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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
EMRK Art8Leitsatz
Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung der Beschwerdeführerin in die Russische Föderation infolge verfassungswidriger Interessenabwägung; Beziehung einer Mutter zu ihrer in Österreich lebenden volljährigen Tochter vom Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens erfasstSpruch
I. 1. Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit mit ihr die Ausweisung ausgesprochen wird, in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Die Entscheidung wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation. Sie reiste gemeinsam mit ihrer Enkelin am 8. November 2012 nach Österreich ein und stellt noch am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Grund für ihre Ausreise gab sie an, dass ihre Enkelin Probleme mit "mächtigen Männern" bekommen habe, die ihnen vorgeworfen hätten mit tschetschenischen Rebellen zu kooperieren und sie letztlich mit dem Tode bedroht hätten. Im Zuge der Befragung vor dem Bundesasylamt antwortete die Beschwerdeführerin auf die Frage, warum sie ausgerechnet nach Österreich gereist sei, dass sich ihre Tochter hier aufhalte.
2. Mit Bescheid vom 6. Mai 2013 wies das Bundesasylamt den Antrag der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten und hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten ab und wies die Beschwerdeführerin in die Russische Föderation aus. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Berufung an den Asylgerichtshof. Dieser bestätigte mit Entscheidung vom 29. Juli 2013 den Bescheid des Bundesasylamtes. Begründend führte der Asylgerichtshof aus, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Bedrohung in ihrem Herkunftsstaat solche Widersprüche und Ungereimtheiten aufwiesen, dass sie nicht als glaubwürdig zu betrachten wären. Die Behandlung der medizinischen Probleme der Beschwerdeführerin sei auch in ihrem Herkunftsstaat möglich. Ein Eingriff in das Recht auf Familienleben sei mit einer Ausweisung nicht verbunden und eine diesbezüglich Abwägung daher nicht erforderlich. Bei der Abwägung hinsichtlich des Eingriffs in das Recht auf Privatleben würden die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der fremdenrechtlichen Bestimmungen und am Schutz der öffentlichen Ordnung überwiegen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Ausweisung in die Russische Föderation richtet, begründet.
1.1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002). Für Entscheidungen des Asylgerichtshofes gelten sinngemäß dieselben verfassungsrechtlichen Schranken.
1.2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Asylgerichtshof bei der Beurteilung des Familienlebens der Beschwerdeführerin unterlaufen:
1.3. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR entsteht ein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl. EGMR, 21.6.1988, Berrehab, Appl. 10730/84 [Z21]; 26.5.1994, Keegan, Appl. 16969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (EGMR, 19.2.1996, Gül, Appl. 23218/94 [Z32]). Das Auflösen einer Hausgemeinschaft von Eltern und volljährigen Kindern alleine führt jedenfalls nicht zur Beendigung des Familienlebens im Sinne von Art8 Abs1 EMRK, solange nicht jede Bindung gelöst ist (EGMR, 24.4.1996, Boughanemi, Appl. 22070/93 [Z33 und 35]).
1.4. Der Asylgerichtshof geht davon aus, dass zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter kein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben besteht und begründet dies damit, dass "die Beschwerdeführerin und ihre Tochter über kein qualifiziertes und hinreichend stark ausgeprägtes Nahverhältnis verfügen". Die Beschwerdeführerin und ihre Tochter lebten weder in einem gemeinsamen Haushalt, noch bestehe zwischen diesen in finanzieller oder sozialer Hinsicht ein Abhängigkeitsverhältnis. Dabei verkennt der Asylgerichtshof, dass es für das Bestehen eines Familienlebens zwischen Eltern und Kindern im Sinne der oben dargestellten Rechtsprechung des EGMR nicht darauf ankommt, dass ein "qualifiziertes und hinreichend stark ausgeprägtes Nahverhältnis" besteht, sondern darauf, ob jede Verbindung gelöst wurde (EGMR, Boughanemi, Z35). Im Zuge der Einvernahme vor dem BAA nannte die Beschwerdeführern jedoch den Aufenthalt der Tochter in Österreich als treibenden Grund dafür, selbst nach Österreich zu kommen. Seit ihrer Ankunft habe es mehrere Besuche und regelmäßigen telefonischen Kontakt gegeben. Ausgehend von seinem Rechtsirrtum ist der Asylgerichtshof auf dieses Vorbringen nicht eingegangen.
1.5. Die Beziehung der Beschwerdeführerin zu ihrer in Österreich lebenden Tochter ist daher vom Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens im Sinne von Art8 Abs1 EMRK erfasst. Die Ausweisung der Beschwerdeführerin stellt einen Eingriff in dieses Recht dar, der ohne die Abwägung der geschützten subjektiven Interessen gegen die in Art8 Abs2 EMRK aufgelisteten öffentlichen Interessen auch nicht gerechtfertigt werden kann. Da der Asylgerichtshof eine solche Interessenabwägung nicht vorgenommen hat, wurde die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf Achtung des Familienlebens verletzt.
2. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG in der mit 1. Jänner 2014 in Kraft getretenen Fassung). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Die zur Entscheidung über die Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten und über die Zuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.
Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status einer Asylberechtigten und die Abweisung des Antrages auf Zuerkennung des Status einer subsidiär Schutzberechtigten bekämpft wird, abzusehen.
III. Ergebnis
1. Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit mit ihr die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgesprochen wird, in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt. Die angefochtene Entscheidung wird daher insoweit aufgehoben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.
3. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG sowie §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
Asylrecht, Ausweisung, Privat- und FamilienlebenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2014:U1904.2013Zuletzt aktualisiert am
27.03.2014