TE Vwgh Erkenntnis 2014/8/21 Ro 2014/11/0044

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Veröffentlicht am 21.08.2014
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
67 Versorgungsrecht;

Norm

AVG §37;
VOG 1972 §1 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl, Mag. Samm sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde des S Ö in W, vertreten durch Dr. Romana Zeh-Gindl, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Franz-Josefs-Kai 5/10, gegen den Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten beim Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom 9. Oktober 2013, Zl. 41.550/175- 9/13, betreffend Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird im Umfang seines Abspruches über den Ersatz des Verdienstentganges und der Heilfürsorge in Form der Übernahme der Kosten für eine psychotherapeutische Krankenbehandlung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Im Übrigen wird die Revision als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit im Instanzenzug angefochten Bescheid der Bundesberufungskommision für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten vom 9. Oktober 2013 wurden Anträge des Revisionswerbers vom 22. November 2011 auf Ersatz des Verdienstentganges gemäß § 1 Abs. 1 und 3, § 3 sowie § 10 Abs. 1 des Verbrechensopfergesetzes (VOG), auf Heilfürsorge in Form der Übernahme der Selbstbehaltkosten für einen Rehabilitationsaufenthalt und der Übernahme der Kosten für eine psychotherapeutische Krankenbehandlung gemäß § 1 Abs. 1, § 4 Abs. 2 und 5 und § 10 Abs. 1 VOG, auf Zahnersatz im Wege der orthopädischen Versorgung gemäß § 1 Abs. 1, § 5 Abs. 1 und § 10 Abs. 1 VOG sowie auf Zuerkennung der Pflegezulage gemäß § 1 Abs. 1, § 6 sowie § 10 Abs. 1 VOG, abgewiesen.

Begründend führte die Bundesberufungskommission aus, im Bescheid der Erstbehörde, des Bundessozialamtes, vom 2. Jänner 2013 würden die Angaben des Revisionswerbers wie folgt zusammengefasst:

"Lt. seinen Angaben sei (der Revisionswerber) während des Aufenthaltes im NÖ Landesjugendheim X vom 7.1.1992 bis 9.7.1994 Opfer von Gewalt geworden. Er habe regelmäßig Ohrfeigen mit der flachen Hand erhalten, sei an den Haaren und Ohren gezogen und etwa fünf Mal in einer Putzkammer eingesperrt worden, wobei er dort bis zu zwei Stunden ausharren musste. Weiters sei er mit Fäusten geschlagen worden. Am Wochenende habe er grundlos keinen Ausgang bekommen. Eine Erzieherin habe ihn zur Mittagszeit in einer Ecke stehen lassen, er habe kein Mittagessen erhalten. Auch sei er durch rassistische Äußerungen gedemütigt worden."

Im Sachverständigengutachten vom 14. März 2013, welches für die bis 30. April 2015 erfolgte Weitergewährung der befristeten Invaliditätspension herangezogen worden sei, werde als Hauptursache der Minderung der Erwerbsfähigkeit "psychische Verhaltensstörung durch multiplen Substanzgebrauch" diagnostiziert.

Die im erstinstanzlich Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten Dris. C (einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie) und von Mag. W (einer klinischen Psychologin) vom 22. Juni 2012 wurden von der Bundesberufungskommission zusammengefasst wie folgt wiedergegeben:

"Klinisch- psychologische Beurteilung:

Die vorliegende gemischte Persönlichkeitsstörung (emotional instabil-dissozial) ist nicht mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit überwiegend (mehr als 50%) auf die möglichen schädlichen Ereignisse der Jahre 1992-1994 zurückzuführen.

Die angegebene Gesundheitsschädigung ist als anlagebedingt anzusehen, wobei der angegebene Alkoholabusus, der Drogenmissbrauch, die Spielsucht etc. als Teil der Erkrankung und nicht als darauf zurückzuführen anzusehen ist.

Die akausale Persönlichkeitsstörung ist

-

nicht durch das schädigende Ereignis ausgelöst und dadurch auch kaum verschlimmert worden

-

die Störung wäre auch ohne schädigende Ereignisse aufgetreten, d.h. sie war ja vor dem Heimaufenthalt bereits vorhanden.

Die Erwerbsunfähigkeit ab 12/2011 ist nicht als kausal anzusehen.

Beim AW ist heute grundsätzlich keine Pflegebedürftigkeit

mehr feststellbar.

Psychiatrische Beurteilung:

Diagnosen:

1.

Gemischte Persönlichkeitsstörung (Borderline)

2.

Reaktiv depressive Verstimmung, recidivierend, mit psychotischem Erleben

              3.              Alkoholabhängigkeit, derzeit versuchsweise seit 1 Woche abstinent

4.

Spielsucht, derzeit versuchsweise seit 1 Woche spielfrei

5.

Drogenabhängigkeit und Polytoxicomanie

Es mag schon glaubhaft sein, dass der Antragsteller im Heim Repressalien und Traumatisierungen ausgesetzt war, aber es bestehen Zweifel, dass dies kausal zu einer Schädigung der Persönlichkeit geführt hat.

Die Persönlichkeitsstörung ist mit Sicherheit konstitutionell bedingt und war auch, wie dies hinlänglich aus dem Akt ersichtlich ist, vorbestehend und hat ja dazu geführt, dass er zu Hause nicht haltbar war, sodass die Eltern eine Heimunterbringung veranlassten. Die Persönlichkeitsstörung ist also nicht als kausal anzusehen.

Die angegebenen Gesundheitsschädigungen sind verursacht durch eine vorbestehende gemischte Persönlichkeitsstörung mit abhängigen, unreifen, delinquenten und affektiven Anteilen, sowie mangelnder sozialer Kompetenz. Diese Störungen sind als nicht kausal anzusehen.

Persönlichkeitsstörungen bestehen meist das Leben hindurch, erfahren Besserung, wenn intensiv daran gearbeitet wird, oft nur teilweise. Manchmal durch Nachreifen durch den natürlichen Alterungsprozess. In verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen wird 'Persönlichkeitsstörung' als ein cerebraler Defekt angesehen und mit "moral insanity" beschrieben.

Die Persönlichkeitsstörung wird als anlagebedingt angesehen und wurde durch das angegebene schädigende Ereignis nicht wesentlich beeinflusst. Die Persönlichkeitsstörung, die sich in verschiedenen störenden Verhaltensauffälligkeiten zeigt wie Drogensucht, Alkoholsucht, Spielsucht, sozial auffälligem Verhalten, Arbeitsunlust und mangelnder Unterordnungsfähigkeit, hat sich über all die Jahre negativ weiter entwickelt und wäre auch ohne die als traumatisierend erlebte Heimunterbringung aufgetreten.

Die Erwerbsunfähigkeit ist nicht als kausal zu bewerten. Es ist derzeit auch als unwahrscheinlich anzusehen, dass mit einer Erwerbsfähigkeit gerechnet werden kann. Die Persönlichkeitsstörung ist tiefgreifend und hat bis jetzt trotz medikamentöser, therapeutischer und auch stationärer psychosomatischer Behandlung keine dauernde Besserung gezeigt. Pflegebedürftigkeit besteht nicht."

Begründend wurde weiters ausgeführt, die Bundesberufungskommission stütze sich bei ihrer Beurteilung auf das im Berufungsverfahren eingeholte Aktengutachten Dris. C., welches sie mit dem eingeholten Aktengutachten von Mag. W zusammengefasst wie folgt wiedergab:

"Klinisch- psychologische Beurteilung:

Da mein Gutachten nicht auf Basis der Heimberichte der Erzieher entstand, wird diesbezüglich auch keine Stellungnahme abgegeben.

Nicht nur Dr. R beschreibt 2012, dass ihr die Umstände im Heim nicht bekannt waren, auch Dr. E, der den BW von 1987 bis 2000 behandelte, schreibt im Bericht vom 27.12.2011 nicht einmal gewusst zu haben, dass der BW im Heim untergebracht war. Ein Befundbericht von Dr. M, der angeblich die Symptome einer Misshandlungstat bereits diagnostiziert hat, wird nicht nachgereicht.

Die FLAG-Gutachten bzw. das HVG-Gutachten stehen nicht im Widerspruch zu meinen getroffenen Einschätzungen bezüglich Kausalität der psychischen Erkrankung.

Im Gegensatz zu meinem Gutachten geht Dr. S davon aus, dass die geschilderten Heimerlebnisse den Tatsachen entsprechen und sie gemeinsam mit den belastenden familiären Umständen zu der psychischen Störung geführt haben. Ich konnte bezüglich der schädigenden Heimerlebnisse lediglich von der Möglichkeit des Vorliegens ausgehen, da wie ausgeführt bestätigende Unterlagen nicht vorliegend sind. Wie Dr. S zu seiner Conclusio kommt, d.h. ob er den Angaben des BW einfach Glauben schenkte bzw. im Gegensatz zu mir bestätigende Unterlagen vorgelegt bekam, kann meinerseits nicht beantwortet werden.

Ich kann nicht von einem Verbrechen ausgehen, für das keine objektiven Beweise vorliegen, die Möglichkeit alleine ist nicht ausreichend, zumal die psychische Erkrankung des BW allenfalls genetisch bedingt bzw. noch getriggert durch die schwierigen intrafamiliären Beziehungen entstanden sein kann.

Für meine Ausführungen spricht, dass fast alle im Akt aufliegenden ärztl. Befundberichte zwar eine sehr schwierige intrafamiliäre Beziehung v.a. mit dem Vater, jedoch nicht die vom BW beschriebenen Vorfälle im Heim beschreiben. Überdies geben einige behandelnde Ärzte des BW u.a. Dr. E bzw. Dr. R sogar dezidiert an, keinerlei Wissen über Misshandlungen im Heim gehabt zu haben.

Somit können die angegebenen Gewalttaten im Heim nicht als wahrscheinlich angenommen werden bzw. sind diese Angaben im Hinblick auf den Krankheitsverlauf nicht wahrscheinlicher als meine Conclusio, dass die psychische Erkrankung anlagebedingt ist. Die Aussage, dass die Angaben des BW glaubhaft sind, stammen nicht von meinem Gutachten.

Psychiatrische Beurteilung:

Zum Berufungsvorbringen:

Es wurde nie Zweifel daran gezogen, dass der BW im Heim diskriminierenden, schädigenden, traumatischen Erlebnissen ausgesetzt war. Dies wurde im Gutachten auch nicht bezweifelt. Aber es geht in der Beurteilung darum, ob die Traumata durch den Heimaufenhalt 'wesentlich' an den Störungen des BW, also zu mehr als 50 % kausal verantwortlich zu machen seien. Dies kann aus nervenfachärztlicher und auch in Kenntnis der Entwicklungspsychologie eben nicht eine Änderung der Beurteilung bedingen.

Die entwicklungspsychologischen Zeiten der Persönlichkeitsentwicklung umfassen verschiedene Stadien. Die wesentlichen frühkindlichen Stadien umfassen Urvertrauen versus Misstrauen, Autonomie versus Scham und Zweifel, Werkssinn versus Minderwertigkeitsgefühl um dann in das Stadium der Adoleszenz zu kommen. Die Entwicklung der Persönlichkeit hört naturgemäß nie auf, besteht bis zum Tod. Aber die frühen Phasen sind entscheidend für die Entwicklung und Prägung.

Beim BW werden ausführlich die frühkindlichen Auffälligkeiten und Probleme seiner Persönlichkeit beschrieben. Dass die negativen Heimerfahrungen nicht zu einer Verbesserung beigetragen haben, ist unbestritten. Aber eben nicht hauptsächlich und nicht zu mehr als 50%.

Herr Dr. S schreibt in seinem Psychologischen Befund vom 23.1.2013 in seiner Zusammenfassung auch, dass 'der Klient im Rahmen einer massiv belasteten, familiären Vorgeschichte, einer im Heim durch Gewalterlebnisse traumatisierten Jugendlichenzeit sowie einem bis heute bestehenden schädlichen Gebrauch von psychotropen

Substanzen sowie pathologischem Spielen ... ein multiples

krankheitswertiges Störungsbild aufwies, das in Summe einer in sämtlichen Lebensbereichen auftretenden nicht näher bezeichenbaren Persönlichkeitsstörung entsprechen dürfte.'

Dieser Befund bestätigt unsere Einstufung, dass vorbestehend auf Grund der 'massiv belastenden familiären Vorgeschichte' eine Persönlichkeitsstörung vorliegt. Und die beschriebenen Missbrauchsverhaltensweisen in Form von Alkoholismus und pathologischem Spielen, sowie Konsum von Drogen kann nicht ursächlich auf den Heimaufenthalt zurückgeführt werden. Zum Teil ja, aber eben nicht hauptsächlich und 'wesentlich'.

Das Verbrechen wird unverändert nicht als alleinige Ursache angesehen.

Dagegen spricht, dass vorbestehend zu viele Indizien dafür sprechen, dass die familiäre Situation und wahrscheinlich auch genetische, sogenannte konstitutionelle Faktoren für die Persönlichkeitsstörung verantwortlich zu machen sind.

Das Leiden hat sich durch den Heimaufenthalt sicher verschlimmert, jedenfalls nicht gebessert.

Wiewohl die Angaben durchaus als glaubhaft zu werten sind, lassen sie es nicht zu, den Heimaufenthalt und die dort erlittenen Traumata als überwiegend ursächlich anzusehen für die Schwierigkeiten, einem regelmäßigen Erwerb nachzugehen."

Das Ergebnis der Beweisaufnahme sei dem Revisionswerber gemäß § 45 Abs. 3 AVG zur Kenntnis gebracht. Einwände seien nicht erhoben worden.

Nach Wiedergabe der maßgeblichen Rechtsvorschriften des VOG führte die Bundesberufungskommission noch aus, die eingeholten ärztlichen Sachverständigengutachten Dris. C seien schlüssig und nachvollziehbar, sie wiesen keine Widersprüche auf. Deren Inhalt sei auch im Rahmen des Parteiengehörs unbeeinsprucht zur Kenntnis genommen worden. Es sei basierend auf dem im Rahmen persönlicher Untersuchungen erhobenen klinischen Befund sowie den vorgelegten und eingeholten medizinischen Beweismitteln, auf die Art der Leiden, deren Ausmaß und die Kausalität ausführlich eingegangen worden.

Die vorgelegten Beweismittel ständen nicht im Widerspruch zum Ergebnis des eingeholten Sachverständigenbeweises, vielmehr werde darin auf die negativen Einflussfaktoren vor und nach der Heimunterbringung eingegangen.

Die Angaben des Revisionswerbers konnten "nicht über den erstellten Befund hinaus objektiviert" werden.

Das Berufungsvorbringen sei nicht geeignet, die gutachterliehe Beurteilung, wonach keine Gesundheitsschädigung hätte festgestellt werden können, welche überwiegend auf die angeschuldigten Ereignisse zurückzuführen seien, zu entkräften. Das Sachverständigengutachten Dris. C sei daher in freier Beweiswürdigung der Entscheidung zu Grunde gelegt worden.

Die Beurteilung von Frau Mag. W werde nicht für die Beurteilung herangezogen, weil diese auf der unzulässigen Annahme beruhe, dass die vom Revisionswerber vorgebrachten Anschuldigungen betreffend den Heimaufenthalt in Zweifel zu ziehen seien.

Der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nach sei für die Auslegung des Begriffes "wahrscheinlich" der allgemeine Sprachgebrauch maßgebend. Wahrscheinlichkeit sei gegeben, wenn erheblich mehr für als gegen das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 1 Abs. 1 Z 1 VOG spreche. Diesen Grad der geforderten Wahrscheinlichkeit hätten die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nicht begründen können.

Die "angeschuldigten" Ereignisse träten als Ursache für die festgestellten psychiatrischen Gesundheitsschädigungen gegenüber der vorbestehenden gemischten Persönlichkeitsstörung, der massiv belasteten familiären Vorgeschichte und dem schädlichen Gebrauch von psychotropen Substanzen in den Hintergrund.

Der geltend gemachte Verdienstentgang, die Selbstbehaltskosten für einen Rehabilitationsaufenthalt und der psychotherapeutische Behandlungsbedarf würden somit nicht überwiegend durch eine Handlung nach § 1 Abs. 1 VOG verursacht.

Pflege- bzw. Hilfsbedarf im Sinne des § 6 VOG in Verbindung mit § 18 KOVG 1957 liege nicht vor.

Der Antrag auf Zahnersatz im Wege der orthopädischen Versorgung sei nicht nachvollziehbar. Es werde weder ein konkretes Vorbringen dazu erstattet noch seien Unterlagen vorgelegt worden.

Weder nach dem AVG noch dem VOG sei die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwingend vorgesehen. Im Rahmen des Parteiengehörs habe der Berufungswerber die Möglichkeit sich zu äußern, eventuelle Einwände zu erheben oder neue Beweismittel vorzulegen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich vorliegende Revision.

Das Bundesverwaltungsgericht legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, nahm aber von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen erwogen:

1.1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Verbrechensopfergesetzes, BGBl. Nr. 288/1972, idF BGBl. I Nr. 71/2013, lauten (auszugsweise):

"Kreis der Anspruchsberechtigten

§ 1. (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie

1. durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder

...

und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre

Erwerbsfähigkeit gemindert ist.

...

(3) Wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit ist Hilfe nur zu leisten, wenn

1. dieser Zustand voraussichtlich mindestens sechs Monate dauern wird oder

2. durch die Handlung nach Abs. 1 eine schwere Körperverletzung (§ 84 Abs. 1 StGB, BGBl. Nr. 60/1974) bewirkt wird.

...

Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges

§ 3. (1) Hilfe nach § 2 Z 1 ist monatlich jeweils in Höhe des Betrages zu erbringen, der dem Opfer durch die erlittene Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung (§ 1 Abs. 3) als Verdienst oder den Hinterbliebenen durch den Tod des Unterhaltspflichtigen als Unterhalt entgangen ist oder künftighin entgeht. …

...

Heilfürsorge

§ 4. (1) Hilfe nach § 2 Z 2 ist nur für Körperverletzungen und Gesundheitsschädigungen im Sinne des § 1 Abs. 1 zu leisten. Opfer, die infolge einer Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1 eine zumutbare Beschäftigung, die den krankenversicherungsrechtlichen Schutz gewährleistet, nicht mehr ausüben können, sowie Hinterbliebene (§ 1 Abs. 4) erhalten Heilfürsorge bei jeder Gesundheitsstörung.

(2) Die Hilfe nach § 2 Z 2 hat,

1. wenn das Opfer oder der Hinterbliebene einer gesetzlichen Krankenversicherung unterliegt, freiwillig krankenversichert ist oder ein Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung besteht, der zuständige Träger der Krankenversicherung,

2. sonst die örtlich zuständige Gebietskrankenkasse zu erbringen. Die im § 2 Z 2 angeführten Leistungen gebühren in dem Umfang, in dem sie einem bei der örtlich zuständigen Gebietskrankenkasse Pflichtversicherten auf Grund des Gesetzes und der Satzung zustehen.

Für Schädigungen im Sinne des § 1 Abs. 1 zu entrichtende gesetz- und satzungsmäßige Kostenbeteiligungen einschließlich Rezeptgebühren sind nach diesem Bundesgesetz zu übernehmen.

...

(5) Erbringt der Träger der Krankenversicherung auf Grund der Satzung dem Opfer oder dem Hinterbliebenen einen Kostenzuschuß für psychotherapeutische Krankenbehandlung infolge einer Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1, so sind die Kosten für die vom Träger der Krankenversicherung bewilligte Anzahl der Sitzungen, die das Opfer oder der Hinterbliebene selbst zu tragen hat, bis zur Höhe des dreifachen Betrages des Kostenzuschusses des Trägers der Krankenversicherung zu übernehmen. Eine Kostenübernahme bis zum angeführten Höchstausmaß erfolgt auch, sofern der Träger der Krankenversicherung Kosten im Rahmen der Wahlarzthilfe erstattet.

...

Orthopädische Versorgung

§ 5. (1) Hilfe nach § 2 Z 3 ist nur für Körperverletzungen und Gesundheitsschädigungen im Sinne des § 1 Abs. 1 zu leisten. Opfer, die infolge einer Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1 eine zumutbare Beschäftigung, die den krankenversicherungsrechtlichen Schutz gewährleistet, nicht mehr ausüben können, sowie Hinterbliebene (§ 1 Abs. 4) erhalten orthopädische Versorgung bei jedem Körperschaden.

...

Pflegezulagen und Blindenzulagen

§ 6. Ist ein Opfer infolge einer Handlung im Sinne des § 1 Abs. 1 so hilflos, dass es für lebenswichtige Verrichtungen der Hilfe einer anderen Person bedarf, so ist ihm nach Maßgabe des § 18 des Kriegsopferversorgungsgesetzes 1957 eine Pflegezulage zu gewähren. ...

...

Beginn und Ende der Hilfeleistungen, Rückersatz und Ruhen

§ 10. (1) Leistungen nach § 2 dürfen nur von dem Monat an erbracht werden, in dem die Voraussetzungen hiefür erfüllt sind, sofern der Antrag binnen zwei Jahren nach der Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung (§ 1 Abs. 1) bzw. nach dem Tod des Opfers (§ 1 Abs. 4) gestellt wird. Wird ein Antrag erst nach Ablauf dieser Frist gestellt, so sind die Leistungen nach § 2 Z 1, 2, 3 bis 7 und 9 mit Beginn des auf den Antrag folgenden Monates zu erbringen. Bei erstmaliger Zuerkennung von Ersatz des Verdienst- und Unterhaltsentganges ist von Amts wegen auch darüber zu entscheiden, ob und in welcher Höhe eine einkommensabhängige Zusatzleistung zu gewähren ist. Anträge auf Leistungen gemäß § 4 Abs. 5 unterliegen keiner Frist.

..."

1.2. Die vorliegende Revision ist gemäß § 4 Abs. 1 erster Satz VwGbk-ÜG zulässig, weil der angefochtene Bescheid noch vor dem 31. Dezember 2013 zugestellt wurde und die Beschwerdefrist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war. Für die Behandlung der Revision gelten gemäß § 4 Abs. 5 leg. cit. die Bestimmungen des VwGG in der bis zum Ablauf des 31. Dezember 2013 geltenden Fassung sinngemäß.

2. Die Revision ist im Ergebnis - teilweise - begründet.

2.1. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass sich der Revisionswerber vom festgestellten Sachverhalt entfernt, wenn er in der Revision behauptet, er sei im Zeitraum der Heimunterbringung zwischen 11 und 14 Jahre alt gewesen. Aus seinen Angaben im Antrag und den vorgelegten Heimunterlagen ist zweifelsfrei zu erkennen, dass der Revisionswerber von 7. Jänner 1992 bis 9. Juli 1994 im Landesjugendheim X gewesen und in diesem Zeitraum sohin (im Hinblick auf die im Akt erliegende Kopie der Geburtsurkunde des Revisionswerbers) ca. 13 ½ bis 16 Jahre alt gewesen ist. Der Revisionswerber hat diese Feststellungen auch in seiner Berufung nicht bestritten.

2.2. Der Revisionswerber bringt zusammengefasst vor, er sei nicht nur mit der flachen Hand, sondern auch mit der Faust geschlagen worden. Selbst die belangte Behörde sei davon ausgegangen, dass sich die Persönlichkeitsstörung durch das schädigende Ereignis verschlimmert habe. Zudem hätte eine psychologische Exploration des Revisionswerbers durchgeführt werden müssen, um so seine Verhaltenssymptomatik zu erkennen. Es könne nicht sein, dass eine anlagebedingte Erkrankung von vornherein eine weitere Traumatisierung durch ein Ereignis im Landesjugendheim X ausschließe. Jede Demütigung und jeder körperliche Schlag stelle eine Beeinträchtigung einer Person dar. Ein entsprechendes schuldhaftes Verhalten über einen Zeitraum von mehr als 2 ½ Jahren hindurch sei daher sehr wohl geeignet, eine Traumatisierung eines Jugendlichen massiv herbeizuführen. Bei einer mündlichen Verhandlung hätte der Revisionswerber ausführen können, wie sehr er unter dem Verhalten der Erzieher bis heute leide, aufgrund des mangelnden Selbstwertgefühles sei es zu Drogen und Alkoholabhängigkeit gekommen. Persönlichkeitsstörungen wie Drogensucht, Alkoholsucht und Spielsucht seien keinesfalls anlagebedingt sondern durch Erziehung, Umfeld und Lebensumstände bedingt. Der Revisionswerber habe niemals behauptet, dass das Verhalten der Erzieher die alleinige Ursache für seine gemischte Persönlichkeitsstörung sei. Nur im Rahmen einer genauen psychologischen Exploration und einer entsprechenden mündlichen Verhandlung zur Ablegung einer Parteienaussage, hätte sich das Ausmaß der Verschlechterung durch die Heimerlebnisse ergeben. Es reiche nicht aus, dass Indizien dafür sprechen, dass die familiäre Situation für die Persönlichkeitsstörung verantwortlich gewesen sein solle.

2.3.1. Festzuhalten ist, dass aus dem angefochtenen Bescheid nicht ersichtlich ist, welchen Sachverhalt die belangte Behörde ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt hat. Die belangte Behörde trifft im angefochtenen Bescheid keine Feststellungen zu den von ihr so genannten "angeschuldigten" Vorfällen.

Es fehlen insbesondere konkrete Feststellungen zum Beginn, zur Dauer, zur Häufigkeit und zur Art der behaupteten Misshandlungen im Landesjugendheim X. Auch der Verwaltungsakt bietet hiezu keinen hinreichenden Aufschluss. So schildert der Revisionswerber zB in der dem Antrag beigelegten Niederschrift, aufgenommen am 12. August 2011 beim Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, er hätte von einem nähergenannten Lehrer "7 Brusthämmer" bekommen, er habe Ohrfeigen bekommen und sei an den Haaren und Ohren gezogen worden. Um welche Handlungen es sich dabei konkret gehandelt hat, vor allem auch in welcher Intensität und unter welchen Begleitumständen sie stattgefunden hätten, ist nicht erkennbar. Es wurden hiezu auch keine weiteren Ermittlungen gepflogen.

Darüber hinaus finden sich - obwohl in der Begründung des angefochtenen Bescheides darauf Bezug genommen wird - keine Feststellungen (Beginn, Dauer, Häufigkeiten, Art der Handlung) zu den vom Revisionswerber an mehreren Stellen im Verwaltungsakt angedeuteten Misshandlungen durch seinen Vater und seiner "frühkindlichen Auffälligkeiten und Probleme" sowie der "massiv belastenden familiären Vorgeschichte". Ebenso fehlen Feststellungen zu dem in der Begründung herangezogenen Suchtverhalten (Alkohol, Drogen, pathologisches Spielen) des Revisionswerbers.

Wie die Sachverständigen angesichts des Fehlens konkreter Angaben zu der Beurteilung gelangen konnten, die Gesundheitsschädigung des Revisionswerbers sei nicht kausal auf "Misshandlungen" im Landjugendheim X zurückzuführen bzw. diese seien nicht geeignet gewesen, in relevanter Weise die Gesundheitsschädigung des Revisionswerbers zu verschlechtern (sodass eine Hilfeleistung nach dem VOG notwendig wäre), sondern vielmehr auf anlagebedingte und konstitutionelle Faktoren zurückzuführen, ist nach den bisherigen Darlegungen nicht schlüssig nachvollziehbar. Die belangte Behörde war zwar nicht gehalten, die mögliche Ursache für eine psychische Erkrankung des Revisionswerbers zu finden, sie hätte aber nachvollziehbar zu begründen gehabt, weshalb die von ihr für gegeben erachtete psychische Erkrankung des Revisionswerbers nicht kausal auf eine Handlung iSd § 1 Abs. 1 VOG zurückzuführen ist (vgl. hiezu das hg. Erkenntnis vom 21. November 2013, Zl. 2011/11/0217) bzw. durch eine solche Handlung nicht derart wesentlich verschlimmert wurde, dass ein Anspruch auf Hilfeleistung nach dem VOG in Betracht kommt. Eine solche Einschätzung kann aber nur vorgenommen werden, wenn die belangte Behörde einwandfreie und umfassende Feststellungen zu den vom Revisionswerber behaupteten Vorfällen trifft. Sofern die belangte Behörde ihre Beurteilung auf andere mögliche Vorfälle oder Faktoren stützt, die die Gesundheitsschädigung des Antragstellers ausgelöst oder wesentlich verschlimmert haben können, hat sie auch zu diesen einwandfreie und umfassende Feststellungen zu treffen.

2.3.2. Vor dem Hintergrund dieser fehlenden Feststellungen ist es auch nicht nachvollziehbar, wie die Sachverständigengutachten und die belangte Behörde zu dem Ergebnis gelangt sind, dass - vor anderen möglichen - anlage- und konstitutionell bedingte Faktoren überwiegen und für die Gesundheitsschädigung des Revisionswerbers verantwortlich sein sollten; dies auch vor dem Hintergrund, dass es keine Feststellungen zum Ausmaß oder zur Art der Misshandlungen durch den Vater des Revisionswerbers, zu den "frühkindlichen Auffälligkeiten und Problemen" und der Suchtproblematik des Revisionswerbers gibt. Welche Umstände oder Vorfälle, die vor oder nach dem in Rede stehenden Misshandlungen im Landesjugendheim X stattgefunden haben, einen unbedenklichen Rückschluss auf eine anlage- oder konstitutionell bedingte gemischte Persönlichkeitsstörung des Revisionswerbers zulassen, ist nicht nachvollziehbar.

2.3.3. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass sich die belangte Behörde auf zwei von ihr unter einem zusammengefasst wiedergegebene Gutachten einer Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und einer klinischen Psychologin gestützt hat, die miteinander in der Beantwortung der Frage, ob der Revisionswerber den von ihm geschilderten Erlebnissen ausgesetzt war, nicht übereinstimmen.

Es ist freilich von vornherein nicht die Aufgabe der herangezogenen Gutachter, diesbezüglich eine Beweiswürdigung vorzunehmen, diese wäre vielmehr von der Behörde den Gutachtern als Ausgangsprämisse für die Gutachtenserstellung vorzugeben gewesen. Der angefochtene Bescheid ist auch in dieser Hinsicht mit einem Verfahrensfehler behaftet.

2.4. Zu den Anträgen auf Heilfürsorge in Form der Übernahme der Selbstbehaltskosten für einen Rehabilitationsaufenthalt, auf Zuerkennung der Pflegegeldzulage und auf Zahnersatz im Wege der orthopädischen Versorgung hat der Revisionswerber schon im Verwaltungsverfahren kein substantiiertes Vorbringen erstattet bzw. auch keine Unterlagen vorgelegt, die einen Ersatz dieser Hilfeleistungen zum Zeitpunkt der Antragstellung nach dem VOG rechtfertigen würden. Die belangte Behörde hat keinen Pflegedarf des Revisionswerbers festgestellt; dies wurde von ihm auch im gesamten Verwaltungsverfahren nicht bestritten. Im vorgelegten Verwaltungsakt finden sich auch keine Hinweise, die einen Zahnersatz im Wege der Hilfeleistung nach dem VOG rechtfertigen würden.

2.5. Der angefochtene Bescheid war aus diesen Erwägungen hinsichtlich seines Abspruches über den Ersatz des Verdienstentganges und der Heilfürsorge in Form der Übernahme der Kosten für eine psychotherapeutische Krankenbehandlung gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und lit. c VwGG aufzuheben. Hinsichtlich der Anträge auf Heilfürsorge in Form der Übernahme der Selbstbehaltskosten für eine Rehabilitationsaufenthalt, auf Zuerkennung der Pflegegeldzulage und auf Zahnersatz im Wege der orthopädischen Versorgung war die Revision hingegen gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

3. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 50, VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 21. August 2014

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2014:RO2014110044.J00

Im RIS seit

06.10.2014

Zuletzt aktualisiert am

07.10.2014
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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