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Rechtsvorschriften entstanden.
2. Ein Eingriff des Asylgerichtshofes in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die den Eingriff verfügende Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruhte oder wenn der Asylgerichtshof bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn der Asylgerichtshof einen so schweren Fehler begangen hätte, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn er der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hätte (vgl. VfSlg 16.657/2002 und 19.357/2011 mwN).
3. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Asylgerichtshof in den angefochtenen Entscheidungen dadurch unterlaufen, dass er im Rahmen der gemäß §41a Abs1 iVm §12a Abs2 Z3 AsylG 2005 vorzunehmenden Prüfung von Grundrechtsverletzungen durch eine Abschiebung eine Überprüfung im Hinblick auf Art8 EMRK gänzlich unterlassen hat.
IV. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführer sind somit durch die angefochtenen Entscheidungen in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
2. Die angefochtenen Entscheidungen sind daher aufzuheben.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Der zugesprochene Betrag enthält Umsatzsteuer in Höhe von EUR 184,40. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil den Beschwerdeführern Verfahrenshilfe gewährt wurde und sie somit von der Entrichtung dieser Gebühr befreit waren.
Schlagworte
Asylrecht, Ausweisung, Privat- und FamilienlebenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2014:U1939.2012Zuletzt aktualisiert am
05.11.2014