TE Vwgh Erkenntnis 2014/2/19 2013/22/0187

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Veröffentlicht am 19.02.2014
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Index

E1E;
E6J;
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
19/05 Menschenrechte;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
59/04 EU - EWR;

Norm

12010E020 AEUV Art20;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs1 Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, den Hofrat Dr. Robl, die Hofrätin Mag. Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des A, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 28. Mai 2013, Zl. 164.412/2- III/4/13, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die Bundesministerin für Inneres (im Weiteren: bescheiderlassende Behörde) den Antrag des Beschwerdeführers, eines jordanischen Staatsangehörigen, vom 14. Juli 2011 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gemäß § 11 Abs. 1 Z 2 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) ab.

In ihrer Begründung verwies die bescheiderlassende Behörde darauf, dass - wie aus dem Verwaltungsakt hervorgehe - gegen den Beschwerdeführer in Deutschland ein nach wie vor aufrechtes "Einreise/Aufenthaltsverbot im Schengener Gebiet" erlassen worden sei. Dies habe auch eine "SIS-Abfrage" vom 15. Mai 2013 ergeben. Damit liege ein zwingender Versagungsgrund vor, der "einer Abwägung im Sinne des Art. 8 EMRK nicht zugänglich" sei. Der Beschwerdeführer habe auch nach Einräumung von Parteiengehör nicht den Nachweis erbracht, dass das Aufenthaltsverbot in Deutschland zwischenzeitig aufgehoben worden sei. § 11 Abs. 1 Z 2 NAG stelle nur auf das Bestehen eines in einem anderen EWR-Staat erlassenen Aufenthaltsverbotes ab, ohne dass es von Belang wäre, aus welchem Grund dieses erlassen worden sei.

Ausgehend von der Ehe des Beschwerdeführers mit einer österreichischen Staatsbürgerin, die ein behindertes Kind habe, ging die bescheiderlassende Behörde weiters auf das Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) vom 15. November 2011, Rs C-256/11, "Dereci u.a.", sowie auf die darauf Bezug nehmende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ein und führte dazu wie folgt aus:

"Im gegenständlichen Fall ergibt sich nicht einmal ansatzweise ein Hinweis darauf, es lägen im Sinne der Judikatur des Gerichtshofes der Europäischen Union (Urteil vom 15. November 2011, Rechtssache C-256/11, 'Dereci' u.a., mwN) Umstände vor, dass sich Ihre Ehegattin bei einer Verweigerung des Aufenthaltsrechts Ihrer Person 'de facto' gezwungen sähe, nicht nur das Bundesgebiet, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen und Ihr somit der tatsächliche Genuss des Kernbestandes der durch die Unionsbürgerschaft verliehenen Rechte verwehrt würde. Diese besonderen Umstände sind darüber hinaus auch nicht durch die Vorlage von Arztbestätigungen im Berufungsverfahren hinsichtlich der Erkrankung Ihrer Ehegattin und Ihres Sohnes erkennbar.

Vielmehr ist Ihr Vorbringen als bloßer Wunsch nach einem gemeinsamen Familienleben in Österreich zu werten, bzw. liegen Ihrem Begehren nach einem gemeinsamen Familienleben in Österreich wirtschaftliche Überlegungen zu Grunde. Weder der bloße Wunsch nach einem Zusammenleben in Österreich, noch wirtschaftliche Überlegungen rechtfertigen jedoch für sich genommen die Annahme eines de facto Zwanges im oben genannten Sinn. Weitere besondere Umstände, die in Ihrem Fall auf eine Ausnahmesituation schließen lassen könnten, haben Sie weder vorgebracht, noch ergeben sich diese aus dem Akteninhalt."

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage erwogen hat:

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass gemäß § 79 Abs. 11 letzter Satz VwGG idF BGBl. I Nr. 122/2013, soweit - wie vorliegend - durch das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Übergangsgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013, nicht anderes bestimmt ist, in den mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren die bis zum Ablauf des 31. Dezember 2013 geltenden Bestimmungen weiter anzuwenden sind.

Weiters kommt im vorliegenden Beschwerdefall angesichts der Zustellung des angefochtenen Bescheides am 31. Mai 2013 das NAG in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2013 zur Anwendung.

§ 11 Abs. 1 NAG lautet auszugsweise wie folgt:

"Allgemeine Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel

§ 11. (1) Aufenthaltstitel dürfen einem Fremden nicht erteilt werden, wenn

...

2. gegen ihn eine Rückführungsentscheidung eines

anderen EWR-Staates oder der Schweiz besteht;

..."

Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, die Abweisung seines Antrages sei schon "aus dem Grunde des § 11 Abs 1 Z 2 NAG nicht rechtens", ist ihm Folgendes entgegenzuhalten: Der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 2 NAG stellt auf das Bestehen einer Rückführungsentscheidung (etwa) eines anderen EWR-Staates ab. Dass eine derartige (hier in der Bundesrepublik Deutschland ergangene) Entscheidung - wie dem angefochtenen Bescheid zugrunde gelegt - noch aufrecht ist, wird weder mit der vom Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren vorgelegten Bestätigung des Ausländeramtes Kempten vom August 2012 noch mit dem Beschwerdevorbringen bestritten. Zwar wird in der Beschwerde erneut behauptet, dass die "Löschung des SIS-Eintrages veranlasst" worden sei, aber auch eingeräumt, dass das Einreiseverbot (nur mehr) in Deutschland wirke. Es ist somit nicht zu beanstanden, dass die bescheiderlassende Behörde den Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 2 NAG als gegeben ansah.

Weiters verweist der Beschwerdeführer unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Urteil des EuGH in der Rs C-256/11, "Dereci u.a.", darauf, dass sein betreuungsbedürftiger Stiefsohn und seine sehbehinderte Ehefrau aus "Erkrankungsgründen" nur schwer alleine leben könnten und daher bei Beendigung seines Aufenthaltes unter Rückführung nach Jordanien nur die Möglichkeit hätten, ihn zu begleiten. Seine, eine Invaliditätspension beziehende Ehefrau könne ihren behinderten Sohn nicht alleine betreuen. Damit zeigt der Beschwerdeführer im Ergebnis eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auf.

Der EuGH hat im Urteil vom 15. November 2011, Rs C-256/11, "Dereci u.a.", ausgesprochen, dass Art. 20 AEUV nationalen Maßnahmen entgegensteht, die bewirken, dass den Unionsbürgern der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihnen dieser Status verleiht, verwehrt wird. Das Kriterium der Verwehrung des Kernbestands der Rechte, die der Unionsbürgerstatus verleiht, bezieht sich auf Sachverhalte, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich der Unionsbürger de facto gezwungen sieht, nicht nur das Gebiet des Mitgliedstaats, dem er angehört, sondern das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen. Sollten derartige Gründe - der bloße Wunsch nach Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft im Gebiet der Union reicht allerdings nicht aus - bestehen, würden sowohl die gegenüber einem Fremden ausgesprochene Anordnung, das Bundesgebiet wegen des unrechtmäßigen Aufenthalts zu verlassen, als auch die Verweigerung eines Aufenthaltstitels gegenüber dem Angehörigen des Unionsbürgers dem Unionsrecht widersprechen und daher nicht zulässig sein (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 26. Juni 2013, Zl. 2012/22/0250, mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof hat den Fremdenpolizeibehörden wiederholt aufgetragen, zu dieser Frage nach Einräumung von Parteiengehör Feststellungen zu treffen und (gestützt darauf) eine Beurteilung vorzunehmen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 24. April 2012, Zl. 2009/22/0299, mwN).

Im vorliegenden Fall hat die bescheiderlassende Behörde zwar erkannt, dass eine Prüfung anhand des dargestellten, unionsrechtlich vorgegebenen Maßstabes geboten ist. Sie hat sich bei ihrer Beurteilung, ob ein Grund im Sinn des Urteils des EuGH in der Rs C-256/11 ("Dereci u.a.") gegeben ist, aber - abgesehen von einem Hinweis auf die vom Beschwerdeführer vorgelegten, von ihr als nicht hinreichend angesehenen Arztbestätigungen - auf eine textbausteinartige und formelhafte Begründung beschränkt, ohne sich in der gebotenen Weise mit den Umständen des konkreten Falles zu beschäftigen. So lässt sich dem angefochtenen Bescheid nicht entnehmen, inwieweit dem - bereits im Verwaltungsverfahren erstatteten - Vorbringen des Beschwerdeführers zur Betreuungs- bzw. Unterstützungsbedürftigkeit seiner Ehefrau und seines Stiefsohnes Bedeutung beigemessen wurde. Diesbezüglich fehlen im angefochtenen Bescheid Feststellungen, die eine unionsrechtliche Beurteilung im dargestellten Sinn ermöglichen und den angefochtenen Bescheid in dieser Hinsicht überprüfbar machen würden.

Da somit der angefochtene Bescheid an einem für den Verfahrensausgang relevanten Verfahrensfehler leidet, war er wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG sowie § 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455, iVm § 3 Z 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 idF BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am 19. Februar 2014

Gerichtsentscheidung

EuGH 62011CJ0256 Dereci VORAB

Schlagworte

Begründung BegründungsmangelBesondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2014:2013220187.X00

Im RIS seit

13.03.2014

Zuletzt aktualisiert am

23.04.2014
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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