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59/04 EU - EWRNorm
Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS) Art2, Art3, Art5, Art7, Art8Leitsatz
Teils Zurück-, teils Abweisung eines Drittelantrags von Nationalratsabgeordneten auf Feststellung der Rechtswidrigkeit von Bestimmungen des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion ("Fiskalpakt"); keine Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU durch diesen völkerrechtlichen Vertrag außerhalb des Unionsrechts; staatsvertragliche Festlegung des Stimmverhaltens eines Bundesministers in einem internationalen Organ verfassungsrechtlich zulässig; keine verfassungswidrige Übertragung von Hoheitsrechten auf Organe der Europäischen Union; Zurückweisung des Antrags hinsichtlich der festgelegten Defizitgrenze als zu eng im Hinblick auf die geltend gemachten Bedenken der Beschränkung der Budgethoheit; Unzulässigkeit auch des unter einer Bedingung gestellten Eventualantrags auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des gesamten VertragsSpruch
I. Der Antrag wird, insoweit er begehrt, die Rechtswidrigkeit von Art3 Abs1 litb des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, BGBl III Nr 17/2013, festzustellen und die Beendigung der Anwendbarkeit dieser Regelung für die zuständigen österreichischen Behörden auszusprechen, zurückgewiesen. Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.
II. Der für den Fall, dass der Verfassungsgerichtshof zum Ergebnis gelangt, dass der VSKS unter analoger Anwendung von Art50 Abs1 Z2 in Verbindung mit Abs4 B-VG genehmigt hätte werden müssen, gestellte Antrag, die Rechtswidrigkeit des gesamten Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, BGBl III Nr 17/2013, festzustellen und die Beendigung der Anwendbarkeit dieser Regelung für die zuständigen österreichischen Behörden auszusprechen, wird zurückgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Antrag und Vorverfahren
1.1. Die Antragsteller beantragen gemäß Art140a B-VG, der Verfassungsgerichtshof möge "die Rechtswidrigkeit von
[…] Art2 Abs2 VSKS,
[…] Art3 Abs1 lit b VSKS,
[…] Art5 VSKS,
[…] Art7 VSKS sowie
[…] Art8 VSKS
feststellen und die Beendigung der Anwendbarkeit dieser Regelungen für die zuständigen österreichischen Behörden aussprechen; in eventu:
Für den Fall, dass der Verfassungsgerichtshof zum Ergebnis gelangt, dass der VSKS unter analoger Anwendung von Art50 Abs1 Z2 in Verbindung mit Abs4 B-VG genehmigt hätte werden müssen […]
die Rechtswidrigkeit des gesamten VSKS feststellen und die Beendigung der Anwendbarkeit des gesamten VSKS für die zuständigen österreichischen Behörden aussprechen".
1.2. Zur Begründung ihrer Antragslegitimation verweisen die Antragsteller auf Art140a iVm Art140 Abs1 B-VG und darauf, dass der Antrag von 70 Abgeordneten und somit von mehr als einem Drittel der Mitglieder des Nationalrates unterfertigt ist.
1.3. In der Sache begründen die Antragsteller ihren Antrag wie folgt (Zitat ohne Hervorhebungen im Original):
"1. Mit dem vorliegenden Antrag an den Verfassungsgerichtshof wird geltend gemacht, dass die Bestimmungen des Art2 Abs2, Art3 Abs1 lit b, Art5, Art7 sowie Art8 des Vertrages über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (idF kurz VSKS) als verfassungsändernd zu qualifizieren sind. Diese verfassungsändernden Inhalte des VSKS hätten entweder eines vorbereitenden Bundesverfassungsgesetzes bedurft oder die
Genehmigung des VSKS hätte mit einer qualifizierten (dh 2/3-)Mehrheit sowohl im Nationalrat als auch im Bundesrat erfolgen dürfen. Beides ist nicht erfolgt.
2. Der vorliegende Antrag an den Verfassungsgerichtshof (idF kurz VfGH) stützt sich in seiner Begründung voll inhaltlich auf ein Rechtsgutachten von Univ.-Prof. Dr. Stefan Griller; dieses wurde in der Zeitschrift Journal für Rechtspolitik (JRP) 2012, 177 ff veröffentlicht.
1.) Der verfassungsrechtliche Rahmen
A. Art50 B-VG nach der Novelle 2008
Seit der B-VGNov 2008[…] lautet der für die parlamentarische Genehmigung von Staatsverträgen zentrale Art50 B-VG in den hier relevanten Passagen wie folgt:
'Artikel 50. (1) Der Abschluss von
1. politischen Staatsverträgen und Staatsverträgen, die gesetzändernden oder gesetzesergänzenden Inhalt haben und nicht unter Art16 Abs1 fallen, sowie
2. Staatsverträgen, durch die die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union geändert werden,
bedarf der Genehmigung des Nationalrates.
(2) Für Staatsverträge gemäß Abs1 Z1 gilt darüber hinaus Folgendes:
…
2. Gemäß Abs1 Z1 genehmigte Staatsverträge bedürfen der Zustimmung des Bundesrates, soweit sie Angelegenheiten des selbständigen Wirkungsbereiches der Länder regeln. …
(3) Auf Beschlüsse des Nationalrates nach Abs1 Z1 und Abs2 Z3 ist Art42 Abs1 bis 4 sinngemäß anzuwenden.
(4) Staatsverträge gemäß Abs1 Z2 dürfen unbeschadet des Art44 Abs3 nur mit Genehmigung des Nationalrates und mit Zustimmung des Bundesrates abgeschlossen werden. Diese Beschlüsse bedürfen jeweils der Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder und einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen.
…'
Obwohl auf den ersten Blick nicht leicht erkennbar, dürfte doch einigermaßen unbestritten sein, dass dadurch unter anderem folgende wesentlichen Veränderungen bewirkt wurden:[…] erstens wurde eine bis dahin nicht bestehende generelle Rechtsgrundlage für die Genehmigung von Änderungen der EU-Gründungsverträge geschaffen. Solche Verträge dürfen (weiterhin) inhaltlich verfassungsändernd sein, ohne ausdrücklich als verfassungsändernd bezeichnet werden zu müssen. Gesamtänderungen durch EU-Primärrechtsänderungen bedürften hingegen eines vorbereiteten Bundesverfassungsgesetzes, welches einer Volksabstimmung gemäß Art44 Abs3 B-VG zu unterziehen wäre. Der Vertrag von Lissabon wurde bereits auf diese neue Bestimmung gestützt, und zwar ohne Gesamtänderung.
Zweitens sollte, wie vor allem den Materialien deutlich zu entnehmen ist,[…] für alle anderen völkerrechtlichen Verträge die 'verfassungsändernde Genehmigung' beseitigt werden. Die Konsequenz dieser Neuregelung besteht darin, dass inhaltlich verfassungsändernde oder -ergänzende Staatsverträge durch verfassungsänderndes Bundesverfassungsgesetz vorbereitet werden müssen.
Die erwähnten Erläuterungen zur Regierungsvorlage[…] nehmen auf diese Änderungen Bezug und qualifizieren den VSKS zutreffend als aus dem Rechtsrahmender EU herausfallend. Aus der Bezeichnung des Vertrages als gesetzändernd beziehungsweise gesetzesergänzend und der gleichzeitigen Unterlassung, eine Verfassungsänderung durch Verfassungsgesetz vorzubereiten, folgt zwingend, dass nach der von der Bundesregierung in den Erläuterungen vertretenen Auffassung der VSKS (inhaltlich) nicht verfassungsändernd- oder ergänzend ist.
Im Folgenden wird gezeigt, dass diese Auffassung unzutreffend ist.
B. Die Unanwendbarkeit von Art9 Abs2 B-VG auf die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU
1. Das Verhältnis zwischen Art9 Abs2 B-VG, dem EU-Beitritts-BVG und Art50 B-VG
Art9 Abs2 B-VG lautet in den hier wichtigen Passagen:
'Durch Gesetz oder durch einen gemäß Art50 Abs1 genehmigten Staatsvertrag können einzelne Hoheitsrechte auf andere Staaten oder zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden. ... Dabei kann auch vorgesehen werden, dass österreichische Organe der Weisungsbefugnis der Organe anderer Staaten oder zwischenstaatlicher Einrichtungen ... unterstellt werden.'
Die Bestimmung wurde durch die B-VGNov 1981[…] geschaffen und durch die BVGNov 2008[…] wesentlich verändert. An dieser Veränderung ist für die hier zu untersuchenden Fragen vor allem die Beseitigung der Beschränkung auf Hoheitsrechte 'des Bundes' bedeutsam. Nunmehr können auch einzelne Hoheitsrechte der Länder übertragen werden. Im Gegenzug wurde den Ländern in solchen Fällen das Recht eingeräumt, den Bund vor dem Abschluss eines einschlägigen Staatsvertrags durch eine einheitliche Stellungnahme zu binden. Der Bund darf von einer solchen Stellungnahme 'nur aus zwingenden außenpolitischen Gründen abweichen; er hat diese Gründe den Ländern unverzüglich mitzuteilen'.[…]
Was die allgemeinen Grundlagen betrifft genügt es zunächst festzustellen, dass 'Hoheitsrechte' im Sinne des Art9 Abs2 B-VG inhaltlich umschriebene Befugnisse des Staates sind, einseitig Befehls- und Zwangsgewalt auszuüben.[…] Diese Befugnisse können auf eine zwischenstaatliche Einrichtung 'übertragen' werden, anders gesagt: es können ihr derartige Befehls- und Zwangsbefugnisse eingeräumt werden. Art9 Abs2 B-VG ist daher für all jene Bestimmungen des VSKS von Bedeutung, durch welche den Organen der EU, nämlich hauptsächlich der Kommission und dem EuGH, derartige Befugnisse übertragen werden. Nicht von Bedeutung ist Art9 Abs2 für jene Bestimmungen des VSKS, die allein schon wegen des Inhalts ihrer Gebote oder Verbote verfassungsändernd sind; dies gilt insbesondere für die so genannte Schuldenbremse in Art3 Abs1 VSKS.
Es war (und ist bis heute) völlig unstrittig, dass die Stammfassung des Art9 Abs B-VG als Grundlage für den Beitritt zur Europäischen Union untauglich war.[…] Angesichts der bereits damals gegebenen Kompetenzfülle der Europäischen Gemeinschaften stand dem vor allem die Beschränkung auf 'einzelne' Hoheitsrechte deutlich entgegen. Im Gegenteil: unter anderem auch aus diesem Grund wurde der Beitritt als Gesamtänderung der österreichischen Bundesverfassung qualifiziert und auf der Grundlage eines gesamtändernden Bundesverfassungsgesetzes bewerkstelligt.[…]
Dieses so genannte EU-Beitritts-BVG war zugleich lex specialis zu Art50 B-VG, unter anderem insoweit, als die dort vorgesehene Verpflichtung, verfassungsändernde Bestimmungen in Staatsverträgen ausdrücklich als solche zu kennzeichnen, entfiel. Art9 Abs2 B-VG iVm Art50 B-VG hätte eine derartige Fülle inhaltlich verfassungsändernder Regelungen, wie sie im EU-Beitrittsvertrag enthalten waren, niemals decken können.[…] Er kam daher weder auf den Beitritt noch auf die nachfolgenden Primärrechtsänderungen zur Anwendung. Diese - und auch die Beitritte neuer Mitgliedstaaten - erfolgten vielmehr auf der Grundlage spezieller Bundesverfassungsgesetze. […]
Vor der B-VGNov 2008 wäre es auf Grund dieser Entwicklung, namentlich wegen des EU-Beitritts-BVG und der sonderverfassungsgesetzlichen Regelungen außerhalb des Art50 B-VG gar nicht denkmöglich gewesen — und soweit zu sehen hat dies auch niemand vorgeschlagen — Übertragungen von Hoheitsrechten auf die EU[…] auf Art9 Abs2 B-VG zu stützen. Denn dieser verweist ausdrücklich auf Art50 B-VG, der für Übertragungen auf die EU gar nicht zur Debatte stand.
Nunmehr könnte das, zumindest auf den ersten Blick, anders sein. Denn seit der B-VGNov 2008 sind auch EU-Primärrechtsänderungen, und damit die Übertragung neuer Aufgaben auf die EU, in Art50 B-VG geregelt. Durch den erwähnten -und insoweit unverändert gebliebenen - Verweis in Art9 Abs2 B-VG kommt daher die Frage ins Spiel, ob nunmehr für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU nicht auch alternativ Art9 Abs2 iVm Art50 Abs1 Z1 in Betracht kommt? Das würde die besondere Mehrheit in Art50 Abs4 B-VG entbehrlich machen.
2. Die fortgesetzte Unanwendbarkeit von Art9 Abs2 B-VG nach 2008
Durch die erwähnte B-VGNov 2008 hat sich die skizzierte Rechtslage nur insoweit geändert, als nunmehr, wie bereits erwähnt, eine generelle Rechtsgrundlage für zukünftige Vertragsänderungen besteht. Diese erübrigt spezielle Regelungen aus Anlass jeder Vertragsänderung. Sie wurde diesen Regelungen allerdings nachgebildet. Der Vertrag von Lissabon wurde bereits auf diese neue Bestimmung gestützt.
Es fehlt jeder Hinweis darauf, dass diese durch die Verfassungsnovelle 2008 bewirkte Änderung außerdem gleichzeitig eine Alternative für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU schaffen sollte, sodass diese nunmehr entweder durch die Gründungsverträge (Art50 Abs1 Z2 iVm Abs4) oder außerhalb derselben über Art9 Abs2 B-VG iVm Art50 Abs1 Z1 B-VG möglich sein sollte. Die Erläuterungen zur RV enthalten überhaupt keinen Hinweis darauf, dass der Verfassungsgesetzgeber diese weitreichende Konsequenz vor Augen gehabt haben könnte.[…] Im Gegenteil: die gleichzeitig in Art10 Abs3 B-VG eingeführte Erlaubnis, von einschlägigen einheitlichen Stellungnahmen der Länder 'nur aus zwingenden außenpolitischen Gründen abweichen' zu dürfen - und nicht auch, wie gemäß Art23d Abs2 B-VG, aus 'integrationspolitischen' Gründen -, kann nur so verstanden werden, dass derartige Staatsverträge in Angelegenheiten der europäischen Integration gar nicht zur Debatte stehen.[…] Im Übrigen dürfte man schlicht übersehen haben, dass der Einbau der generellen Genehmigungsermächtigung für EU-Primärrecht in Art50 B-VG einen solchen Gedankengang auslösen könnte.[…]
Es sprechen ferner weitere gravierende Gründe gegen den Standpunkt, dass gemäß Art9 Abs2 B-VG Hoheitsrechte auf die EU übertragen werden können: Erstens liefe dies im Ergebnis auf eine Umgehung der für Übertragungen auf die EU vorgesehenen qualifizierten Mehrheit gemäß Art50 Abs4 B-VG hinaus. Während diese Bestimmung unzweifelhaft bewirkt, dass jede Änderung der Gründungsverträge und damit jede Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU nur mittels qualifizierter Mehrheit erfolgen kann, wäre es nun möglich, durch den Abschluss eines Vertrages außerhalb der vertraglichen Grundlagen der EU genau diese verfassungsrechtliche Grenze zu vermeiden. Dies selbst dann, wenn inhaltlich zwischen den zur Debatte stehenden Regelungen nicht der geringste Unterschied besteht.
Zweitens und damit eng zusammenhängend ändert der Umstand, dass es sich konkret um wenige Ermächtigungen handeln mag nichts daran, dass bereits durch den EU-Beitritt und die nachfolgenden Vertragsänderungen eine derartige Fülle von Hoheitsrechten auf die EU übertragen wurde, das niemals von 'einzelnen Hoheitsrechten im Sinne des Art9 Abs2 B-VG gesprochen werden kann. Selbst wenn man der Auffassung […] [zuneigt], dass diese Bestimmung in Summe die Übertragung zahlreicher Hoheitsrechte auf mehrere beziehungsweise zahlreiche zwischenstaatliche Einrichtungen zulässt, so ist es doch schlechterdings unvertretbar, die Teilung solcher Übertragungsvorgänge in mehrere Verträge, jedoch auf ein und dieselbe zwischenstaatliche Einrichtung, für verfassungskonform zu halten. Unter dem Blickwinkel des Art9 Abs2 B-VG ist es dabei unerheblich, ob die zuvor erfolgten Übertragungen auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt wurden. Sondern es kommt auf die Summe an. Dies ist eine Schranke, die sich aus Art9 Abs2 B-VG alleine und damit unabhängig von den erörterten systematischen Zusammenhängen ergibt.
Drittens gibt es einige Verfassungsbestimmungen, die für sensible, in der Regel inhaltlich verfassungsergänzende Übertragungen von Hoheitsrechten auf die EU sogar dann, wenn dies innerhalb des EU-Rechtsrahmens erfolgt und die Ermächtigung bereits in den Gründungsverträgen vorgesehen ist, eine sinngemäße Anwendung von Art50 B-VG verlangen. Das gilt insb. für die Festlegung von neuen Kategorien von Eigenmitteln der EU durch den Rat,[…] für die Einführung einer gemeinsamen Verteidigung,[…] und ganz generell für Beschlüsse des Europäischen Rates oder des Rates, die EU-rechtlich erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften in Kraft treten.[…] Also: Selbst wenn in den Gründungsverträgen bereits dem Grundsatz nach eine Ermächtigung der EU enthalten ist, bedarf die Inanspruchnahme in wichtigen, 'verfassungsergänzenden' Zusammenhängen der Anwendung der Verfassungsmehrheit, wie sie in Art50 Abs4 B-VG vorgesehen ist.[…]
Jeder dieser Gründe für sich genommen, und noch mehr alle gemeinsam führen zu der Schlussfolgerung, dass Art9 Abs2 B-VG für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU nicht zur Verfügung steht.
3. Analoge Anwendung von Art50 Abs4 B-VG als Konsequenz?
Die Konsequenz des soeben begründeten Standpunkts, dass Art9 Abs2 iVm Art50 B-VG Abs1 Z1 für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU beziehungsweise ihre Organe nicht zur Verfügung steht ist nicht, dass ein solcher Vorgang von Verfassungs wegen gänzlich versperrt wäre.
Zwei Alternativen bieten sich an. Die erste ist, Art50 Abs4 B-VG sinngemäß beziehungsweise analog auf solche Vorgänge anzuwenden. Dafür sprechen erstens die oben erwähnten Verfassungsbestimmungen,[…] welche die sinngemäße Anwendung dieser Bestimmung selbst dann verlangen, wenn die Übertragung von Hoheitsrechten bereits in den Gründungsverträgen angelegt ist. In einem Größenschluss lässt sich argumentieren, dass dies umso eher der Fall sein muss, wenn eine vorherige Absicherung durch eine Genehmigung per Verfassungsmehrheit fehlt. Zweitens spricht dafür der in Art8 Abs3 VSKS[…] als Grundlage für die im VSKS vorgesehene Zuständigkeit des EuGH bezogene Art273 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen. Union (AEUV). Nach dieser Bestimmung ist der Gerichtshof 'für jede mit dem Gegenstand der Verträge in Zusammenhang stehende Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten zuständig, wenn diese bei ihm aufgrund eines Schiedsvertrages anhängig gemacht wird'. Die Inanspruchnahme dieser in den Gründungsverträgen der EU vorgesehenen Zuständigkeit des EuGH rückt den VSKS besonders stark in die Nähe des EU-Rechts und damit der oben zitierten Bestimmungen des B-VG, welche die sinngemäße Anwendung des Art50 Abs4 verlangen. Verstärkt wird dies durch Art8 Abs2 VSKS, der die Anwendung des in Art260 AEUV vorgesehenen, EU-rechtlichen Sanktionsmechanismus festschreibt. Drittens ist nicht leichtabschätzbar, inwieweit der EuGH auf der Grundlage dieser Zuständigkeiten und wegen der institutionellen Anknüpfung des VSKS an die EU-Rechtsordnung - vor allem durch die zahlreichen Anknüpfungen an den Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie die Übertragung von Aufgaben auf die Kommission, auf deren supranationales Gepräge der VSKS aufsetzt -, geneigt sein könnte, die Rechtswirkungen der Schuldenbremse, deren Umsetzung ins nationale Recht er zu überprüfen hat, an jene der EU-Rechtsordnung anzunähern. Es ist somit nicht gänzlich auszuschließen, dass der Gerichtshof bei der Inanspruchnahme dieser Zuständigkeit der Schuldenbremse gemäß Art3 VSKS im Sinne des effet utile unmittelbare Anwendbarkeit und Vorrangwirkung zuspricht. Das müsste dann ganz zweifellos die Anwendung von Art50 Abs4 B-VG auslösen.
Auf der Linie von (ähnlichen) Überlegungen der Nähe zum EU-Recht hat das deutsche Bundesverfassungsgericht kürzlich die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages auch auf den Vertrag über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) für anwendbar erklärt.[…] Das Gericht stützt sich dabei auf Art23 Abs2 Satz 1 GG: 'In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit.' Zunächst stellt das Gericht klar, dass zu diesen Angelegenheiten 'Vertragsänderungen und entsprechende Änderungen auf der Ebene des Primärrechts ... sowie Rechtsetzungsakte der Europäischen Union' zählen.[…] Darin erschöpfe sich der Anwendungsbereich der Norm jedoch nicht:
'Um Angelegenheiten der Europäischen Union kann es sich auch in anderen Fällen handeln. Insbesondere gehören völkerrechtliche Verträge unabhängig davon, ob sie auf eine förmliche Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union ... gerichtet sind, zu den Angelegenheiten der Europäischen Union, wenn sie in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Recht der Europäischen Union stehen. Wann ein solches Verhältnis vorliegt, lässt sich nicht anhand eines einzelnen abschließenden und zugleich trennscharfen Merkmals bestimmen … Maßgebend ist vielmehr eine Gesamtbefrachtung der Umstände, einschließlich geplanter Regelungsinhalte, -ziele und -wirkungen, die sich, je nach Gewicht, einzeln oder in ihrem Zusammenwirken als ausschlaggebend erweisen können, Für die Zugehörigkeit zu den Angelegenheiten der Europäischen Union kann es etwa sprechen, wenn die geplante völkerrechtliche Koordination im Primärrecht verankert oder die Umsetzung des Vorhabens durch Vorschriften des Sekundär- oder Tertiärrechts vorgesehen ist oder ein sonstiger qualifizierter inhaltlicher Zusammenhang mit einem in den Verträgen niedergelegten Politikbereich - also mit dem Integrationsprogramm der Europäischen Union - besteht, wenn das Vorhaben von Organen der Europäischen Union vorangetrieben wird oder deren Einschaltung in die Verwirklichung des Vorhabens - auch im Wege der Organleihe - vorgesehen ist oder wenn ein völkerrechtlicher Vertrag ausschließlich zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union geschlossen werden soll. Ein qualifizierter inhaltlicher Zusammenhang mit einem der primärrechtlich normierten Politikbereiche der Europäischen Union ... ' der ein Ergänzungs- oder sonstiges besonderen Näheverhältnis zum Unionsrecht begründet, wird insbesondere dann vorliegen, wenn der Sinn eines Vertragsvorhabens gerade im wechselseitigen Zusammenspiel mit einem dieser Politikbereiche liegt, und erst recht dann, wenn der Weg der völkerrechtlichen Koordination gewählt wird, weil gleichgerichtete Bemühungen um eine Verankerung im Primärrecht der Union nicht die notwendigen Mehrheiten gefunden haben[.]'[…]
Ungeachtet ihrer Schlüssigkeit sind diese Überlegungen nicht direkt auf die österreichische Rechtslage und hier vor allem auf die Genehmigung des VSKS gemäß Art50 Abs4 B-VG übertragbar. Denn die zitierte Wortwahl in Art23 Abs2 Satz 1 GG: 'in Angelegenheiten der Europäischen Union' ist zweifellos erheblich weiter als 'die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union' in Art50 Abs1 Z2 B-VG. Auch der systematische Kontext ist gänzlich unterschiedlich. Die direkte Übertragung der Überlegungen des BVerfG auf die österreichische Rechtslage und vor allem auf die Genehmigungserfordernisse gem Art50 B-VG kommt daher nicht in Betracht.
Die dahinter stehenden Überlegungen spielen freilich, wie gezeigt, auch nachdem Maßstab der österreichischen Verfassungslage eine Rolle. Hier äußern sie sich darin, dass einerseits Art9 Abs2 B-VG nicht zur Verfügung steht, und dass andererseits eine Aushöhlung der Schranken, die sich aus Art50 Abs4 B-VG ergeben, unvertretbar ist.
4. Die bundesverfassungsgesetzliche Vorbereitung von Übertragungen außerhalb des Rechtsrahmens der EU
Gegen die soeben erwogene analoge Anwendung des Art50 Abs4 B-VG auf die Genehmigung des VSKS spricht nicht nur die hervorgehobene spezifische Wortwahl in Art50 Abs1 Z2 B-VG ('die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union'), sondern auch der Umstand, dass dieser besondere Genehmigungstatbestand speziell für die EU-Rechtsordnung mit ihren besonderen Merkmalen der unmittelbaren Anwendbarkeit und Vorrangwirkung von primärem und sekundärem Recht geschaffen wurde. Die Abgrenzung der insoweit verfassungsändernden Bestimmungen ist auch bei genauester Analyse äußerst schwierig und kaum leistbar. Die Erläuterungen des EU-Beitritt-BVG bringen dies als Grund für die eingeschlagene Vorgangsweise deutlich zum Ausdruck.[…] Die Ausnehmung der vertraglichen Grundlagen von der Pflicht zur Bezeichnung als verfassungsändernd ist insoweit adäquat. Das gilt aber nicht für 'traditionelle' völkerrechtliche Verträge, die zwar ebenfalls Hoheitsrechte auf die EU übertragen, sonst aber keine dem EU-Recht vergleichbare Rechtsordnung kreieren.[…] Überdies liefe eine analoge Anwendung des Art50 Abs4 einem der Hauptziele der B-VGNov 2008 entgegen, verfassungsändernde Inhalte in Staatsverträgen, die nicht die Grundlagen der EU regeln, zukünftig auszuschließen.
Angesichts dieser Umstände ist die zweite Alternative besser vertretbar. Sie erfordert, wie es dem neuen Konzept des Artikels 50 B-VG für außerhalb der EU-Rechtsordnung abzuschließende völkerrechtliche Verträge entspricht, die Vorbereitung eines solchen Vorgangs durch ein Bundesverfassungsgesetz gemäß Art44 B-VG. Dafür spricht vor allem auch, dass diese Alternative mit dem zentralen Regelungszweck des Art50 Abs4 B-VG, die Übertragung von Aufgaben auf die EU nur mit qualifizierter Mehrheit zu erlauben, vereinbar ist. Denn genau hinsichtlich dieser qualifizierten Mehrheit - der 'Verfassungsmehrheit' - wird dadurch der Gleichklang mit Art50 Abs4 B-VG hergestellt, was systematisch stimmig ist. Gleichzeitig ist es nicht erforderlich, sämtlichen Bestimmungen des Vertrages Verfassungsrang zu verschaffen.[…] Vielmehr genügt dies für jene, die inhaltlich tatsächlich verfassungsändernd sind.
Diese Überlegungen führen zum Ergebnis, dass die besseren Gründe dafür sprechen, dass der Abschluss des VSKS beziehungsweise jener seiner Bestimmungen, die inhaltlich verfassungsändernd sind, durch ein Bundesverfassungsgesetz so vorbereitet werden muss, dass der Abschluss des Vertrages selbst dann keine Verfassungsänderung mehr bewirkt.
C. BVG über die Ermächtigung des Österreichischen Gemeindebundes und des Österreichischen Städtebundes
Zur besseren Bewältigung der mit der EU-Mitgliedschaft verbundenen, alle Gebietskörperschaften umfassenden Pflicht, ein übermäßiges Defizit zu vermeiden, wurde im Anschluss an den EU-Beitritt ein besonderes Bundesverfassungsgesetz beschlossen. Dieses 'Bundesverfassungsgesetz über Ermächtigungen des Österreichischen Gemeindebundes und des Österreichischen Städtebundes'[…] bildet vor allem die Grundlage dafür, dass Bund, Länder und Gemeinden untereinander einen 'Stabilitätspakt' abschließen.[…]
Diesbezüglich bestimmt Art1 Abs3 dieses BVG:
'Der Stabilitätspakt regelt Verpflichtungen der Gebietskörperschaften zur nachhaltigen Einhaltung der Kriterien gemäß Art104c EG-Vertrag [nach dem Vertrag von Lissabon: Art126 AEUV, Anmerkung SG] durch die öffentlichen Haushalte der Republik Österreich (Bund, Länder, Gemeinden und Träger der Sozialversicherung gemäß den Regeln des europäischen Systems der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung), insbesondere im Hinblick auf die Regeln des Sekundärrechts über die Haushaltsdisziplin; diese Vereinbarung hat auch die Schaffung einer Regelung über die Aufteilung der Lasten auf Bund, Länder und Gemeinden zu enthalten, die aus allfälligen Sanktionen gegen Österreich im Sinne des Art104c Abs9 bis 11 EG-Vertrag resultieren.'
Die Bestimmung wurde erst im Zuge der Beratungen im Nationalrat in den Text der Gesetzesvorlage (Regierungsvorlage) eingefügt. Im Bericht des Verfassungsausschusses heißt es dazu allgemein: '… Dies bedeutet, wie die Debatte zeigte, unter anderem, dass die Vereinbarungen gemäß Art50 der Genehmigung des National- bzw. Bundesrates bedürfen und diese Genehmigung der Zweidrittelmehrheit des Nationalrates bedarf, soweit durch die Vereinbarungen Verfassungsrecht geändert oder ergänzt wird.'[…] Allerdings bezieht sich diese Passage deutlich auf die organisatorischen Aspekte dieser Koordinierung, wie sie in Art2 genauer geregelt sind. Auf die Ermächtigung, sekundärrechtliche Vorgaben des Unionsrechts umzusetzen, kann sich dies nicht erstrecken. Art1 Abs3 wäre sonst sinnlos. Will man dem Verfassungsgesetzgeber keine derartige sinnlose Regelung unterstellen, muss der zitierte Art1 Abs3 des BVG dahingehend interpretiert werden, dass er Umsetzungen von EU-Sekundärrecht auch dann ohne ausdrückliche Verfassungsänderung erlaubt, wenn inhaltlich österreichisches Budgetrecht verändert oder ergänzt wird.
Für unsere Zusammenhänge ist dieser Umstand insofern bedeutsam, als die Umsetzung von EU-rechtlichen Verpflichtungen im Anwendungsbereich des Art1 Abs3 dieses BVG auch dann keiner verfassungsgesetzlichen Bestimmung bedarf, wenn es sich dabei, inhaltlich betrachtet, um Verfassungsänderungen handelt. Der weithin anerkannte, wenngleich in den Details sehr umstrittene Grundsatz von der 'doppelten rechtlichen Bindung' oder 'doppelten rechtlichen Bedingtheit',[…] wonach die Durchführung von EU-Recht in Österreich sowohl den Bestimmungen des EU-Rechts als auch jenen der österreichischen Verfassung entsprechen muss, die daher im Konfliktfall geändert werden muss, spielt im Anwendungsbereich dieses speziellen BVG daher keine beschränkende Rolle.
Für den VSKS bedeutet das folgendes: soweit sekundärrechtliche EU-Rechtsakte, namentlich im Rahmen des so genannten 'sixpack' aus dem Jahr 2011 inhaltlich gleich lautende Verpflichtungen enthalten, erfordert deren Durchführung in Österreich - etwa im Rahmen des österreichischen Stabilitätspaktes -, und damit auch die Genehmigung des VSKS, keine weitere Verfassungsänderung. Unter diesen Umständen ist es wichtig herauszuarbeiten, inwieweit der VSKS über die bereits bestehenden sekundärrechtlichen Verpflichtungen hinausreicht. Denn nur insoweit bedarf sein Abschluss einer Vorbereitung durch Verfassungsgesetz.
2.) Der europarechtliche Hintergrund: Der Stabilitäts-und Wachstumspakt nach dem 'sixpack'
Im Gefolge der Banken-, Finanz- und Schuldenkrise, die 2007/08 in den USA ihren Ausgang genommen und beinahe die ganze Welt erfasst hat, wurde in der EU und durch deren Mitgliedstaaten ein Bündel von Maßnahmen ergriffen, um gegenzusteuern und zukünftige ähnliche Entwicklungen auszuschließen oder schwieriger zu machen. Zu diesen Maßnahmen zählt die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP), der 1997 hauptsächlich auf Betreiben Deutschlands zur Konkretisierung der wirtschaftspolitischen Pflichten der EU-Mitgliedstaaten, und namentlich zur Konkretisierung der Pflicht zur Vermeidung übermäßiger Defizite (nunmehr: Art126 AEUV) geschaffen wurde. Dieser Pakt besteht hauptsächlich aus zwei Verordnungen: der VO 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken,[…] der so genannten präventiven Komponente des SWP, und der VO 1467/97 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit,[…] der sogenannten repressiven oder korrektiven Komponente des SWP.
Die Verschärfung erfolgte durch sechs ineinandergreifende sekundärrechte Maßnahmen, die gegen Ende des Jahres 2011 erlassen wurden, im Jargon der so genannte 'sixpack'. Im Einzelnen handelt es sich um eine Richtlinie und fünf Verordnungen, zwei davon zur direkten Abänderung der älteren SWP-Verordnungen, die anderen zu deren Ergänzung:
• RL 2011/85 über die Anforderungen an die haushaltspolitischen Rahmen der Mitgliedstaaten
• VO 1173/2011 über die wirksame Durchsetzung der haushaltspolitischen Überwachung im Euro-Währungsgebiet
• VO 1174/2011 über Durchsetzungsmaßnahmen zur Korrektur übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte im Euro-Währungsgebiet
• VO 1175/2011 zur Änderung der VO 1466/97 (präventive Komponente des SWP)
• VO 1176/2011 über die Vermeidung und Korrektur makroökonomischer Ungleichgewichte
• VO 1177/2011 zur Änderung der VO 1467/97 (repressive/korrektive Komponente des SWP)
Auf die Details dieser neuen Rechtslage braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden. Vor dem dargestellten verfassungsrechtlichen Hintergrund ist sie insoweit bedeutsam, als die Umsetzung der sich aus diesen Maßnahmen ergebenden Verpflichtungen keiner formellen Verfassungsänderung mehr bedarf, selbst wenn es sich dabei, inhaltlich betrachtet, sehr wohl um Verfassungsänderungen handelt. Dies wiederum ist für die Beurteilung des VSKS von eminenter Bedeutung. Denn soweit die in diesem Vertrag verankerten Verpflichtungen über jene aus dem 'sixpack' nicht hinausgehen, braucht es ebenfalls keine Verfassungsänderung. Die Maßnahmen können dann als (verfassungsrechtlich bereits abgesicherte) Umsetzung des 'sixpack' qualifiziert werden.
Das ist insofern besonders wichtig, weil der VSKS nur einen Bruchteil der ursprünglich ins Auge gefassten, durchaus ambitionierten Maßnahmen auch tatsächlich enthält. Was übrig geblieben ist findet sich beinahe zur Gänze auch bereits im 'sixpack'.
Illustriert sei dies an der sehr bedeutsamen und inhaltlich zugleich sehr umstrittenen Schuldenabbauautomatik gemäß Art4 VSKS. Sie verpflichtet Mitgliedstaaten mit einem gesamtstaatlichen Schuldenstand von mehr als 60 % dazu, dieses Defizit 'gemäß Artikel 2 der Verordnung (EG) Nr 1467/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit in der durch die Verordnung (EU) Nr 1177/2011 des Rates vom 8. November 2011 geänderten Fassung als Richtwert um durchschnittlich ein Zwanzigstel jährlich' zu verringern. In dem bezogenen Art2 der VO 1467/97 findet sich seitdem 'sixpack' ein Abs1a Unterabsatz 1, der die Überschreitung des 60 %-Kriteriums unter folgenden Bedingungen für vertragskonform erklärt: 'Wenn das Verhältnis des öffentlichen Schuldenstands zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) den Referenzwert überschreitet, so kann davon ausgegangen werden, dass das Verhältnis im Sinne von Artikel 126 Absatz 2 Buchstabe b AEUV hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert, wenn sich als Richtwert der Abstand zum Referenzwert in den letzten drei Jahren jährlich durchschnittlich um ein Zwanzigstel verringert hat, bezogen auf die Veränderungen während der letzten drei Jahre, für die die Angaben verfügbar sind.'
Die Verpflichtungen aus diesen beiden Bestimmungen erscheinen so gut wie deckungsgleich.[…] Ihre Umsetzung ins österreichische Recht ist daher durch das BVG über die Ermächtigung des Österreichischen Gemeindebundes und des Österreichischen Städtebundes[…] gedeckt und bedarf keiner (weiteren) Verfassungsänderung.
3.) Beurteilung des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS - 'Fiskalpakt')
A. Einleitung
Dieser Vertrag ist neben dem 'sixpack' eine weitere Maßnahme, um insbesondere der seit 2007/08 massiv verschärften Schuldenkrise in vielen EU-Mitgliedstaaten gegenzusteuern. Ursprünglich war in Aussicht genommen worden,[…] eine Änderung der Gründungsverträge durchzuführen. Dies scheiterte ebenso am Widerstand Großbritanniens wie später die Überlegung, wesentliche Inhalte sekundärrechtlich einzuführen. Schließlich wurde aus diesen Gründen der hier zu beurteilende Vertragstext am 30. Jänner 2012 von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet, genauer: von 25 der 27, da Großbritannien und die Tschechische Republik daran nicht teilnehmen wollen. Insofern ist der Vertrag keine[r] im Sinne des Art50 Abs1 Z2 B-VG, durch den 'die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union geändert werden' Das wäre nur bei einer Vertragsänderung unter Beteiligung aller Mitgliedstaaten gemäß Art48 EUV der Fall.
Inhaltlich ist der Kern des Vertrags, nach erheblichen Abstrichen von den ursprünglich ins Auge gefassten Maßnahmen, die in seinem Art3 enthaltene Schuldenbremse - mit einer jährlichen strukturellen Höchstverschuldung von 0,5 % des BIP - und Schuldenabbauautomatik - mit der Pflicht, jährlich ein 1/5 der Schulden abzubauen, die über die zulässigen 60 % des BIP an gesamtstaatlichen Schulden hinausgehen.
Im Folgenden ist daher zu klären, inwieweit der VSKS über die Verpflichtungen aus dem 'sixpack' hinausgeht, und inwieweit er die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU enthält, und sei es auch bloß zur 'Verbesserung der Effizienz' sonst unverändert gebliebener Pflichten. Es sind vor allem diese beiden Punkte, die 'Verfassungspotenzial besitzen, also eine Verfassungsänderung in Österreich erforderlich machen könnten.
B. Verfassungsändernde oder -ergänzende Bestimmungen
1. Die Schuldenbremse (Art3 Abs1 lit b VSKS)
a) Wesentlicher Inhalt
Art3 VSKS verlangt von den Vertragsparteien 'zusätzlich' zu den und 'unbeschadet' der sich aus EU-Recht ergebenden Verpflichtungen, dass der gesamtstaatliche Haushalt ausgeglichen sein oder einen Überschuss aufweisen muss. Diese Regel gilt dann als eingehalten,
'wenn der jährliche strukturelle Saldo des Gesamtstaats[…] dem länderspezifischen mittelfristigen Ziel im Sinne des geänderten Stabilitäts- und Wachstumspakts, mit einer Untergrenze von einem strukturellen Defizit von 0,5% des Bruttoinlandsprodukts zu Marktpreisen, entspricht.' (Art3 Abs1 lit b VSKS).
Unter bestimmten Voraussetzungen: nämlich wenn das Verhältnis zwischen öffentlichem Schuldenstand und Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen 'erheblich unter 60 %' liegt und 'die Risiken für die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen gering' sind, kann die Untergrenze des mittelfristigen Ziels ein strukturelles Defizit von maximal 1 % des Bruttoinlandsprodukts zu Marktpreisen erreichen.[…] Für Österreich spielt diese Bestimmung in den nächsten Jahren angesichts des Umstands; dass die Gesamtverschuldung für Ende 2012 mit etwa 74 % des Bruttoinlandsprodukts geschätzt wird,[…] keine Rolle.
Zum Vergleich: auch der Ende 2011 durch den 'sixpack' erheblich geänderte Stabilitäts- und Wachstumspakt enthält bereits eine sehr ähnliche Schuldenbremse: Art2a der Verordnung 1466/97[…] spricht von einem
'länderspezifischen mittelfristigen Haushaltsziel für die teilnehmenden Mitgliedstaaten … innerhalb einer konkreten Spanne, die konjunkturbereinigt und ohne Anrechnung einmaliger und befristeter Maßnahmen zwischen -1 % des BIP und einem ausgeglichenen oder einen Überschuss aufweisenden Haushalt liegt.'
Trotzdem es sich dabei um eine EU-Verordnung handelt, ist diese gemäß ihrer eigenen ausdrücklichen Anordnung grundsätzlich nicht unmittelbar anwendbar, sondern umsetzungsbedürftig. Das erklärt sich vor allem daraus, dass sich die Vorgabe auf den Gesamtstaat bezieht, dem es überlassen bleibt, welcher seiner Teile (Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungsträger usw.) in welchem Ausmaß zur Zielerreichung beizutragen haben. Daher sieht Art2a die Aufnahme dieses mittelfristigen Haushaltsziels in den nationalen mittelfristigen Haushaltsrahmen vor.[…]
Der inhaltliche Unterschied zwischen der Schuldenbremse im VSKS und jener im reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt ist also die zulässige Obergrenze des strukturellen Defizits: Einmal 0,5 %, im SWP hingegen 1 %.
b) Verfassungsänderung
Es ist üblich, das Recht des Nationalrates, über den von der Bundesregierung vorzulegenden Entwurf des Bundesfinanzrahmengesetzes sowie des Bundesfinanzgesetzes in Gesetzesform zu beschließen, als 'Budgethoheit' des Nationalrates zu bezeichnen.[...] Von besonderer Bedeutung ist dabei nicht bloß der Umstand der Entscheidungsbefugnis als solcher, sondern auch die politische Gestaltungsbefugnis, die dem Nationalrat dabei eingeräumt ist. Art51 B-VG, der 'Sitz' der Budgethoheit, enthält dazu so gut wie überhaupt keine Einschränkungen. Solche ergeben sich allerdings hauptsächlich einerseits aus Art126b Abs5 B-VG, der die Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit enthält. Andererseits erlegt Art13 Abs2 B-VG Bund, Ländern und Gemeinden die Pflicht auf, 'bei ihrer Haushaltsführung die Sicherstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes und nachhaltig geordnete Haushalte anzustreben.' Überdies haben sie ihre Haushaltsführung in Hinblick auf diese Ziele zu koordinieren. Mit dem 'gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht' ist das so genannte 'magische Vieleck' angesprochen, bestehend aus einem ausgewogenen Wirtschaftswachstum, Preisstabilität, einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung, sozialem Fortschritt und Umweltschutz.[…]
Diese den Nationalrat bei der Budgeterstellung bindenden Grenzen haben zweifellos steuernde Wirkung. Der verbleibende Spielraum ist aber erheblich und schließt —worauf es hier ankommt — das Eingehen von Defiziten mit ein, sofern diese sachlich begründet werden können und mit den Grundsätzen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sowie nachhaltig geordneter Haushalte vereinbar sind. Dabei ist die Koordinierung mit den Ländern und Gemeinden geboten.
Durch die Regeln des SWP und jene des VSKS wird die skizzierte Handlungsfreiheit über das von der Verfassung verlangte Ausmaß hinaus eingeschränkt. Das gilt nicht nur für den Bund, sondern auch für die Länder und Gemeinden, die insofern gemeinsam eine Koordinierungspflicht zu beachten haben.
Die Schuldenbremse im SWP, und ihre Umsetzung durch den österreichischen Stabilitätspakt, ist auf der Grundlage des dargestellten besonderen Bundesverfassungsgesetzes[…] verfassungsrechtlich erlaubt, obwohl sie die Budgethoheit des Nationalrates — beziehungsweise genauer: alle Gebietskörperschaften — beschränkt. Das gilt aber nicht für die Schuldenbremse im VSKS, weil es sich dabei um einen völkerrechtlichen Vertrag außerhalb des Rechtsrahmens der EU handelt. Diese ist, wie bereits dargestellt, mit einer Obergrenze des strukturellen Defizits von 0,5 %, strenger als jene im SWP, der 1 % erlaubt.
Ökonomisch mag der Unterschied zwischen 1 % und 0,5 % - im Hinblick auf die unvermeidliche Prognoseunsicherheit nicht besonders schwer wiegen. Verfassungsrechtlich ist die Verschärfung der Vorgabe jedoch nicht zu leugnen.
Aus diesem Grund ist Art3 Abs1 lit b VSKS verfassungsändernd. Er ändert beziehungsweise ergänzt Art13 Abs2 B-VG.[…] Da es seit 2008 verfassungsändernde Staatsverträge nicht mehr geben darf, muss der Abschluss dieser Bestimmung durch ein Bundesverfassungsgesetz vorbereitet werden.
2. Feststellung eines übermäßigen Defizits (Art7 VSKS)
a) Wesentlicher Inhalt
Art7 VSKS lautet:
'Die Vertragsparteien, deren Währung der Euro ist, verpflichten sich unter uneingeschränkter Einhaltung der Verfahrensvorschriften der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht, zur Unterstützung der Vorschläge oder Empfehlungen der Europäischen Kommission, in denen diese die Auffassung vertritt, dass ein Mitgliedstaat der Europäischen Union, dessen Währung der Euro ist, im Rahmen eines Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit gegen das Defizit-Kriterium verstößt. Diese Verpflichtung entfällt, wenn zwischen den Vertragsparteien, deren Währung der Euro ist, feststeht, dass eine analog zu den einschlägigen Bestimmungen der Verträge, auf denen die Europäische Union beruht, unter Auslassung des Standpunkts der betroffenen Vertragspartei ermittelte qualifizierte Mehrheit von ihnen gegen den vorgeschlagenen oder empfohlenen Beschluss ist.'
Der hier relevante Art126 AEUV sieht im Falle übermäßiger Defizite eines Mitgliedstaats ein mehrstufiges, einigermaßen schwerfälliges Verfahren vor, an dessen Ende die Verhängung einer Geldbuße gegen einen Mitgliedstaat stehen kann, der die vorangegangenen 'Warnungen' missachtet. Auf der Grundlage des Art126 AEUV werden die relevanten Maßnahmen durch den Rat erlassen, der grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit beschließt. Durch den 'sixpack' wurde dieses Verfahren teilweise ergänzt und vor allem dadurch in seiner Effizienz erheblich verbessert, dass in einigen Fällen an die Stelle der qualifizierten Mehrheit im Rat ein 'Verfahren der umgekehrten qualifizierten Mehrheit' ('reverse qualified majority voting') tritt. Dies gilt unter anderem auch im für den VSKS besonders einschlägigen präventiven Teil des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Unterlässt es ein Mitgliedstaat etwa, Empfehlungen des Rates zu entsprechen, und stellt dieser das durch Beschluss fest, so empfiehlt die Kommission dem Rat, mit einem weiteren Beschluss von dem betreffenden Mitgliedstaat zu verlangen, bei der Kommission eine verzinsliche Einlage in Höhe von 0,2 % des BIP des Vorjahres zu hinterlegen. Hier setzt nun das 'reverse qualified majority voting' ein: 'Wird die Empfehlung der Kommission nicht innerhalb von zehn Tagen nach ihrer Annahme durch die Kommission vom Rat mit qualifizierter Mehrheit abgelehnt, so gilt der Beschluss, die Hinterlegung zu verlangen, als vom Rat angenommen.'[…] Mit der gleichen Mehrheit könnte der Rat die Empfehlung der Kommission auch abändern.[…]
Für den wichtigen, die Basis dieses mehrstufigen Verfahrens bildenden Beschluss des Rates gemäß Art126 Abs6 AEUV, auf Vorschlag der Kommission festzustellen, ob tatsächlich ein übermäßiges Defizit besteht oder nicht, wurde im 'sixpack' keine derartige Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse festgelegt. Diesbezüglich blieb es also beim Erfordernis der qualifizierten Mehrheit im Rat für den Vorschlag der Kommission. Art7 VSKS ändert dies nun, und führt für die Vertragsstaaten auch in diesem Fall die Umkehrung der Mehrheit ein. Nur wenn eine qualifizierte Mehrheit gegen den Vorschlag der Kommission zu Stande kommt, ist ein entsprechendes Stimmverhalten zulässig. Andernfalls, also wenn die Kommission der Meinung ist, dass ein übermäßiges Defizit vorliegt, besteht eine vertragliche Verpflichtung, im Rat in diesem Sinne zustimmen.[…]
b) Verfassungsänderung
Der verfassungsändernde Charakter dieser Bestimmung ergibt sich daraus, dass der österreichische Vertreter im Rat, also in der Regel der österreichische Minister, dazu verpflichtet wird, grundsätzlich immer 'mit der Kommission' zu stimmen. Das gibt der Kommission eine Art Weisungsbefugnis gegenüber dem österreichischen Vertreter im Rat. Als oberstes Organ der Verwaltung gemäß Art69 Abs1 B-VG ist der Minister aber grundsätzlich an keine Weisungen gebunden. Bei der Kommission handelt es sich überdies um ein Organ der EU, welches nicht in den österreichischen Verwaltungsaufbau eingegliedert ist. Die spezielle verfassungsrechtliche Rechtfertigung, die für solche Vorgänge innerhalb der EU über das EU-Beitritts-BVG[…] zur Verfügung steht, fehlt hier. Denn die besondere Befugnis der Kommission speist sich über den VSKS aus einem Vertrag außerhalb des EU-Rechtsrahmens.
Darüber hinaus ist auf folgendes hinzuweisen: bei der hier zur Debatte stehenden Feststellung eines übermäßigen Defizits handelt es sich ganz zweifellos um eine verbindliche Maßnahme innerhalb des EU-Rechtsrahmens. Lediglich die diesbezügliche Bindung des österreichischen Ministers soll durch einen Rechtsakt hergestellt werden, der außerhalb des EU-Rechts angesiedelt ist. Ungeachtet dieser Besonderheit handelt es sich bei einem Vorschlag, der auf die Feststellung eines übermäßigen Defizits gemäß Art126 Abs6 AEUV gerichtet ist, zweifellos um ein Vorhaben im Sinne des Art23e Abs1 B-VG. Bezüglich eines solchen Vorhabens besteht das Recht des Nationalrats, gemäß Abs3 der zitierten Bestimmung eine Stellungnahme zu erlassen, an die der zuständige Bundesminister gebunden ist. Er darf 'nur aus zwingenden integrations- und außenpolitischen Gründen von dieser Stellungnahme abweichen'.[…]
Dieses Recht des Nationalrats, den zuständigen Bundesminister durch eine Stellungnahme in seinem Abstimmungsverhalten zu binden wird durch Art7 VSKS konterkariert. Nunmehr soll sich unter den skizzierten Bedingungen grundsätzlich immer der Standpunkt der Kommission durchsetzen. Für eine bindende Stellungnahme des Nationalrats bleibt insoweit kein Raum mehr. Art7 VSKS ändert daher auch Art23e Abs3 B-VG.
Für diese Überlegung ist es gar nicht erforderlich, den Gedanken nach einer Umgehungskonstruktion genauer zu untersuchen. Denn selbstverständlich liegt es ganz grundsätzlich nahe zu prüfen, ob das Ausweichen in einen Vertrag, für den Verfassungsbestimmungen unanwendbar werden, die innerhalb des EU-Rechts gelten, nicht als Umgehung zu qualifizieren ist. Das könnte dann entweder die Rechtswidrigkeit des Vertrags oder die analoge Anwendung der einschlägigen Bestimmungen zur Folge haben. Die obige Überlegung ist davon aber zu unterscheiden: es ist hervorzuheben, dass durch die Bindung an den Vorschlag der Kommission eine etwaige Stellungnahme des Nationalrates gemäß Art23e Abs3 B-VG gegenstandslos wäre beziehungsweise durch den Vorschlag der Kommission verdrängt würde. Darin liegt eine 'direkte' Änderung des Art23e Abs3 B-VG.
c) Rechtfertigung über Art9 Abs2 B-VG?
Es wurde bereits ausgeführt, dass Art9 Abs2 B-VG für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU nicht zur Verfügung steht.[…] Selbst wenn man die Befugnis der Kommission, die Übermäßigkeit des Defizits 'verbindlich festzustellen' als grundsätzlich einschlägige Anordnungsbefugnis qualifiziert, scheitert die Rechtfertigung an dieser Schranke.
Zweitens ist – selbst wenn man dies anders sehen wollte – die Bindung an den Vorschlag der Kommission mindestens im engeren Sinn keine Übertragung von Hoheitsrechten. Der Kommission wird keine Aufgabe übertragen, die sie vorher nicht besessen hätte. Dem zuständigen Minister wird auch nicht die Aufgabe abgenommen, Österreich im Rat der EU zu vertreten. Es wird allerdings der Charakter der Aufgabe der Kommission dadurch geändert, dass der Vorschlag seinen grundsätzlich unverbindlichen Charakter ändert und - mit der skizzierten Grenze einer qualifizierten Mehrheit dagegen – in eine verbindliche Vorgabe umschlägt. Es ist zweifelhaft, ob Art9 Abs2 B-VG auf eine solche Konstellation angewendet werden kann.[…]
3. Die salvatorische Klausel (Art2 Abs2 VSKS)
Art2 Abs2 VSKS lautet:
'Dieser Vertrag gilt insoweit, wie er mit den Verträgen, auf denen die Europäische Union beruht, und mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar ist. Er lässt die Handlungsbefugnisse der Union auf dem Gebiet der Wirtschaftsunion unberührt.'
Die Bestimmung dient dazu, den Vertrag gegenüber den zahlreichen gegen ihn vorgetragenen europarechtlichen Bedenken zu immunisieren.[…] Ihr verfassungsrechtlicher Gehalt birgt jedoch ungeahnte Sprengkraft: um zu beurteilen, ob eine Bestimmung des Vertrages 'gilt', also auch, ob sie von den Organen eines Mitgliedslandes angewendet werden darf oder nicht, muss der Vertrag am Maßstab des gesamten Unionsrechts geprüft werden. Das zwingt etwa den Nationalrat, bei der Berücksichtigung der Schuldenbremse (0,5%) zu prüfen, ob sie nicht EU-rechtswidrig ist. In einem solchen Fall dürfte er sie bei der Budgeterstellung nicht berücksichtigen. Verfassungsrechtlich weit reichend ist dies nicht nur dann, wenn tatsächlich eine Rechtswidrigkeit vorliegt. Es genügt schon, dass auf diese Art und Weise eine neuartige und umfassende Normenkontrollkompetenz geschaffen wird, die vor jeder Anwendung des Vertrages zu beachten ist.
Bei jenen Bestimmungen, gegen die keine derartigen Bedenken ersichtlich sind, mag dies theoretisch erscheinen. Es gibt jedoch zahlreiche Regelungen des Vertrages, gegen die europarechtliche Bedenken vorgetragen werden. Es ist dabei gleichgültig, ob die behaupteten Rechtswidrigkeiten Verstöße gegen unmittelbar anwendbares oder gegen nicht unmittelbar anwendbares Unionsrecht betreffen. Es kommt auch nicht darauf an, ob (gleichzeitig) ein Verstoß gegen österreichisches Verfassungsrecht in Betracht kommt. Europarechtswidrigkeit allein reicht aus.
Es ist hervorzuheben, dass die durch Art7 VSKS kreierte Kontrollaufgabe über jene weit hinausgeht, die EU-rechtlich besteht. Denn der Vorrang des EU-Rechts, der ebenfalls dazu zwingen könnte, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, erstreckt sich nur auf unmittelbar anwendbares Recht.[…] Das ist ein wesentlicher Unterschied. Der zweite wesentliche Unterschied ist demgegenüber weniger gravierend, wenn auch keineswegs unbeachtlich: Während der EU-rechtliche Anwendungsvorrang die Geltung des verdrängten nationalen Rechts unberührt lässt, enthält Art7 VSKS für den Konfliktfall die Anordnung einer Geltungsbeendigung. De facto macht dies freilich keinen sehr großen Unterschied.
Dies sei bloß am bereits erwähnten Art7 VSKS illustriert. Gegen diese Bestimmung besteht das (überzeugende) Bedenken, dass sie eine Vertragsänderung von Art126 Abs6 AEUV enthält. Denn der Vertrag erfordert eine qualifizierte Mehrheit im Rat für den Vorschlag der Kommission, während die in Art7 VSKS enthaltene Regel eine Mehrheit gegen diesen Vorschlag notwendig macht. Dies ist kein technisches Detail, sondern eine Verschiebung der Entscheidungsmacht vom Rat zur Kommission. Selbst wenn der Rat untätig bleibt kommt ein Beschluss zu Stande, als ob er gehandelt hätte.
Art2 Abs2 VSKS zwingt nun den zuständigen Bundesminister dazu, die EU-Vertragskonformität zu beurteilen und den Vorschlag der Kommission außer Acht zu lassen, wenn er die Regelung als rechtswidrig qualifiziert. Dies ist wie erwähnt eine neuartige Verpflichtung zur Normenkontrolle für grundsätzlich alle Organe der österreichischen Rechtsordnung, die in die Lage kommen könnten, den VSKS anzuwenden. Es bedarf einer Verfassungsänderung, eine solche neue Aufgabe einzuführen.
4. Die Übertragung von Hoheitsrechten
a) Grundsätzliches
Wie bereits mehrfach ausgeführt steht Art9 Abs2 B-VG für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU nicht zur Verfügung. Soweit, wie beim VSKS, auch Art50 Abs1 Z2 iVm Abs4 B-VG nicht zur Verfügung steht, bedarf eine Übertragung von Hoheitsrechten daher einer vorbereitenden Verfassungsänderung gemäß Art44 […] [B-VG].
Der VSKS enthält an mehreren Stellen die Einräumung von Befugnissen an Organe der EU, die als Übertragung von Hoheitsrechten qualifiziert werden müssen. Eine davon, nämlich die Befugnis der Kommission gemäß Art7 VSKS, wurde wegen ihrer Besonderheiten auch in dieser Hinsicht bereits erwähnt.
Daneben enthält der Vertrag noch zwei einschlägige Regelungen. Auf sie soll hier nur hingewiesen werden, ohne sie genauer zu analysieren. Das verbindende Element ist immer die Einräumung von Entscheidungsbefugnissen, für die eine Verfassungsänderung erforderlich ist, wenn sie außerhalb der Gründungsverträge auf die EU erfolgt:
• Befugnis des EuGH, über den Vorwurf der unzureichenden Umsetzung der Schuldenbremse in das nationale Recht zu entscheiden und allenfalls Sanktionen festzulegen (Art8 VSKS);[…]
• Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ein derartiges Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, wenn die Kommission der Auffassung ist, dass ein Verstoß vorliegt (Art8 Abs1 VSKS) — dies läuft auf die Befugnis der Kommission hinaus, die Einleitung eines solchen Verfahrens anzuordnen.[…]
b) Die Genehmigung von Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogrammen
Eine Besonderheit enthält der ebenfalls einschlägige Art5 VSKS, weshalb auf ihn noch etwas genauer eingegangen werden soll. Sein Abs1 lautet:
'Eine Vertragspartei, die gemäß den Verträgen, auf denen die Europäische Union beruht, Gegenstand eines Defizitverfahrens ist, legt ein Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramm auf, das eine detaillierte Beschreibung der Strukturreformen enthält, die zur Gewährleistung einer wirksamen und dauerhaften Korrektur ihres übermäßigen Defizits zu beschließen und umzusetzen sind. Inhalt und Form dieser Programme werden im Recht der Europäischen Union festgelegt. Sie werden dem Rat der Europäischen Union und der Europäischen Kommission im Rahmen der bestehenden Überwachungsverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts zur Genehmigung vorgelegt werden und auch innerhalb dieses Rahmens überwacht werden.'[…]
Genauere Regelungen über solche Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme gibt es jedoch noch nicht. Sie befinden sich in der Vorbereitungsphase, nämlich im Rahmen von zwei Folgemaßnahmen des 'sixpack', im Jargon 'twopack' genannt. Dabei handelt es sich um Vorschläge für zwei ergänzende EU-Verordnungen.[…]
Solange eine sekundärrechtliche Regelung fehlt erscheint Art5 VSKS im Hinblick auf Abs1 Satz 2 unanwendbar.
Für den Zeitraum danach ist die Rechtslage in hohem Maße unbestimmt. Denn bisher ist noch nicht klar abschätzbar, inwieweit neue Genehmigungstatbestände eingeführt werden.[…] Sollte dies nicht geschehen, also im Rahmen des neuen EU Sekundärrechts keine Genehmigungserfordernisse bestehen, könnte Art5 VSKS einen neuen und zusätzlichen Genehmigungstatbestand für solche Programme enthalten.
Das könnte man nur vermeiden, wenn man in einem solchen Fall den Ausdruck 'Genehmigung' in Art5 VSKS wegen der Passage 'im Rahmen der bestehenden Überwachungsverfahren des Stabilitäts- und Wachstumspakts' korrigierend ausgelegt, so dass keine Genehmigungen möglich sind, die nicht schon im SWP enthalten sind. Einen Ansatzpunkt dafür böte die einschlägige Verordnung 1467/97 des SWP.[…] Sie enthält bisher zwar keine Genehmigungstatbestände. Aber die Entscheidungen des Rates über die Berichte, die ein Mitgliedstaat vorzulegen hat, gegen den ein Defizitverfahren läuft, kommen einem Genehmigungstatbestand nahe. Denn nur wenn ein solcher Bericht den vom Rat vorgeschlagenen Maßnahmen entspricht wird dieser von der nächsten Stufe des Überwachungsverfahrens Abstand nehmen. Das Argument müsste also lauten: da solche Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme im Defizitverfahren zu berücksichtigen sind, sind immer nur die dort bereits vorgesehenen 'Genehmigungstatbestände' gemeint. Art5 VSKS enthielte, so gesehen, keinesfalls einen neuen Genehmigungstatbestand. Nur in einer solchen Lesart könnte der verfassungsändernde Charakter vermieden werden.
Eine derartige Interpretation ist allerdings zweifelhaft, weil sie den normativen Eigenwert von Art5 VSKS völlig eliminiert. Sie würde sich dann auf eine Erzählung dessen reduzieren, was im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspakts ohnedies passiert. Die Bestimmung ist insoweit in hohem Maße unklar, sowohl was den Inhalt, als auch was den Genehmigungstatbestand betrifft. Derzeit ist in Anbetracht der erwähnten Rechtssetzungsverfahren für zwei neue EU-Verordnungen nicht abschätzbar, ob sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des VSKS verfassungsändernd sein wird. Unter diesen Umständen erscheint eine verfassungsändernde Behandlung geboten.
C. Europarechtlich bedenkliche Bestimmungen
Gegen den VSKS werden mehrere europarechtliche Bedenken vorgebracht.[…] Die wichtigsten laufen alle darauf hinaus, dass es europarechtswidrig sei, einen solchen Vertrag außerhalb des Rechtsrahmens der EU abzuschließen. Dies insbesondere auch deshalb, weil es nicht zulässig sei, dass 25 der 27 Mitgliedstaaten den Organen der Union (neue) Aufgaben übertragen.[…] Dazu bedürfe es einer Einigung unter allen Mitgliedstaaten.
An dieser Stelle, an der eine allfällige Europarechtswidrigkeit nur insoweit thematisiert werden soll, als sie zugleich eine Verfassungswidrigkeit auslöst oder die Bestimmungen des Vertrages verfassungsändernd macht, soll nur auf zwei in diesem Zusammenhang aus der Sicht des Autors besonders bedeutsame Aspekte eingegangen werden.
Einerseits geht es dabei um Art20 EUV in Verbindung mit Art326-334 AEUV über die Verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten de