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93/01 EisenbahnNorm
B-VG Art144 Abs1 / AnlassfallLeitsatz
Aufhebung des angefochtenen Bescheides im Anlassfall; teils Zurückweisung der Beschwerde mangels LegitimationSpruch
I. 1. Die Erst- bis Fünftbeschwerdeführer sowie der Siebt- und der Achtbeschwerdeführer sind durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
2. Hinsichtlich der übrigen Beschwerdeführer wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Der Bund (Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie) ist schuldig, den Erst- bis Fünftbeschwerdeführern sowie dem Siebt- und dem Achtbeschwerdeführer zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit insgesamt € 3.460,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Verfahren
1. Mit Bescheid des Bundesministers für Verkehr, Innovation und Technologie vom 4. Juni 2007 wurde der ÖBB-Infrastruktur Bau-AG die beantragte Genehmigung für den 3. Abschnitt des Projekts "Lainzer Tunnel" erteilt. Im Zuge der Umsetzung dieses Bescheides wurden bauliche Änderungen und bescheidmäßig vorgeschriebene, ergänzende Einreichungen erforderlich. Auch war für die Vollendung des Vorhabens eine sogenannte "Differenzgenehmigung" gemäß §133a (nunmehr: §175) Abs16 iVm §31 Eisenbahngesetz 1957 (EisbG) nötig.
1.1. Aus diesem Grund wurde von der ÖBB-Infrastruktur-AG als Rechtsnachfolgerin der ÖBB-Infrastruktur Bau-AG ein Antrag auf Erteilung der eisenbahnrechtlichen Baugenehmigung gemäß den §§31 ff. EisbG und auf Erteilung einer Differenzgenehmigung gestellt, der auf Änderungen und Ergänzungen des bereits rechtskräftig genehmigten Projektes Lainzer Tunnel, 3. Abschnitt – Verbindungstunnel, insbesondere auf Elemente der Streckenausrüstung, des Oberbaus einschließlich eines Masse-Feder-Systems, der Sicherungstechnik, der Elektrotechnik und der Oberleitung gerichtet war.
Diesem Antrag war zudem – entsprechend der Anordnung des §31a Abs1 letzter Satz EisbG idF BGBl I 125/2006 – ein Gutachten über projektrelevante Fachgebiete (Eisenbahnbetrieb, Eisenbahnbautechnik – Teilfachgebiete Oberbau und Fahrweg sowie Hochbau und Teilfachgebiet konstruktiver Ingenieurbau, Elektrotechnik, Sicherungstechnik, Erschütterungs- und Sekundärschallschutz, baulicher Brandschutz und Tunnelsicherheit) zum Beweis dafür angeschlossen, dass das eisenbahnrechtliche Projekt gemäß §31f EisbG dem Stand der Technik unter Berücksichtigung der Sicherheit und Ordnung des Betriebes der Eisenbahn, des Betriebes von Schienenfahrzeugen auf der Eisenbahn und des Verkehrs auf der Eisenbahn entspricht.
1.2. Mit dem angefochtenen (erst- und gleichzeitig letztinstanzlichen) Bescheid vom 19. August 2010 gab die Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie dem Antrag der ÖBB-Infrastruktur-AG statt und erteilte dieser eine eisenbahnrechtliche Baugenehmigung gemäß den §§31 ff. EisbG. Begründend führte sie aus, dass sämtliche Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt seien und insbesondere das Bauvorhaben dem Stand der Technik unter Berücksichtigung der Sicherheit und Ordnung des Betriebes der Eisenbahn, von Schienenfahrzeugen auf der Eisenbahn und des Verkehrs auf der Eisenbahn entspreche.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde von insgesamt neun Beschwerdeführern, die – nach ihrem eigenen Vorbringen – allesamt Parteien des eisenbahnrechtlichen Genehmigungsverfahrens gewesen seien. Sie behaupten, in ihren verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und auf ein faires Verfahren verletzt zu sein. Gleichzeitig erachten sich die Beschwerdeführer in ihren Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes, nämlich des letzten Satzes des §31a Abs1 EisbG idF BGBl I 125/2006, verletzt, wonach für das vom Antragsteller beizubringende Gutachten betreffend den Stand der Technik die widerlegbare Vermutung der inhaltlichen Richtigkeit gilt.
3. Die belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift, in der sie dem Vorbringen in der Beschwerde entgegentritt und die kostenpflichtige Ab- bzw. Zurückweisung der Beschwerde beantragt. Die ÖBB-Infrastruktur-AG als beteiligte Partei erstattete eine als "Gegenschrift" bezeichnete Äußerung, in der sie beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen, in eventu abzulehnen, und der beteiligten Partei die Pauschalkosten des Verfahrens zuzusprechen.
4. Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des letzten Satzes des §31a Abs1 EisbG idF BGBl I 125/2006 ein. Mit Erkenntnis vom 2. Oktober 2013, G118/2012, hob er die genannte Bestimmung als verfassungswidrig auf.
4.1. Im Rahmen eines ergänzenden Vorverfahrens forderte der Verfassungsgerichtshof in weiterer Folge die belangte Behörde, die Beschwerdeführer sowie die ÖBB-Infrastruktur-AG als beteiligte Partei zu einer Stellungnahme zu der Frage auf, welche Auswirkung die Aufhebung des letzten Satzes des §31a Abs1 EisbG durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes für das Bescheidbeschwerdeverfahren hat, insbesondere, ob die von den beschwerdeführenden Parteien im vorangegangenen Verwaltungsverfahren gegen das Vorhaben erhobenen Einwendungen vor dem Hintergrund der nunmehr bereinigten Rechtslage eine Verfahrensergänzung erfordern.
4.2. Die belangte Behörde und die ÖBB-Infrastruktur-AG erstatteten eine Stellungnahme, in der sie zusammengefasst darlegten, dass die Entscheidung der belangten Behörde auch dann gleichlautend ergangen wäre, wenn der letzte Satz des §31a Abs1 EisbG im Entscheidungszeitpunkt nicht in Geltung gestanden wäre. Sie beantragten zudem, hinsichtlich der sechst- und neuntbeschwerdeführenden Partei die Beschwerde zurückzuweisen, in eventu als unbegründet abzuweisen bzw. abzulehnen und hinsichtlich der erst- bis fünft- und der siebent- und achtbeschwerdeführenden Partei die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
4.3. Die Beschwerdeführer führten demgegenüber aus, dass sich die belangte Behörde hinsichtlich maßgeblicher Fragen der Bewilligungsfähigkeit des Einreichprojekts auf die Schlüssigkeit des Gutachtens gemäß §31a EisbG zurückgezogen habe und der Bescheid auf Basis der bereinigten Rechtslage nicht aufrechtzuerhalten sei.
II. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit
Die Beschwerden der Erst- bis Fünftbeschwerdeführer sowie des Siebt- und Achtbeschwerdeführers sind zulässig:
1.1. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom 2. Oktober 2013, G118/2012, ausgeführt hat, sind Parteien im eisenbahnrechtlichen Verfahren gemäß §8 AVG iVm §31e EisbG der Bauwerber, die Eigentümer der betroffenen Liegenschaften, die an diesen dinglich Berechtigten, die Wasserberechtigten und die Bergwerksberechtigten. Betroffene Liegenschaften sind außer den durch den Bau selbst in Anspruch genommenen Liegenschaften auch die, die in den Bauverbotsbereich oder in den Feuerbereich zu liegen kommen, sowie die, die wegen ihrer Lage im Gefährdungsbereich Veränderungen oder Beschränkungen unterworfen werden müssen. Wie sich aus den Verwaltungsakten ergibt, sind – mit Ausnahme des Siebtbeschwerdeführers – alle Beschwerdeführer dinglich Berechtigte an den betroffenen Liegenschaften. Sie genießen damit Parteistellung iSd §31e EisbG.
1.2. Dem angefochtenen Bescheid und den Verwaltungsakten kann weiters entnommen werden, dass es sich im Anlassfall um ein Großverfahren iSd §§44a ff. AVG gehandelt hat und die Anträge durch Edikt kundgemacht worden sind. Gemäß §44b AVG sind deshalb jene Parteien präkludiert, die nicht innerhalb der Auflagefrist bei der belangten Behörde schriftliche Einwendungen erhoben haben.
1.2.1. Wie die belangte Behörde im Verfahren selbst eingeräumt hat und durch die Verwaltungsakten bestätigt wird, haben die Erst- bis Fünftbeschwerdeführer sowie der Achtbeschwerdeführer im Verwaltungsverfahren rechtzeitig Einwendungen erhoben. Deren Beschwerden sind daher zulässig.
1.2.2. Aber auch die siebtbeschwerdeführende Partei ist im verfassungsgerichtlichen Verfahren beschwerdelegitimiert: Wie die belangte Behörde in ihrer ergänzenden Stellungnahme zutreffend ausgeführt hat, ergibt sich deren Parteistellung aus dem Wasserrechtsgesetz 1959: Die siebtbeschwerdeführende Partei ist als Wasserberechtigte ebenfalls Partei iSd §31e EisbG. Auch hat die siebtbeschwerdeführende Partei rechtzeitig rechtserhebliche Einwendungen erhoben. Damit hat sie – gleich wie die anderen genannten beschwerdeführenden Parteien – ihre Parteistellung im eisenbahnrechtlichen Genehmigungsverfahren gewahrt.
1.3. Hinsichtlich der Sechst- und Neuntbeschwerdeführer kann aus den vorgelegten Verwaltungsakten nicht festgestellt werden, dass sie innerhalb der Auflagefrist schriftlich Einwendungen erhoben hätten. Da sie dadurch im Verfahren vor der belangten Behörde ihre Parteistellung verloren haben, kommt diesen beschwerdeführenden Parteien auch keine Beschwerdelegitimation vor dem Verfassungsgerichtshof zu.
2. In der Sache:
Die Beschwerden der Erst- bis Fünftbeschwerdeführer sowie der Siebt- und Achtbeschwerdeführer sind auch begründet:
Die belangte Behörde hat eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführer nachteilig war:
Wie die belangte Behörde und die ÖBB-Infrastruktur-AG zutreffend vorgebracht haben, wurden dem Verfahren betreffend die Erteilung einer eisenbahnrechtlichen Genehmigung zwar ein Amtssachverständiger für elektromagnetische Felder und Elektrotechnik sowie ein nichtamtlicher Sachverständiger für Raumplanung beigezogen. Mehrere Stellen des Genehmigungsbescheides bzw. der Verhandlungsschrift zeigen jedoch, dass sich die belangte Behörde in vielerlei Hinsicht auf die Vermutung der Richtigkeit des Gutachtens nach §31a EisbG gestützt hat.
Die Beschwerdeführer wurden daher durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).
III. Ergebnis
1. Der angefochtene Bescheid ist daher aufzuheben. Hingegen ist die Beschwerde der Sechst- und Neuntbeschwerdeführer mangels Legitimation zurückzuweisen.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z3 und §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 540,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 220,– enthalten. Da die Beschwerde, soweit sie von den Sechst- und Neuntbeschwerdeführern erhoben worden ist, zurückgewiesen wird, ist für eben diese Beschwerdeführer kein Streitgenossenzuschlag zuzusprechen.
Schlagworte
VfGH / Anlassfall, Parteistellung Eisenbahnrecht, Großverfahren, Präklusion von Einwendungen, VfGH / LegitimationEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2014:B1479.2010Zuletzt aktualisiert am
16.04.2014