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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Asylantrags russischer Staatsangehöriger und Ausweisung nach Polen wegen unrechtmäßiger Verneinung des Vorliegens eines schützenswerten Familienlebens mit in Österreich aufhältigen Familienangehörigen und unzureichender InteressenabwägungSpruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtene Entscheidung in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Die Entscheidung wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.139,20 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, wobei der Erstbeschwerdeführer der Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin ist und die Dritt- und Viertbeschwerdeführer deren Kinder (im Alter von vier und zwei Jahren) sind. Die Beschwerdeführer brachten – nachdem sie zuvor in Polen Asylanträge stellten – am 26. Mai 2013 die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz ein. Ihre Anträge in Österreich begründeten sie damit, dass die gesamte Familie der Zweitbeschwerdeführerin in Österreich lebe. So seien ihre Mutter sowie ihre Brüder anerkannte Flüchtlinge, ihre Schwester verfüge über eine Aufenthaltsgenehmigung, ihr Vater sei Asylwerber. Weiters brachten die Beschwerdeführer vor, dass die Zweitbeschwerdeführerin psychische Probleme habe – sie habe Angstzustände, sei nervös, leide unter Schlafstörungen sowie Krampfanfällen; ihr Sohn, der zweijährige Viertbeschwerdeführer, leide unter Epilepsie. Auf Grund dieser Umstände seien die Beschwerdeführer auf die Unterstützung der Familie der Zweitbeschwerdeführerin dringend angewiesen. Die Asylanträge in Polen hätten sie nur gestellt, weil sie von der dortigen Polizei aufgegriffen worden seien. Auf Grund der familiären Anknüpfungspunkte sei ihr Ziel von Anfang an Österreich gewesen.
2. Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 19. Juli 2013 wurden die Anträge gemäß §5 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl I 100 idF BGBl I 38/2011, als unzulässig zurückgewiesen, wurde ausgesprochen, dass Polen gemäß Art16 Abs1 litc der Verordnung (EG) Nr 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (in der Folge: Dublin-II-VO) zur Prüfung der Anträge zuständig sei und wurden die Beschwerdeführer gemäß §10 Abs1 Z1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen. In seiner Begründung führt das Bundesasylamt die vor der Einreise nach Österreich in Polen erfolgte Asylantragstellung der Beschwerdeführer sowie die Zustimmung Polens, die Beschwerdeführer wiederaufzunehmen, an. Art3 EMRK bzw. Art8 EMRK relevante Umstände, die einer Ausweisung entgegenstünden, werden vom Bundesasylamt nicht festgestellt.
3. In ihrer dagegen erhobenen Beschwerde bekräftigen die Beschwerdeführer, dass sie aufgrund der psychischen Probleme der Zweitbeschwerdeführerin sowie des Gesundheitszustandes des Viertbeschwerdeführers – dieser sei im Juli 2013 in einem niederösterreichischen Landesklinikum aufhältig gewesen und mit einer antiepileptischen Therapie behandelt worden – die Unterstützung der Familienangehörigen der Zweitbeschwerdeführerin brauchten. Es bestehe intensiver Kontakt und die Familie unterstützten die Beschwerdeführer in vielen Belangen des täglichen Lebens sowie bei der Kinderbetreuung. In Polen hätten die Beschwerdeführer keinerlei Familienangehörige.
4. Mit der nunmehr angefochtenen Entscheidung bestätigt der Asylgerichtshof die Entscheidung des Bundesasylamtes. Nach Ansicht des Asylgerichtshofes bestehe keine Veranlassung, von dem in Art3 Abs2 Dublin-II-VO vorgesehenen Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen: Die gesundheitlichen Beschwerden der Zeitbeschwerdeführerin und des Viertbeschwerdeführers wiesen "keinesfalls jene besondere Schwere auf", die eine Abschiebung nach Polen als eine unmenschliche Behandlung iSd Art3 EMRK erscheinen ließe. Ebenso bestehe zwischen der Zweitbeschwerdeführerin und ihren in Österreich aufhältigen Familienangehörigen kein nach Art8 EMRK schützenswertes Familienleben, weil keine "über die üblichen Bindungen zwischen Familienangehörigen hinausgehende[…] Nahebeziehung" vorliege. Selbst wenn man von einem schützenswerten Familienleben ausginge, würde eine entsprechende Interessenabwägung ergeben, dass der Eingriff auf Grund des öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremden- und Asylwesen "notwendig und verhältnismäßig wäre". Der Zweitbeschwerdeführerin sei es nicht gelungen, eine besondere Beziehungsintensität zu ihren in Österreich lebenden Verwandten überzeugend darzulegen: Nach ihren eigenen Angaben im Rahmen der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 10. Juli 2013 sei sie seit ihrer Ankunft in Österreich (i.e. am 26. Mai 2013) lediglich dreimal von ihren Verwandten besucht worden und habe von diesen € 300,– sowie Bekleidung für die Kinder erhalten. Es lägen auch sonst keine Hinweise für eine besondere Integration vor.
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf Gleichbehandlung aller Fremden untereinander behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt wird.
Begründend wird dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass die Entscheidung des Asylgerichtshofes einen wesentlichen Begründungsmangel aufweise, welcher letztlich einen Verstoß gegen das Willkürverbot darstelle. Dies deshalb, weil keine umfassende Auseinandersetzung des Asylgerichtshofes mit der Tatsache der in Österreich lebenden Verwandten der Zweitbeschwerdeführerin stattgefunden habe und dabei insbesondere der Aspekt des psychischen Zustands der Zweitbeschwerdeführerin bzw. der Gesundheitszustand des Viertbeschwerdeführers völlig außer Acht gelassen worden sei. Gerade diese Umstände seien jedoch ausschlaggebend dafür, dass die Beschwerdeführer ganz besonders auf die Unterstützung ihrer Familienangehörigen angewiesen seien.
6. Das gemäß Art151 Abs51 Z7 B-VG an die Stelle des die Entscheidung erlassenden Asylgerichtshofes tretende Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, sah von der Erstattung einer Gegenschrift ab und beantragt die Abweisung der Beschwerde.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn der Asylgerichtshof dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).
Ein willkürliches Verhalten des Asylgerichtshofes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher Fehler ist dem Asylgerichtshof unterlaufen:
3.1. Der Asylgerichtshof gelangt zu der Auffassung, dass "in Ermangelung einer über die üblichen Bindungen zwischen Familienangehörigen hinausgehenden Nahebeziehung" kein schützenswertes Familienleben iSd Art8 Abs1 EMRK vorliege. Dabei verkennt er, dass es für das Bestehen eines Familienlebens zwischen Eltern und (erwachsenen) Kindern iSd Art8 EMRK nicht darauf ankommt, dass ein hinreichend stark ausgeprägtes Naheverhältnis besteht, sondern darauf, ob jede Verbindung gelöst wurde (s. VfGH 12.3.2014, U1904/2013 und die dort angeführte Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte; zum Bestehen eines Familienlebens iSd Art8 EMRK zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern s. auch VfSlg 18.441/2008 und 18.499/2008). Nach den Ermittlungsergebnissen kann jedoch von einer Lösung jeder Verbindung nicht ausgegangen werden.
3.2. In der Folge erweist sich die in eventualiter durchgeführte Interessenabwägung iSd Art8 EMRK, weil diese von der vom Asylgerichtshof zu Unrecht vertretenen Auffassung geprägt ist, dass kein Eingriff in ein schützenswertes Familienleben vorliege, als unzureichend.
3.3. Der Asylgerichtshof lässt dabei insbesondere das Beschwerdevorbringen völlig außer Acht: Er ignoriert das Vorbringen im Zusammenhang mit den gesundheitlichen Beschwerden der Zweitbeschwerdeführerin und des Viertbeschwerdeführers – in beiden Fällen wurden Bestätigungen eines niederösterreichischen Landesklinikums vorgelegt, denen zufolge die Zeitbeschwerdeführerin wegen Hyperventilation in Folge einer Belastungsreaktion stationär aufgenommen wurde und der Viertbeschwerdeführer wegen Fieber- und Krampfanfällen stationär aufgenommen und mit einer antiepileptischen Therapie behandelt wurde; folglich setzt sich der Asylgerichtshof nicht mit der Frage auseinander, inwieweit die gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu einer höheren Schutzwürdigkeit des Familienlebens der Beschwerdeführer mit den in Österreich aufhältigen Familienangehörigen führen könnten (s. im Zusammenhang mit einer durch eine psychische Krankheit bedingten möglichen höheren Schutzwürdigkeit eines im Bundesgebiet entfalteten Privatlebens VfSlg 19.475/2011). Weiters geht der Asylgerichtshof nicht auf das Beschwerdevorbringen ein, dass keinerlei familiäre oder sonstige Bindungen zu Polen bzw. zu ihrem Heimatland bestünden (s. hiezu VfSlg 18.441/2008 und 19.475/2011). Dass die Beschwerdeführer ihrem Vorbringen zufolge nicht nur € 300,-- sowie Kinderbekleidung erhalten, sondern darüber hinaus auch bei der Kinderbetreuung sowie bei Behördengängen und anderen Besorgungen des täglichen Lebens Unterstützung durch die Familienangehörigen bekommen hätten, lässt der Asylgerichtshof in seiner Interessenabwägung ebenso unberücksichtigt.
III. Ergebnis
1. Auf Grund dieser Umstände sind die Beschwerdeführer durch die angefochtene Entscheidung in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
2. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Da eine Beschwerde für insgesamt vier Beschwerdeführer eingebracht wurde, ist ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 436,– zusätzlich zu gewähren (vgl. u.a. VfSlg 14.788/1997). Im Gesamtbetrag der zu ersetzenden Kosten ist weiters Umsatzsteuer in der Höhe von € 523,20 enthalten.
Schlagworte
Asylrecht, Ausweisung, Privat- und Familienleben, Bescheidbegründung, EU-RechtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2014:U2380.2013Zuletzt aktualisiert am
29.08.2014