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62/01 ArbeitsmarktverwaltungNorm
B-VG Art144 Abs1 / AnlassfallLeitsatz
Aufhebung der angefochtenen Bescheide im AnlassfallSpruch
I. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch die angefochtenen Bescheide wegen Anwendung verfassungswidriger Gesetzesbestimmungen in ihren Rechten verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz) ist schuldig, der zu B1521/2012 beschwerdeführende Partei zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.620,-- bestimmten Prozesskosten und der zu B343/2013 beschwerdeführenden Partei zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.856,-- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
1. Den Beschwerdeverfahren liegen folgende Sachverhalte zu Grunde:
1.1. Die Beschwerdeführerin zu B1521/2012 war seit dem Jahr 2002 im Rahmen mehrerer befristeter Beschäftigungsverhältnisse arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt. Ihr erstes Kind wurde am 21. Jänner 2009, das zweite Kind am 10. Dezember 2010 geboren. Die Beschwerdeführerin trat zunächst am 15. November 2008 direkt aus dem Beschäftigungsverhältnis den Wochengeldbezug und den daran anknüpfenden Kinderbetreuungsgeldbezug für das erste Kind (vom 19. März 2009 bis 20. September 2010) an und bezog dann vom 18. August 2010 bis 4. Februar 2011 wiederum Wochengeld und vom 5. Februar 2011 bis 9. August 2012 Kinderbetreuungsgeld für das zweite Kind. Die Beschwerdeführerin war in den fünf Jahren unmittelbar vor der Geburt ihres ersten Kindes mehr als 156 Wochen arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt.
Die Beschwerdeführerin stellte am 13. Juli 2012 einen Antrag auf Arbeitslosengeld. Mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (in der Folge: AMS) Niederösterreich vom 6. November 2012 wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführerin gemäß §20 Abs1 und 2 Z1, §21 Abs1 und 3 sowie §18 Abs1, 2 und 3 Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 (in der Folge: AlVG) ab 13. Juli 2012 Arbeitslosengeld in Höhe von € 43,54 täglich für die Dauer von 140 Tagen gebühre. Im Hinblick auf die Bezugsdauer wird im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Der Beschwerdeführerin sei gemäß §18 Abs1 AlVG eine Bezugsdauer von (bloß) 20 Wochen zuzuerkennen, weil sie im maßgeblichen Zeitraum vom 13. Juli 2007 bis 12. Juli 2012 nicht 156 Wochen an arbeitslosenversicherungspflichtigen Beschäftigungszeiten bzw. Zeiten gemäß §14 Abs4 AlVG nachweisen könne.
1.2. Die Beschwerdeführerin zu B343/2013 war – unterbrochen durch den zweimaligen Bezug von Kinderbetreuungsgeld (in den Zeiträumen vom 16. Mai 2005 bis 9. Mai 2007 und vom 31. August 2007 bis 15. November 2009) – seit dem Jahr 1992 mehr als neun Jahre arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt. Am 20. Februar 2005 kam das erste Kind der Beschwerdeführerin, am 30. Juni 2007 ihr zweites Kind zur Welt. Nach dem Bezug des Kinderbetreuungsgeldes für das zweite Kind war die Beschwerdeführerin für weitere zweieinhalb Jahre arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt. Die Beschwerdeführerin war in den fünf Jahren unmittelbar vor der Geburt ihres ersten Kindes mehr als 156 Wochen arbeitslosenversicherungspflichtig beschäftigt.
Die Beschwerdeführerin stellte am 6. Februar 2012 einen Antrag auf Arbeitslosengeld. Mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid der Landesgeschäftsstelle des AMS Wien vom 15. Februar 2013 wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführerin gemäß §18 Abs1, 2, 3 und 4 iVm §14 Abs4 und §12 Abs1 und 5 AlVG ab 5. Februar 2012 Arbeitslosengeld für die Dauer von 20 Wochen gebühre. Zur Bezugsdauer wird im Wesentlichen Folgendes ausgeführt: Die Beschwerdeführerin weise laut Abfrage des Hauptverbandes der Österreichischen Sozialversicherungsträger in den 5 Jahren vor der Antragstellung (6. Februar 2007 bis 6. Februar 2012) insgesamt 811 Tage (115 Wochen) an arbeitslosenversicherungspflichtigen Beschäftigungszeiten auf. Da die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der Antragstellung im 35. Lebensjahr gestanden sei, sei (bloß) eine Anspruchsdauer von 20 bzw. 30 Wochen zu prüfen gewesen. Der zweite Wochengeldbezug der Beschwerdeführerin sei angesichts dessen, dass dieser nicht auf Grund eines arbeitslosenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses gewährt worden sei, nicht gemäß §14 Abs4 AlVG zu berücksichtigen gewesen. Bei der Berechnung der Dauer sei jedoch gemäß §12 Abs5 AlVG die Teilnahme der Beschwerdeführerin an den Maßnahmen "BPA/Rehaplanung (Berufspotentialanalyse und Rehaplanung)" im Zeitraum vom 16. April bis 1. Juni 2006 und an der Maßnahme "ARV Arbeitsmarktbezogene Rehavorbereitung" in der Zeit vom 17. September bis 7. Dezember 2012 zu berücksichtigen gewesen, weshalb ihr zunächst Arbeitslosengeld für die Restdauer von 69 Tagen und in der Folge für weitere 20 Tage überwiesen worden sei.
2. Gegen diese Bescheide richten sich die beim Verfassungsgerichtshof zu B1521/2012 und B343/2013 protokollierten, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden, in denen die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten durch Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung, nämlich des §18 Abs1 AlVG, behauptet und jeweils die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.
3. Die belangten Behörden haben in beiden Verfahren die Verwaltungsakten vorgelegt und sind dem jeweiligen Beschwerdevorbringen in ihren Gegenschriften entgegengetreten.
4. Aus Anlass dieser – unter sinngemäßer Anwendung der §§187 und 404 ZPO iVm §35 VfGG zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen –Beschwerden leitete der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge "in den letzten fünf Jahren" in §18 Abs1 und des §18 Abs3 Arbeitslosenversicherungsgesetz 1977 (AlVG), BGBl 609 idF BGBl I 111/2010 ein. Mit Erkenntnis vom 10. Dezember 2013, G74-75/2013, hob er die in Prüfung gezogenen Bestimmungen als verfassungswidrig auf.
5. Die Beschwerden sind begründet.
Die belangten Behörden haben eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung der Beschwerdeführerinnen nachteilig war.
Die Beschwerdeführerinnen wurden also durch die angefochtenen Bescheide wegen Anwendung verfassungswidriger Gesetzesbestimmungen in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).
Die Bescheide sind daher aufzuheben.
6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z3 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
7. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Die der Beschwerdeführerin zu B1521/2012 zugesprochenen Kosten enthalten Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,-- sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 220,--, die der Beschwerdeführerin zu B343/2013 zugesprochenen Kosten enthalten Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,-- sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,--.
Schlagworte
VfGH / AnlassfallEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2013:B1521.2012Zuletzt aktualisiert am
15.01.2014