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L92009 Sozialhilfe Grundsicherung Mindestsicherung Wien;Norm
AVG §67d Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Lukasser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Uhlir, über die Beschwerde der E F in Wien, vertreten durch Dr. Alexander Russ, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Währinger Straße 2-4, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 27. Juli 2011, Zl. UVS-SOZ/53/2765/2011-5, betreffend Mindestsicherung, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Das Land Wien hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 27. Juli 2011 hat der Unabhängige Verwaltungssenat Wien den Antrag der Beschwerdeführerin vom 24. September 2010 auf Zuerkennung einer Mindestsicherungsleistung zur Deckung des Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs gemäß § 16 Wiener Mindestsicherungsgesetz - WMG, LGBl. Nr. 38/2010, abgewiesen.
Zur Begründung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass die Beschwerdeführerin, eine ungarische Staatsangehörige, die zum Nachweis ihrer Anspruchsberechtigung erforderlichen Unterlagen trotz Aufforderung unter Setzung einer angemessenen Frist und nachweislichem Hinweis auf die Rechtsfolgen einer Unterlassung nicht rechtzeitig vorgelegt habe.
Über die dagegen gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:
Die Beschwerdeführerin rügt u.a., dass es die belangte Behörde unterlassen habe, eine mündliche Verhandlung anzuberaumen. Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes könne von einem schlüssigen Verzicht durch Unterlassen der Beantragung einer Verhandlung nicht gesprochen werden, wenn eine unvertretene Partei weder über die Möglichkeit der Antragstellung belehrt worden sei, noch Anhaltspunkte dafür bestünden, dass sie von dieser Möglichkeit hätte wissen müssen.
Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg:
Gemäß § 67d Abs. 1 AVG in der hier maßgeblichen Fassung vor der Novellierung durch das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Ausführungsgesetz 2013, BGBl. I Nr. 33, hat der Unabhängige Verwaltungssenat auf Antrag oder, wenn er dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Gemäß dem ersten Satz des Abs. 3 dieser Bestimmung hat der Berufungswerber die Durchführung einer Verhandlung in der Berufung zu beantragen. Ungeachtet eines Parteiantrages kann der Unabhängige Verwaltungssenat gemäß dem Abs. 4 dieser Bestimmung von einer Verhandlung absehen, wenn er einen verfahrensrechtlichen Bescheid zu erlassen hat, die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Sache nicht erwarten lässt, und dem nicht Art. 6 Abs. 1 EMRK entgegensteht.
Die Unterlassung eines Antrages auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung wird vom Gesetzgeber als (schlüssiger) Verzicht auf eine solche gewertet. Ein schlüssiger Verzicht liegt aber nach der hg. Judikatur nicht vor, wenn eine unvertretene Partei weder über die Möglichkeit einer Antragstellung belehrt wurde, noch Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie von dieser Möglichkeit hätte wissen müssen. In einem solchen Fall obliegt es dem Unabhängigen Verwaltungssenat daher ungeachtet der unterbliebenen Antragstellung, eine mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn es um zivile Rechte im Sinn von Art. 6 EMRK geht (vgl. etwa das Erkenntnis vom 12. August 2010, Zl. 2008/10/0315).
Ein solcher Fall liegt hier vor:
Streitigkeiten über Sozialhilfeleistungen - und somit auch über die hier gegenständliche Mindestsicherungsleistung - betreffen nach der Judikatur des EGMR zivile Rechte im Sinn von Art. 6 EMRK (vgl. z.B. EGMR 14. November 2006, Tsfayo, Zl. 60.860/00). Die im Verwaltungsverfahren unvertretene Beschwerdeführerin hat in der Berufung vom 3. März 2011 weder einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung gestellt noch auf die Durchführung verzichtet. Nach der Aktenlage wurde sie auch nicht über die Möglichkeit belehrt, eine Verhandlung zu beantragen. Anhaltspunkte dafür, dass sie von dieser Möglichkeit hätte wissen müssen, bestehen nicht.
Nach den obigen Ausführungen hätte daher ungeachtet der unterbliebenen Antragstellung durch die Beschwerdeführerin eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden müssen. Die belangte Behörde hat dies jedoch unterlassen und im Übrigen das Unterbleiben der Verhandlung auch nicht begründet.
Aus den dargestellten Gründen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 VwGG (in der hier gemäß § 79 Abs. 11 letzter Satz VwGG idF BGBl. I Nr. 122/2013 noch maßgeblichen Fassung, die bis zum Ablauf des 31. Dezember 2013 in Geltung stand) aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht gemäß § 79 Abs. 11 letzter Satz VwGG sowie § 3 Z. 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 idF BGBl. II Nr. 8/2014, auf den §§ 47 ff VwGG iVm § 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Wien, am 30. Jänner 2014
Schlagworte
Verfahrensbestimmungen BerufungsbehördeBesondere RechtsgebieteRechtsgrundsätze Verzicht Widerruf VwRallg6/3European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2014:2012100193.X00Im RIS seit
05.03.2014Zuletzt aktualisiert am
27.01.2015