TE Vfgh Erkenntnis 2013/10/2 B1566/2012

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.10.2013
beobachten
merken

Index

L4005 Prostitution, Sittlichkeitspolizei

Norm

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
Tir Landes-PolizeiG §15

Leitsatz

Feststellung einer Verletzung im Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist durch Versagung der Bordellbewilligung für ein Gebäude in Kitzbühel; keine Rechtfertigung der Dauer des Verfahrens von über 12 Jahren; im Übrigen Ablehnung der Beschwerdebehandlung

Spruch

I.              1. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist nach Art6 Abs1 EMRK verletzt worden.

2. Insoweit wird der Antrag, den angefochtenen Bescheid aufzuheben, abgewiesen.

II.              1. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

2. Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

III.              Das Land Tirol ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit €  2.400,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer suchte am 2. März 2000 – nachdem ihm vom Bürgermeister der Stadtgemeinde Kitzbühel eine Baubewilligung für ein bestimmtes Gebäude mit dem Verwendungszweck "Bordell" erteilt wurde – um die Erteilung einer Bordellbewilligung für das Gebäude beim Bürgermeister der Stadtgemeinde Kitzbühel an. Mit Bescheid vom 9. Jänner 2006 wies der infolge Devolution zuständig gewordene Gemeinderat – nach Setzung einer Frist zur Entscheidung durch den mittels Säumnisbeschwerde angerufenen Verwaltungsgerichtshof – das Ansuchen des Beschwerdeführers auf Bewilligung des Bordells ab. Die dagegen erhobene Vorstellung wurde mit Bescheid der Tiroler Landesregierung vom 13. März 2006 abgewiesen; die Tiroler Landesregierung führte aus, dass nach §15 Abs3 iVm Abs4 Gesetz vom 6. Juli 1976 zur Regelung bestimmter polizeilicher Angelegenheiten (Landes-Polizeigesetz), LGBl 60/1979 idF 94/2012, (im Folgenden: Tir. Landes-PolizeiG) kein Bedarf an einem Bordell in der Stadtgemeinde Kitzbühel bestehe, da in benachbarten Gemeinden bereits Bordelle etabliert seien und keine Formen verbotener Prostitution in Kitzbühel auftreten würden. Die Behandlung der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde wurde vom Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 26. September 2006 abgelehnt und die Beschwerde wurde an den Verwaltungsgerichtshof abgetreten. Dieser hob den Bescheid der Tiroler Landesregierung mit Erkenntnis vom 16. Oktober 2008 auf; die Tiroler Landesregierung habe zur Frage, ob in der Stadtgemeinde Kitzbühel verbotene Prostitution betrieben werde, unzureichend ermittelt.

2. Mit Bescheid der Tiroler Landesregierung vom 28. Februar 2009 wurde der Bescheid des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 9. Jänner 2006 aufgehoben und die Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung an den Gemeinderat zurückverwiesen. Am 21. September 2009 erhob der Beschwerdeführer eine Säumnisbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, der dem säumig gewordenen Gemeinderat der Stadtgemeinde Kitzbühel eine Frist zur Entscheidung über das Bewilligungsansuchen im fortgesetzten Verfahren setzte. Mit Bescheid vom 7. April 2010 wies der Gemeinderat der Stadtgemeinde Kitzbühel das Ansuchen des Beschwerdeführers ab; auch nach ergänzenden Erhebungen sei – so der Gemeinderat der Stadtgemeinde Kitzbühel – ein Bedarf an einem Bordell mit Standort Kitzbühel zu verneinen.

3. Der dagegen erhobenen Vorstellung gab die Tiroler Landesregierung mit Bescheid vom 22. Oktober 2010 statt und verwies die Angelegenheit zur neuerlichen Entscheidung an den Gemeinderat der Stadtgemeinde Kitzbühel zurück; die Tiroler Landesregierung trug dem Gemeinderat der Stadtgemeinde Kitzbühel u.a. auf, die Erhebungen zur Frage des Bedarfs an einem Bordell in Kitzbühel zu ergänzen. Am 10. Oktober 2011 erhob der Beschwerdeführer eine Säumnisbeschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, der dem säumig gewordenen Gemeinderat der Stadtgemeinde Kitzbühel eine Frist zur Entscheidung über das Bewilligungsansuchen im fortgesetzten Verfahren setzte. Mit Bescheid vom 1. Juni 2012 wies der Gemeinderat der Stadtgemeinde Kitzbühel das Ansuchen des Beschwerdeführers neuerlich ab. Die dagegen erhobene Vorstellung wies die Tiroler Landesregierung mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 15. November 2012 ab.

4. Im angefochtenen Bescheid verneinte die Tiroler Landesregierung unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Bedarfsbeurteilung nach §15 Abs4 Tir. Landes-PolizeiG das Vorliegen eines Bedarfes nach §15 Abs3 iVm Abs4 Tir. Landes-PolizeiG; selbst ergänzende Erhebungen des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel hätten einen derartigen Bedarf nicht ergeben, da im voraussichtlichen Einzugsgebiet bereits Bordelle betrieben werden und sich auch bei Beachtung der "Tourismusstruktur" des voraussichtlichen Einzugsgebietes kein Bedarf für einen Bordellbetrieb in Kitzbühel feststellen lasse.

5. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 B-VG) und auf ein faires Verfahren (Art6 EMRK) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt werden. Zusammengefasst wird ausgeführt, dass die belangte Behörde die in §15 Abs4 iVm Abs3 Tir. Landes-PolizeiG vorgesehene Bedarfsprüfung denkunmöglich vorgenommen habe und das Bewilligungsverfahren – da der Beschwerdeführer den Antrag auf Bewilligung eines Bordells in Kitzbühel bereits am 2. März 2000 gestellt habe – unangemessen lang dauere.

6. Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Beschwerdebehauptungen entgegentritt und ihre Ansicht, dass in Kitzbühel kein Bedarf nach einem Bordell vorliege, bekräftigte; zum Vorwurf des Beschwerdeführers, dass die Dauer des Bewilligungsverfahrens unangemessen sei, äußerte sich die belangte Behörde nicht.

Die Stadtgemeinde Kitzbühel erstattete eine Äußerung. Dem Vorwurf der unangemessenen Dauer des Verfahrens hält sie entgegen, dass der Beschwerdeführer nicht sämtliche Rechtsbehelfe zur Verfahrensbeschleunigung ergriffen habe.

II. Erwägungen zur Verletzung in Art6 EMRK

1. Art6 Abs1 EMRK bestimmt u.a., dass jedermann "Anspruch darauf [hat], daß seine Sache [...] innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem [...] Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen [...] zu entscheiden hat".

Art6 EMRK ist auf das Verfahren zur Bewilligung eines Bordellbetriebes anwendbar (vgl. zum weiten Verständnis der "zivilrechtlichen Ansprüche" Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention5, 2012, §24 Rz 7 ff. mN aus der Rsp. des EGMR).

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht abstrakt, sondern im Lichte der besonderen Umstände jedes einzelnen Falles zu beurteilen. Die besonderen Umstände des Einzelfalles ergeben sich aus dem Verhältnis und der Wechselwirkung verschiedener Faktoren. Neben Faktoren, welche die Verfahrensdauer beeinflussen, nämlich die Schwierigkeit des Falles, das Verhalten des Beschwerdeführers und das Verhalten der staatlichen Behörden in dem bemängelten Verfahren, ist auch die Bedeutung der Sache für den Beschwerdeführer relevant (vgl. VfSlg 17.307/2004, 17.582/2005, 17.644/2005, 18.509/2008).

Nicht eine lange Verfahrensdauer schlechthin führt zu einer Verletzung, sondern nur eine Verzögerung, die auf Versäumnisse staatlicher Organe zurückzuführen ist. Der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ist daher keine fixe Obergrenze für die Angemessenheit der Verfahrensdauer zu entnehmen, ab deren Überschreitung jedenfalls eine Verletzung des Art6 Abs1 EMRK anzunehmen wäre (vgl. VfSlg 16.385/2001 mH auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte; VfSlg 17.821/2006, 18.066/2007, 18.509/2008).

2. Das Verwaltungsverfahren begann mit dem Antrag des Beschwerdeführers am 2. März 2000; mit Bescheid des Gemeinderates der Stadtgemeinde Kitzbühel vom 9. Jänner 2006 wurde der Antrag erstmals abgewiesen. Der das Verfahren schließlich erledigende, vom Beschwerdeführer nunmehr angefochtene Bescheid erging am 15. November 2012 und wurde dem Beschwerdeführer am 19. November 2012 zugestellt. Die Dauer des gesamten Verfahrens beträgt somit knapp über 12 Jahre und 8 Monate.

Diese ungewöhnlich lange Dauer des Verwaltungsverfahrens (vgl. etwa zur grundsätzlich unangemessenen Verfahrensdauer von 10 Jahren Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention3, 2009, Art6 Rz 249 mN aus der Rsp. des EGMR; vgl. schon zur fünfjährigen Verfahrensdauer VfSlg 16.385/2001) ist allein auf Versäumnisse staatlicher Organe zurückzuführen. Dem Beschwerdeführer kann insbesondere nicht angelastet werden, dass er zur Durchsetzung seiner Rechte – teilweise erfolgreich – Rechtsmittel ergriffen hat; er hat sogar mehrere Säumnisbehelfe ergriffen, um das Verfahren voranzutreiben. Insbesondere der erste Verfahrensabschnitt von der Stellung des Antrages (2. März 2000) bis zur Erlassung des ersten Bescheides (9. Jänner 2006) dauerte knapp sechs Jahre und erging erst nach Erhebung einer Säumnisbeschwerde durch den Beschwerdeführer an den Verwaltungsgerichtshof.

3. Da die ungewöhnlich lange Dauer des Verwaltungsverfahrens ausschließlich dem Verhalten der Behörden zuzuschreiben ist und keine für die Dauer sprechenden Gründe vorliegen – so wurden, wie der Verfahrensgang belegt, gerade keinen diffizilen Ermittlungen geführt – , ist der Beschwerdeführer in seinem durch Art6 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden.

4. Durch die (begehrte) Aufhebung des das (bisherige) überlange Verfahren (vorläufig) abschließenden, angefochtenen Bescheides würde diese Rechtsverletzung aber nicht beseitigt, sondern im Gegenteil sogar insoweit verschärft werden, als das Ende des Verfahrens noch weiter verzögert werden würde. Der Verfassungsgerichtshof hat sich deshalb auf den Ausspruch zu beschränken, dass eine Verletzung des Beschwerdeführers im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist nach Art6 Abs1 EMRK stattgefunden hat; insoweit ist folglich der Antrag, den angefochtenen Bescheid aufzuheben, abzuweisen (vgl. VfSlg 17.307/2004, 17.644/2005, 19.715/2012).

III. Ablehnung

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde in einer nicht von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossenen Angelegenheit ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die vorliegende Beschwerde rügt auch die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 B-VG). Die gerügte Rechtsverletzung wäre im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen (vgl. anders VfGH 1.10.2013, B45/2013). Die Sache ist auch nicht von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde abzusehen und sie insoweit gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist in seinem durch Art6 Abs1 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf eine Entscheidung innerhalb angemessener Frist verletzt worden.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt und insoweit dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

3. Diese Beschlüsse konnten gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung bzw. gemäß §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG gefasst werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG und enthält die Kosten im verzeichneten Ausmaß, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Beschwerdeführer im Hinblick auf die Feststellung der Verletzung des Art6 Abs1 EMRK zur Gänze durchgedrungen ist (siehe VfSlg 19.715/2012). In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,– enthalten.

Schlagworte

Verfahrensdauer überlange, Entscheidung in angemessener Zeit, Prostitution

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2013:B1566.2012

Zuletzt aktualisiert am

11.11.2013
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten