TE Vfgh Erkenntnis 2013/11/25 U983/2013 ua

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Veröffentlicht am 25.11.2013
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
EMRK Art8
AsylG 2005 §3, §8, §10, §41 Abs7

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz und Ausweisung einer seit vier Jahren in Österreich aufhältigen achtköpfigen Familie nach Bosnien und Herzegowina mangels Eignung der gesetzten Ermittlungstätigkeiten zur Klärung des Sachverhaltes

Spruch

I.              Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtenen Entscheidungen im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Die Entscheidungen werden aufgehoben.

II.              Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.662,40 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführer sind bosnische Staatsangehörige, die der Volksgruppe der Roma angehören. Der Erstbeschwerdeführer reiste im September 2008 nach Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Oktober 2008 kehrte er nach Bosnien und Herzegowina zurück, um seine Familie bei der Ausreise nach Österreich zu unterstützen. Im November 2008 stellten schließlich nicht nur die zweitbeschwerdeführende Lebensgefährtin des Erstbeschwerdeführers, sondern auch ihre vier minderjährigen Kinder (dritt- bis sechstbeschwerdeführende Parteien) einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 16. Dezember 2008 wurden die erst- und die zweitbeschwerdeführenden Parteien vor dem Bundesasylamt niederschriftliche einvernommen. Mit Bescheid vom 18. Februar 2009 wurden die Anträge der erst- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien abgewiesen und deren Ausweisung nach Bosnien und Herzegowina verfügt.

2. Gegen diese Bescheide erhoben die erst- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien Beschwerden an den Asylgerichtshof. Am 26. September 2010 bzw. am 6. März 2012 wurden die siebt- und achtbeschwerdeführenden Parteien geboren. Für beide wurde im Rahmen eines Familienverfahrens ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Mit Bescheid vom 10. November 2010 bzw. vom 10. April 2012 wurden die Anträge jeweils abgewiesen und die Antragsteller nach Bosnien und Herzegowina ausgewiesen. Beide erhoben Beschwerde an den Asylgerichtshof.

3. Mit Schreiben vom 15. Februar 2013 wurden alle beschwerdeführenden Parteien vom Ergebnis der Beweisaufnahme hinsichtlich der allgemeinen Situation in Bosnien und Herzegowina, zur Frage Ihrer Staatsangehörigkeit sowie zu Ihren familiären und persönlichen Bindungen zu Österreich und zu Bosnien und Herzegowina verständigt und ihnen die Möglichkeit eingeräumt binnen zwei Wochen dazu Stellung zu nehmen. Die beschwerdeführenden Parteien legten daraufhin einen Länderbericht zur Lage der Roma in Bosnien und Herzegowina sowie diverse Zeugnisse und Unterstützungsschreiben vor. Mit Entscheidungen vom 30. März 2013 wies der Asylgerichtshof alle Beschwerden ab.

4. Gegen diese Entscheidungen richtet sich die vorliegende, auf Art144a B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen beantragt wird. Die Beschwerdeführer machen insbesondere geltend, dass keine ausreichenden Ermittlungen zu ihrer Integration in Österreich angestellt wurden.

5. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, verzichtete aber auf die Vorlage einer Gegenschrift und verwies auf die Begründung der angefochtenen Entscheidungen.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn der Asylgerichtshof dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn er bei Fällung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Asylgerichtshof unterlaufen:

3.1. Gemäß §10 Abs2 Z2 AsylG2005 sind Ausweisungen unzulässig, wenn diese eine Verletzung von Art8 EMRK darstellen würden. Dabei sind insbesondere zu berücksichtigen: a) die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war; b) das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens; c) die Schutzwürdigkeit des Privatlebens; d) der Grad der Integration; e) die Bindungen zum Herkunftsstaat des Fremden; f) die strafgerichtliche Unbescholtenheit; g) Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts; h) die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren; i) die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

3.2. Daraus (und schon unmittelbar aus Art8 EMRK) ergibt sich, dass der Asylgerichtshof in jedem Einzelfall, in dem die Ausweisung einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellt, die schutzwürdigen subjektiven Interessen des Asylwerbers mit den öffentlichen Interessen an einer Ausweisung unvoreingenommen abzuwägen und dabei insbesondere die genannten Kriterien zu berücksichtigen hat. Wenn nötig hat der Asylgerichtshof auch die dafür notwendigen Ermittlungen anzustellen.

3.3. Im vorliegenden Fall hatte der Asylgerichthof diese Abwägung für jedes Mitglied der achtköpfigen Familie vorzunehmen und zuvor den dafür nötigen Sachverhalt zu klären. Offenbar um dieser Verpflichtung nachzukommen, verständigte der Asylgerichtshof die beschwerdeführenden Parteien von der "Beweisaufnahme" und forderte sie auf binnen zwei Wochen Stellung zu nehmen, ohne dass eine solche Beweisaufnahme zu dem für die Entscheidung über die Ausweisung maßgeblichen Sachverhalt abseits der Einsicht in die Akten des erstinstanzlichen Verfahrens stattgefunden hatte und ohne dass durch gezielte Fragen für die Beschwerdeführer erkennbar sein konnte, welche Informationen für die Entscheidung des Asylgerichtshofes von Bedeutung sein würden. Die letzte mündliche Einvernahme der Beschwerdeführer, die im Zuge des Verfahrens vor dem Bundesasylamt durchgeführt wurde, lag zum Zeitpunkt der Aufforderung zur Stellungnahme vier Jahre und zwei Monate zurück. Daher musste auch für den Asylgerichtshof offensichtlich sein, dass sich der für die Beantwortung der Rechtsfrage maßgebliche Sachverhalt seit der letzten "Beweisaufnahme" im Zuge des erstinstanzlichen Verfahrens entscheidend geändert haben musste. Da im Zuge einer nach §10 AsylG2005 durchzuführenden Interessenabwägung eine Vielzahl verschiedener Elemente berücksichtigt werden muss, ist die vorausgehende Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes für Beschwerdeführer, die sich für eine erhebliche Dauer in Österreich aufgehalten haben, eine komplexe Angelegenheit. Der Sachverhalt, auf Grund dessen eine Beurteilung der Zulässigkeit der Ausweisung einer achtköpfigen Familie, die sich seit über vier Jahren in Österreich aufhält, stattzufinden hat, lässt sich mit der Gewährung schriftlichen Parteiengehörs allein ohne vorherige aktuelle Bweisaufnahme im Allgemeinen nicht hinreichend sorgfältig klären.

3.4. Die vom Asylgerichtshof gesetzte Ermittlungstätigkeit in Form der Aufforderung zur schriftlichen Stellungnahme zu einer bis dahin nicht stattgefundenen Beweisaufnahme war daher nicht geeignet, die für die Entscheidung über die Ausweisung notwendige Klärung des Sachverhaltes zu erreichen (vgl. auch VfGH 27.9.2013, U2234-2239/2012).

4. Der Asylgerichtshof hat dadurch, dass er die zur Klärung des maßgeblichen Sachverhaltes notwendigen Ermittlungen nicht angestellt hat, Willkür geübt.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch die angefochtenen Entscheidungen in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.

2. Die angefochtenen Entscheidungen sind daher aufzuheben.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 iVm §88a VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 872,– sowie Umsatzsteuer in Höhe von je € 610,40 enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Ausweisung, Ermittlungsverfahren, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2013:U983.2013

Zuletzt aktualisiert am

31.01.2014
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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