TE AsylGH Erkenntnis 2013/09/17 E3 264809-2/2011

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Veröffentlicht am 17.09.2013
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Spruch

E3 264.809-2/2011-26E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Dr. HERZOG als Vorsitzende und die Richterin Mag. GABRIEL als Beisitzerin über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, StA. Türkei, vertreten durch die Rechtsanwälte Mag. Johann GALANDA und Dr. Anja OBERKOFLER, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 29.09.2011, Zl. 04 10.814-BAW, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde wird gemäß §§ 7, 8 Abs. 1 AsylG 1997, BGBl I Nr. 76/1997 idF BGBl. I Nr. 129/2004 und § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 idF BGBL I. Nr. 38/2011 als unbegründet abgewiesen.

Text

Entscheidungsgründe:

 

I. Verfahrensgang:

 

1. Der Beschwerdeführer (nachfolgend: BF), ein Staatsangehöriger der Türkei und der kurdischen Volksgruppe zugehörig, reiste am 19.05.2004 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte in weiterer Folge am 21.05.2004 einen schriftlichen Asylantrag.

 

2. Bei der am 16.06.2004 erfolgten Ersteinvernahme führte der Beschwerdeführer zu seinem Fluchtgrund befragt aus, dass er vor ca. zwei oder zweieinhalb Jahren wegen des Vorwurfs, seinem Cousin XXXX bei dessen Flucht aus der Türkei geholfen zu haben, für 62 Tage in der geschlossenen Haftanstalt XXXX angehalten und auch misshandelt worden worden sei. Weiters sei im Jahr 1999 auf seinen Onkel geschossen worden. Dieser sei am linken Auge verletzt worden. Dann hätte man ihm gesagt, dass man ihm so etwas auch antun würde.

 

Ferner gebe es in seinem Heimatdorf überall Gendarmen, weil dieses im Bezirk XXXX liege. Von dort stamme auch Öcalan. Er sei zwar nicht Mitglied einer politischen Partei bzw. selbst politisch tätig gewesen, habe sich aber oft im Parteilokal der DEHAP aufgehalten.

 

Befragt warum er nicht nach Istanbul gezogen sei, gab der BF zu Protokoll, dass man Kurden in Istanbul keine Wohnung gebe. Zudem würden Kurden in Istanbul nur schwere Arbeiten erhalten und seien die Lebenserhaltungskosten sehr hoch.

 

3. Bei der am 17.01.2005 erfolgten Zweiteinvernahme ergänzte der Beschwerdeführer sein bisheriges Vorbringen und erklärte, dass er in Traiskirchen ein paar Sachen vergessen hätte. So habe er eine Bestätigung darüber vorlegen wollen, dass sein Vater aus politischen Gründen in Haft gewesen sei. Nach dem Interview in Traiskirchen habe sich ein Bekannter zur Polizei in XXXX begeben. Diesem habe man die Ausstellung einer derartigen Bestätigung verweigert. Ferner wolle er anführen, dass ihm in XXXX kein Personalausweis ausgestellt worden sei. Erst mit Hilfe eines Bekannten in der westtürkischen Stadt XXXX habe er dann einen neuen türkischen Personalausweis erhalten.

 

Sein Vater lebe wahrscheinlich in der Türkei. Seit zwei bis drei Monaten bestünde kein Kontakt mehr zu diesem. Sein Vater habe sich zwar für die DEHAP interessiert, die Probleme seien jedoch wegen seines Cousins XXXX entstanden. Dieser sei wegen einer politischen Straftat gesucht worden. 1997 oder 1998 sei sein Vater auf der Alm von Soldaten festgenommen worden.

 

Er selbst sei 1998 oder 1999 in XXXX 52 Tage wegen seines Onkels XXXX inhaftiert gewesen. Man habe ihm vorgeworfen, seinem Onkel geholfen zu haben. Dieser lebe jetzt in Italien als anerkannter Flüchtling.

 

Der gegen seine Person erhobene Vorwurf habe nicht der Wahrheit entsprochen. Er hätte sich lediglich manchmal im DEHAP-Lokal in XXXX aufgehalten und dort geholfen (z.B. Tee oder Kaffee gekauft und einmal sei Geld gesammelt und Schreibpapier gekauft worden). Sonst hätte er sich nicht politisch engagiert.

 

Von einem hier lebenden Cousin seines Vaters namens XXXX habe er erfahren, dass sich die Gendarmerie in der Türkei nach ihm erkundige.

 

4. Mit Bescheid vom 19.09.2005, Zl. 04 10.814-BAW, wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG 1997 ab (Spruchpunkt I.). Weiters wurde die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 8 Abs 1 AsylG 1997 für zulässig erklärt (Spruchpunkt II.). Schließlich wurde der Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs 2 AsylG 1997 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgewiesen (Spruchpunkt III.). Dagegen wurde fristgerecht Berufung (nunmehr als Beschwerde zu werten) eingebracht.

 

5. In Erledigung der Berufung wurde der bekämpfte Bescheid mit Erkenntnis des Asylgerichtshofs vom 20.06.2011, Zl. E3 264.809-0/2008-6E behoben und die Angelegenheit gemäß § 66 Abs 2 AVG zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an die Erstbehörde zurückverwiesen. Begründend für die Kassationsentscheidung wurde seitens des entscheidenden Senats des AsylGH im Wesentlichen ausgeführt, dass die getroffenen Länderfeststellungen aus einer unsystematischen Aneinanderreihung von Informationen, zum Entscheidungszeitpunkt mindestens ein Jahr alt, zumeist jedoch aus 2001 und 2002, zum Teil auch nicht nachvollziehbar (Internetadressen), bestünden. Zudem würden jegliche Feststellungen zum Wehrdienst fehlen.

 

Das Bundeasylamt habe es im Übrigen gänzlich unterlassen, den Beschwerdeführer zu seinem bevorstehenden Wehrdienst in der Türkei zu befragen. Hiermit werde sich das Bundesasylamt in gehöriger Weise auseinanderzusetzen haben und aktuelle Feststellungen zur Situation von kurdischen Volksgruppenzugehörigen im Rahmen der Ableistung des Militärdienstes zu treffen haben; dies alles auch unter dem Blickwinkel von § 8 AsylG.

 

Auch werde das Bundesasylamt im fortgesetzten Verfahren, schon alleine zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens, den schriftlichen Asylantrag des Antragstellers einer Übersetzung zuzuführen haben, was ebenso verabsäumt worden sei.

 

Ohne die Erhebungen der für die Prüfung notwendigen Tatsachen könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Sachverhalt entsprechend entscheidungsrelevant ermittelt worden sei, wobei insbesondere auch eine zeugenschaftliche Einvernahme der Ehegattin des Beschwerdeführers, Frau XXXX, stattzufinden haben wird.

 

6. In der Folge fand am 01.09.2011 eine weitere Einvernahme des Beschwerdeführers seitens des Bundesasylamts statt, in welcher er ausführte, dass seine Frau mit ihren Schwestern im Jahr 2005 auf einer Hochzeit gewesen sei. XXXX - der Sohn der Tante seines Vaters - habe während der Hochzeit in Richtung seiner Schwägerin XXXX geschossen und sei diese am Auge getroffen worden. Aufgrund der Verwandtschaft habe sein Vater diesem XXXX aber geholfen. Die Soldaten hätten XXXX eingesperrt und sein Vater habe dann Bestechungsgeld bezahlt, um XXXX aus dem Gefängnis zu bekommen. Sein Schwiegervater sei mit diesem Vorgehen nicht einverstanden gewesen und habe seiner Frau den Kontakt zu seinen Angehörigen verboten. Sein Schwiegervater habe seine Frau schließlich gegen ein großes Kopfgeld einem anderen Mann geben wollen. Sein Vater habe dann im Jahr 2009 die Flucht seiner Frau nach Österreich organisiert.

 

Der Druck seitens des Schwiegervaters und die Tatsache, dass die Schwester seiner Gattin erblindet sei, habe die psychische Gesundheit seiner Frau beeinträchtigt.

 

Ferner sei er bislang in der Türkei nicht beim Militär gewesen. Eine Einberufung hätte er erst nach dem Verlassen der Türkei erhalten. Er sei militärdienstflüchtig und wolle auch nicht beim türkischen Militär dienen.

 

Er habe die Türkei verlassen, da er wegen seines Cousins väterlicherseits XXXX - ein Guerilla-Kämpfer - unterdrückt worden sei. Man habe auch ihm vorgeworfen, zu den Guerilla-Kämpfern zu gehören. Für die Dauer von 62 Tagen sei er in der geschlossenen Strafanstalt in XXXX inhaftiert gewesen.

 

Abschließend wurde der vom BF selbst verfasste und ausgefüllte Asylantrag von der Dolmetscherin für das Protokoll übersetzt. Hierin wurde vom BF ausgeführt, dass sein Cousin väterlicherseits XXXX wegen einer politisch motivierten Straftat angeklagt und für diesen die Todesstrafe beantragt worden sei. Zunächst sei dieser zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden, wobei das Strafausmaß aufgrund einer Amnestie auf eine 17-jährige Freiheitsstrafe reduziert worden sei. Nach diesen 17 Jahren hätten die Brüder seines Cousins diesem mit einem griechischen Pass zur Flucht aus der Türkei verholfen. Man habe seiner Familie vorgehalten, dass sie XXXX zur Flucht verholfen hätten. Sein Vater habe am Feld gearbeitet und habe er diesem Essen bringen wollen. Die Gendarmen hätten ihn auf dem Weg dorthin gesehen und behauptet, dass er dieses Essen seinem Cousin XXXX bringen würde. Deshalb sei er verprügelt worden. Weiters sei sein Vater in den Bergen beschuldigt worden, ein Guerilla-Kämpfer zu sein und habe man ihn am rechten Fuß angeschossen.

 

Im Zuge der Einvernahme brachte der BF seinen türkischen Personalausweis und ein Foto seines Onkels in Vorlage.

 

7. Bezüglich der dem Beschwerdeführervertreter bei der Einvernahme vor dem BAA am 01.09.2011 übergebenen aktuellen Feststellungsunterlagen des Bundesasylamtes zur Lage in der Türkei langte am 22.09.2011 fristgemäß eine schriftliche Stellungnahme ein. Hierin wurde ausgeführt, dass der BF glaubwürdig und nachvollziehbar angegeben habe, aufgrund einer vermeintlichen Unterstützung der PKK in asylrechtlich relevanter Weise verfolgt zu werden und er seinen Militärdienst nicht abgeleistete habe. Ferner habe die Ehegattin des BF glaubwürdig und nachvollziehbar angegeben, dass ihr ein sog. "Ehrenmord" drohe. Die Ausführungen des BF und seiner Ehegattin würden auch durch die vom BAA übermittelten Länderberichte dokumentiert. Insoweit wurde daher auszugsweise aus diesen Unterlagen und bezüglich des Vorbringens des BF zusätzlich aus einem - der Stellungnahme beigefügten - Länderbericht zur Türkei von Amnesty International (Stand: Dezember 2010) zitiert.

 

Weiters wurde ausgeführt, dass es weiterhin zu unfairen Gerichtsverfahren komme, wobei von solchen Verfahren vor allem Personen betroffen seien, denen eine Unterstützung/ Sympathie zur PKK vorgeworfen werde. Überdies sei zu berücksichtigen, dass dem BF auch aufgrund seiner Wehrdienstverweigerung eine Verhaftung und Verurteilung drohe.

 

Abschließend wurde zum Beweis, dass dem BF in der Türkei eine asylrelevante Verfolgung drohe, ausdrücklich die Einholung eines länderkundlichen Sachverständigengutachtens beantragt.

 

8. Am 22.09.2011 erfolgte in Österreich die standesamtliche Eheschließung mit XXXX (OZ 2).

 

9. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 29.09.2011, Zl. 04 10.814-BAW, wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG 1997 ab (Spruchpunkt I.). Weiters wurde die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 8 Abs 1 AsylG 1997 für zulässig erklärt (Spruchpunkt II.). Schließlich wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs 1 Z 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei ausgewiesen (Spruchpunkt III.).

 

Die Identität, Staatsangehörigkeit und Volksgruppenzugehörigkeit des BF konnte verifiziert werden. Weiters wurde festgestellt, dass der BF gesund sei.

 

Es könne nicht festgestellt werden, dass der BF die Türkei aus asylrelevanten Gründen verlassen habe oder dass ihm im Falle einer Rückkehr in die Türkei eine asylrelevante - oder sonstige - Verfolgung oder Strafe maßgeblicher Intensität oder die Todesstrafe drohe.

 

Der BF könne sich auf die bereits vor der Ausreise aus der Türkei aufgezeigte Selbstständigkeit stützen. Er verfüge über verwandtschaftliche Beziehungen in der Türkei, sei gesund und selbsterhaltungsfähig. Demnach habe er, soweit es die notwendige Existenzgrundlage für sich angehe - auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Lage in der Türkei - in materieller Hinsicht keine aussichtslose Lage zu gewärtigen.

 

Schließlich hätten sich auch nach Prüfung gem. Art. 8 EMRK im vorliegenden Fall keine gegen die vorgesehene Ausweisung bestehenden Hinderungsgründe ergeben. Der BF sei illegal in das Bundesgebiet eingereist und lediglich aufgrund der Asylantragstellung vorübergehend zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt. Er lebe an einer gemeinsamen Adresse mit seiner Ehegattin XXXX. Die Genannte betreibe ebenfalls ein Asylverfahren. Am XXXX sei der gemeinsame Sohn XXXX in Wien geboren worden und betreibe der BF ein Familienverfahren für diese Person. Die Asylverfahren der Genannten seien gleichlautend dem Verfahren des BF mit heutigem Tage entschieden worden. Der BF finanziere seinen Aufenthalt im Bundesgebiet aus finanziellen Mitteln der staatlichen Grundversorgung und finanzieller Unterstützung seines Vaters aus der Türkei. Er spreche kaum Deutsch, besuche keine Kurse und halte überwiegend Kontakt zu türkischen Landsleuten. Es habe daher nicht festgestellt werden können, dass der BF in Österreich aufenthaltsverfestigt sei.

 

Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei traf das Bundesasylamt insbesondere Feststellungen zur allgemeinen Lage, zur Politik/ Wahlen/ Opposition, zur Lage der Kurden, zu den Menschenrechten, zur innerstaatlichen Fluchtalternative, zum Militärdienst und zur Wehrdienstverweigerung, zur Jusitz/ Sicherheitsbehörden, zur Sippenhaft, zur Meinungs- und Pressefreiheit, zu Rückkehrfragen sowie zur - medizinischen - Grundversorgung und exilpolitischen Tätigkeit (Seite 19 bis 57 des erstinstanzlichen Bescheides).

 

In der Beweiswürdigung und der rechtlichen Beurteilung wurde ausführlich dargelegt, warum das Bundesasylamt zur Schlussfolgerung gelangt, dass das Vorbringen des Beschwerdeführers unglaubwürdig ist, diesem keine Asylrelevanz zukommt, warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr iSd § 8 Abs. 1 AsylG ausgegangen werden könne und warum die Ausweisung in die Türkei zulässig sei.

 

10. Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist mit Schriftsatz vom 21.10.2011 Beschwerde erhoben. Hinsichtlich des Inhaltes der Beschwerde wird auf den Akteninhalt (VwGH 16. 12. 1999, 99/20/0524) verwiesen. In der Beschwerde wurde jedoch kein hinreichend substantiiertes Vorbringen erstattet, welches geeignet wäre der schlüssigen und umfassenden Beweiswürdigung der Erstbehörde entgegen zu treten.

 

Im Rahmen dieses Schriftsatzes wurde vom Beschwerdeführervertreter zunächst moniert, dass das BAA in nicht nachvollziehbarer Weise begründend ausführte, dass der BF anlässlich seiner Erstantragstellung am Formblatt seine Angaben auf vage Behauptungen beschränkt habe. In diesem Zusammenhang lasse das BAA vollkommen unberücksichtigt, dass es sich hierbei um ein Formblatt handle, indem bereits aufgrund des vorgegebenen Platzes die Asylgründe nur in kurzer Form angegeben werden können. Darüber hinaus übersehe das BAA im Rahmen der Beweiswürdigung, dass der BF im Wesentlichen von seiner Ersteinvernahme bis zu der zuletzt erfolgten Einvernahme im September 2011 homogene und gleichlautende Angaben getätigt habe.

 

Insbesondere würden die Angaben des BF auch durch den Umstand gedeckt, dass im Länderbericht von Amnesty International (Stand: Dezember 2010) bestätigt werde, dass es immer wieder zur Verfolgung von Personen komme, die verdächtigt werden, die PKK unterstützt zu haben. Insoweit wurde dieser Länderbericht nochmals auszugsweise zitiert.

 

Weiters habe es das BAA unberücksichtigt gelassen, dass dem BF nach den vom BAA herangezogenen Länderfeststellungen bei Ableistung seines Militärdiensts eine unmenschliche Behandlung drohe und seine körperliche Integrität gefährdet wäre. Im Rahmen der Ausweisungsentscheidung übersehe das BAA, dass die Ehegattin des BF psychisch krank und auf eine kontinuierliche medizinische Behandlung angewiesen sei. Im Zusammenhalt mit dem mehr als achtjährigen Aufenthalt des BF sei daher eine Ausweisung unzulässig.

 

Darüber hinaus weise das Verfahren des BAA auch einen wesentlichen Verfahrensmangel auf, da das beantragte länderkundliche Sachverständigengutachten zum Beweis, das dem BF in seiner Heimat eine asylrelevante Verfolgung drohe, nicht eingeholt worden sei. Das BAA habe daher gegen ihre Verpflichtung zur vollständigen Sachverhaltsermittlung verstoßen.

 

11. Mit Beschluss vom 19.12.2012 wurde XXXX durch die vorsitzende Richterin gem. § 52 Abs. 2 AVG zur Erstellung eines Ländergutachtens in der gegenständlichen Beschwerdesache zum Sachverständigen bestellt.

 

12. Im Rahmen des von XXXX am 24.01.2013 erstatteten Gutachtens wurde insbesondere ausgeführt, dass der vorliegende Fall bezüglich Zwangsheirat nicht der Wahrheit entspreche. Eine nach religiösem Ritus geschlossene Ehe werde nicht wegen der geschilderten Probleme aufgelöst. Nach der Eheschließung sei eine Zwangsheirat nicht mehr vollziehbar. Ferner sei dem Sachverständigen ein solcher Vorfall nicht bestätigt worden. Im Gegenteil die beiden Familien lebten in XXXX und würden nach wie vor gut miteinander auskommen. Es gebe überhaupt keine Indizien, dass die Familie bzw. der Vater nach seiner Tochter suche oder sie bestrafen würde. Zudem könne bestätigt werden, dass der BF und seine Ehegattin Kontakt zu ihren Verwandten hätten.

 

Nach den ausgeführten Recherchen sei festzustellen, dass kein gerichtlich anhängiges offenes Verfahren wegen eines politischen Delikts gegen den BF vorliege. Weiters sei weder der BF noch ein anderer Familienangehöriger wegen illegaler politischer Betätigung inhaftiert worden. Ebenso wenig habe ein nahes familiäres Verhältnis zu XXXX bestätigt werden können. Der BF werde jedoch wegen eines nicht geleisteten Wehrdiensts von der örtlich zuständigen Gendarmerie gesucht. Wenn der Refraktär bzw. Deserteur nicht gefunden werden könne, werde er im GBTS landesweit zur Fahndung ausgeschrieben und einem Passverbot unterstellt. Ab diesem Zeitpunkt erfolge die Fahndung nicht nur durch die Militärpolizei, sondern auch durch zivile Polizeieinheiten. Außerdem seien Refraktäre/ Deserteure an den Grenzposten als gesucht registriert. In den dem Sachverständigen aus jüngster Zeit bekannten Fällen von Refraktären, die in die Türkei zurückgeschickt worden sind, sei niemand bei der Rückkehr sofort verhaftet und an ein Militärgericht überwiesen oder sogleich in den Militärdienst geschickt worden.

 

Nach den durchgeführten Recherchen seien weder der BF noch seine nahen Angehörigen in einer in der Türkei als illegal geltenden politischen Szene aktiv. Aufgrund der angeblichen Haft seines Cousins, die jedoch nicht bestätigt werden konnte, befinde sich der BF mit Sicherheit nicht speziell im Blickfeld der Sicherheitsbehörden.

 

Nach genauer Überprüfung und durchgeführten aktuellen Recherchen sei festzustellen, dass dem BF im Falle einer Ableistung seines Militärdiensts keine Repressalien drohen, weil der Cousin seines Vaters aufgrund einer angeblich politischen Betätigung - was der Sachverständige nicht bestätigen konnte - eine Strafe abgesessen habe. Eine aktive politische Tätigkeit liege beim BF nicht vor.

 

Im Übrigen könne mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der von der Ehegattin geschilderte Vorfall bei der Hochzeit im Jahr 2005 nicht stattgefunden habe bzw. im Umfeld nicht bekannt sei. Es gebe darüber auch kein gerichtliches anhängiges Verfahren und sei auch kein Gerichtsverfahren durchgeführt bzw. keine Anzeige erstattet worden.

 

13. Mit Schreiben vom 18.03.2013 wurde der Sachverständige seitens der vorsitzenden Richterin um Bekanntgabe der Quellen für das übermittelte Gutachten ersucht, um nachvollziehen zu können, wie das Ergebnis zustande gekommen sei.

 

In Erledigung dieses Ersuchens wurde seitens des Sachverständigen sodann mitgeteilt, dass er nach der Richtigstellung der Personaldaten der Betroffenen versuche, direkten Kontakt mit Personen aus der Dorfgemeinschaft bzw. der dem Dorf nahegelegenen politischen Verwaltungseinheit aufzunehmen. Diesen Menschen sei die politische Szene vertraut. Zusätzlich würden Gespräche mit Personen aus der politischen Szene im Heimatland und Ausland, nahen Organisationen, mit Personen aus dem Meldeamt und Funktionären aus der politischen Szene in der Türkei geführt. Für all diese Tätigkeiten müsse er die Anonymität und Vertraulichkeit gegenüber den Personen gewährleisten. Für seine Feststellungen bezüglich des konkreten Falles würden alle erhaltenen Informationen gegenseitig verglichen und noch einmal überprüft werden. Informationen und Daten würden ihm nur unter der Voraussetzung mitgeteilt werden, wenn er als Sachverständiger seine Informationsquellen gegenüber Dritten nicht nenne. Bei einer Bekanntgabe der Quellen würde er das Vertrauen seiner Informanten verlieren sowie deren Sicherheit gefährden.

 

14. Da der erstinstanzliche Bescheid bereits vor rund zwei Jahren erlassen wurde, wurde seitens des Asylgerichtshofes mit Schreiben vom 03.04.2013 gem. § 45 (3) AVG Beweis erhoben, dh. den Parteien des Verfahrens Länderfeststellungen zur Türkei, speziell zur Lage der Kurden bzw. zur Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei, zugestellt und ihnen die Möglichkeit zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahme binnen zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens eingeräumt; somit wurde aufgrund der vorliegenden aktuelleren Feststellungen zur Türkei (zu den Anforderungen an die Aktualität einer Quelle vgl. etwa Erk. d. VwGHs. vom 9. März 1999, Zl. 98/01/0287 und sinngemäß -im Zusammenhang mit Entscheidungen nach § 4 AsylG 1997- das E. vom 11.November 1998, 98/01/0284, bzw. auch E. vom 7. Juni 2000, Zl. 99/01/0210) bestätigt, dass die Feststellungen des BAA nach wie vor gültig sind (zur Zulässigkeit dieser Vorgangsweise in diesem speziellen Fall einer sonst schlüssigen und umfassenden Beweiswürdigung des Bundesasylamtes siehe Erkenntnis des VwGH vom 17.10.2006, Zahl: 2005/20/0459-5, ebenso Beschluss des VwGH

v. 20.6.2008, Zahl 2008/01/0286-6; vgl. auch Erk d. VfGH v. 10.12.2008, U 80/08-15, wo der unterlassene schriftliche Vorhalt an den BF nach dem Verstreichen eines mehrjährigen Zeitraumes seit der Einbringung eines Rechtsmittels gegen den angefochtenen Bescheid in Bezug auf die aktuelle asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Herkunftsstaat und die Einräumung der Möglichkeit, hierzu Stellung zu nehmen [neben dem zusätzlichen Unterlassen der Durchführung einer Verhandlung] ausdrücklich als Akt der behördlichen Willkür bezeichnet wurde und hieraus e contrario ableitbar ist, dass aus der Sicht des VfGH die Durchführung einer schriftlichen Beweisaufnahme gem. § 45 AVG im hier erörterten Umfang einen tauglichen Ermittlungsschritt darstellen kann, welcher das erkennende Gericht von der Verpflichtung zur Durchführung einer Verhandlung in gewissen Fällen befreien kann. Ein solcher Fall liegt hier vor.).

 

Darüber hinaus wurde der BF eingeladen, alle ihm zur Verfügung stehenden und ihm zugänglichen Bescheinigungsmittel, Dokumente und Gegenstände, welche für das Verfahren relevant sind, das Vorbringen bescheinigen können und im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht vorgelegt wurden bzw. deren Kenntnisnahme bis dato im Verfahren nicht erfolgte innerhalb einer Frist von zwei Wochen ab Zustellung des Schreibens dem Asylgerichtshof vorzulegen. Gleichzeitig wurde der BF, binnen selbiger Frist, um Bekanntgabe ersucht, ob hinsichtlich seines Privat- oder Familienlebens in Österreich seit Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides eine Änderung eingetreten ist und wurde er aufgefordert, seine nähere derzeitige Lebenssituation in Österreich darzustellen. Ebenso wurde der BF ersucht, binnen einer Frist von zwei Wochen anzugeben, ob hinsichtlich des Gesundheitszustandes eine Änderung eingetreten ist und etwaige medizinische Befunde dazu vorzulegen.

 

Darüber hinaus wurde dem BF auch die gutachterliche Stellungnahme des Ländersachverständigen XXXX vom 24.01.2013 als Beilage zu diesem Schreiben übermittelt.

 

15. Während von Seiten des Bundesasylamtes keine Stellungnahme zur obigen Mitteilung erfolgte, langte am 22.04.2013 beim Asylgerichtshof, Außenstelle Linz, eine Stellungnahme des Beschwerdeführervertreters ein. Hinsichtlich des konkreten Inhaltes der Stellungnahme wird auf den Akteninhalt (VwGH 16. 12. 1999, 99/20/0524) verwiesen.

 

Der BF halte sich seit fast neun Jahren und seine Ehegattin seit mehr als vier Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet auf. Deren gemeinsamer Sohn XXXX sei am XXXX im Bundesgebiet geboren worden. Der Lebensmittelpunkt der Familie befinde sich in Österreich und hätten der BF und seine Ehegattin das Sprachzertifikat Deutsch auf Niveau A2 erworben. Die Familie des BF verfüge über eine Reihe von nahen Angehörigen im Bundegebiet und könne der BF unverzüglich nach Erhalt des Aufenthaltstitels einer regelmäßigen Beschäftigung nachgehen. Derzeit bestreite er seinen Unterhalt durch die Unterstützung seiner Angehörigen. Dem österreichischen Staat falle er nicht zur Last. Ferner würden die BF über eine ortsübliche Unterkunft verfügen.

 

Betreffend die Fluchtgründe wurde auf das bisherige Vorbringen verwiesen. Weiters wurde beantragt, das Gutachten des Sachverständigen dahingehend zu ergänzen, ob die aktenkundigen psychischen Probleme der Ehegattin in der Türkei hinreichend behandelbar seien.

 

Dem Schreiben wurden die beiden Sprachzertifikate des BF und seiner Ehegattin sowie ein Konvolut an Aufenthaltstiteln bezüglich der in Österreich befindlichen Verwandten beigelegt.

 

16. Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den erstinstanzlichen Verwaltungsakt des BF unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben dieser Person vor dem BAA, des bekämpften Bescheides, des Beschwerdeschriftsatzes, des ergänzenden Ermittlungsverfahrens, der Stellungnahme des Beschwerdeführers sowie der Verwaltungsakte der Ehegattin und des mj. Sohnes des BF (Zl. E3 410.461-2/2011 und Zl. E3 420.059-2/2011).

 

17. Hinsichtlich des Verfahrensherganges und Parteienvorbringens im Detail wird auf den Akteninhalt verwiesen.

 

II. DER ASYLGERICHTSHOF HAT ERWOGEN:

 

1. Am 1. Juli 2008 beim Unabhängigen Bundesasylsenat anhängige Verfahren sind vom Asylgerichtshof nach Maßgabe des § 75 Absatz 7 AsylG 2005 idF BGBl. I Nr. 87/2012 weiterzuführen.

 

Gemäß § 61 AsylG 2005 idgF entscheidet der Asylgerichtshof über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesasylamtes.

 

Gemäß § 23 Absatz 1 des Bundesgesetzes über den Asylgerichtshof, BGBl. I, Nr. 4/2008 (Asylgerichtshofgesetz - AsylGHG) idF BGBL. I Nr. 147/2008, sind, soweit sich aus dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100, nicht anderes ergibt, auf das Verfahren vor dem Asylgerichtshof die Bestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl. Nr. 51, mit der Maßgabe sinngemäß anzuwenden, dass an die Stelle des Begriffs "Berufung" der Begriff "Beschwerde" tritt, weshalb im gegenständlichen Fall im hier ersichtlichen Umfang das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 - AVG, BGBl. Nr.51 zur Anwendung gelangt.

 

Anzuwenden war gemäß § 73 Abs. 7 und § 75 Abs. 1 und 8 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 87/2012 hinsichtlich §§ 7 und 8 das AsylG 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 idF BGBl. I Nr. 129/2004 (im Folgenden: "AsylG 1997") und hinsichtlich § 10 das AsylG 2005 idF BGBl. Nr. 38/2011, das AVG, BGBl. Nr. 51/1991 in der geltenden Fassung, und das ZustG, BGBl. Nr. 200/1982 in der geltenden Fassung.

 

Gemäß § 75 Absatz 8 AsylG 2005 idF 87/2012 ist § 10 in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 38/2011 auf alle am oder nach dem 1. Jänner 2010 anhängigen Verfahren nach dem Asylgesetz 1997 mit der Maßgabe anzuwenden, dass eine Ausweisungsentscheidung nach dem Asylgesetz 1997, die vor dem 1. Jänner 2010 erlassen wurde, als eine Ausweisungsentscheidung nach § 10, die Zurückweisung eines Asylantrages nach dem Asylgesetz 1997 als Zurückweisung nach § 10 Abs. 1 Z 1 und die Abweisung eines Asylantrages nach dem Asylgesetz 1997, mit der festgestellt wurde, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in den Herkunftsstaat zulässig ist, als Abweisung nach § 10 Abs. 1 Z 2 gilt.

 

Gemäß § 9 Abs. 1 AsylGHG, BGBl. I Nr. 4/2008 in der geltenden Fassung entscheidet der Asylgerichtshof in Senaten, soweit eine Entscheidung durch einen Einzelrichter oder Kammersenat nicht bundesgesetzlich vorgesehen ist. Gemäß § 61 Abs. 3 AsylG 2005 entscheidet der Asylgerichtshof über Beschwerden gegen zurückweisende Bescheide nach den §§ 4 und 5 AsylG 2005 und nach § 68 AVG durch Einzelrichter. Gemäß § 42 AsylG 2005 entscheidet der Asylgerichtshof bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung oder Rechtsfragen, die sich in einer erheblichen Anzahl von anhängigen oder in naher Zukunft zu erwartender Verfahren stellt, sowie gemäß § 11 Abs. 4 AsylGHG, wenn im zuständigen Senat kein Entscheidungsentwurf die Zustimmung des Senates findet durch einen Kammersenat. Im vorliegenden Verfahren liegen weder die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch einen Einzelrichter noch die für eine Entscheidung durch den Kammersenat vor.

 

Gemäß § 66 Abs. 4 AVG hat die erkennende Behörde, sofern die Beschwerde nicht als unzulässig oder verspätet zurückzuweisen ist, immer in der Sache selbst zu entscheiden. Sie ist berechtigt, im Spruch und in der Begründung ihre Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern.

 

Gemäß § 10 AsylG stellen Familienangehörige (§ 1 Z 6) eines Asylberechtigen, subsidiär Schutzberechtigten (§§ 8 iVm 15) oder Asylwerbers einen Antrag auf Gewährung desselben Schutzes. Für Ehegatten gilt dies überdies nur dann, wenn die Ehe spätestens innerhalb eines Jahres nach der Einreise des Fremden geschlossen wird, der den ersten Asylantrag eingebracht hat.

 

Gemäß Absatz 2 leg.cit. hat die Behörde auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen einem Asylberechtigten mit Bescheid Asyl zu gewähren, wenn die Fortsetzung ihres bestehenden Familienlebens im Sinne des Artikels 8 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) BGBl Nr. 210/1958, mit dem Angehörigen in einem anderen Staat nicht möglich ist.

 

Gemäß Absatz 5 leg.cit. hat die Behörde Asylanträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen und es erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Dies ist entweder die Gewährung von Asyl oder subsidiärem Schutz, wobei die Gewährung von Asyl vorgeht, es sei denn alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Antragsteller erhält einen gesonderten Bescheid.

 

Gemäß § 1 Z 6 leg.cit. ist somit ein Familienangehöriger, wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung unverheiratetes, minderjähriges Kind (Kernfamilie) eines Asylwerbers oder eines Asylberechtigten ist.

 

Im gegenständlichen Fall liegt jedenfalls zwischen dem BF und dessen mj. Sohn ein Familienverfahren gemäß § 10 AsylG vor. Bei der Ehegattin und dem mj. Sohn des BF handelt es sich um Familienangehörige im obigen Sinne, wobei die Eheschließung allerdings erst mehrere Jahre nach der Einreise des BF in Österreich erfolgte, weshalb bezüglich der Gattin nicht von der Stellung eines Antrags auf Gewährung desselben Schutzes gesprochen werden kann. Die Anträge auf internationalen Schutz des BF, seines mj. Sohnes und auch der Ehegattin wurden mit Erkenntnis vom heutigen Tag jeweils rechtskräftig abgewiesen.

 

2. Zur Lage in der Türkei werden folgende, - im Zuge der vorgenommenen Beweisaufnahme (siehe oben, Punkt I.14.) in das Verfahren eingeführte -, Länderfeststellungen dem Verfahren zugrunde gelegt:

 

Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, 26.08.2012, 08.04.2011, 11.04.2010 sowie 29.06.2009

 

Kommission der Europäischen Gemeinschaften: Fortschrittsbericht Türkei vom 10.10.2012

 

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Türkei, Amnestien, Strafnachlass,Verjährung, Begnadigung, 01.02.2008.

 

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge , Glossar islamische Länder, Band 23 Türkei, Seite 3, Amnestiegesetze, Feber 2009

 

Gutachterliche Stellungnahme von Sedef Dearing vom 12.11.2009 im AGH-Verfahren, GZ E3 314.889, samt Ergänzungsgutachten (beim AGH eingelangt am 07.09.2010)

 

Gutachterliche Stellungnahme von Sedef Dearing vom 05.01.2010 im AGH-Verfahren, GZ E3 241.386

 

Auswärtiges Amt: Innenpolitik; Stand Oktober 2011;

http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Tuerkei/Innenpolitik_node.html Zugriff 09.01.2011 (Frauen)

 

FH - Freedom House: Freedom in the World 2011, Turkey, Mai 2011 (Frauen)

 

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Türkei (Sozialpolitischer Jahresbericht, Staatsangehörigkeitsrecht, Strafnachrichtenaustausch, Justiz, Menschenrechte, medizinische Versorgung, Migration, Uiguren, Wirtschaft), November 2009

 

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Türkei, (Medizinische Versorgung, Soziales, Änderung Militärgesetz, Rückführung türkischer Staatsangehöriger, Staatsangehörigkeitsgesetz), Juli 2009

 

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, Verbot der DTP, 14.12.2009

 

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bericht über das Eurasil Meeting zur Türkei vom 24. Juni 2008, Oktober 2008

 

BMI, BVT, Verfassungsschutzbericht 2006, DHKP-C

 

Annual Report of the United States Commission on International Religious Freedom, Mai 2008.

 

Home Office, Country of Origin Information Report, Turkey, 09.08.2010

 

USDOS: Country Reports on Human Rights Practices 2009, 11.03.2010 Country Report on Human Rights Practices 2010, 08.04.2011 Country Report on Human Rights Practices 2011, 24.05.2012

 

USDOS: International Religious Freedom Report Turkey 2011, 30.07.2012

 

ÖB Ankara; Asylbericht Türkei, März 2011

 

die im Text genannten Quellen

 

Allgemeines

 

Die Türkei erlebt bereits seit mehreren Jahren einen tiefgreifenden Reformprozess, der auch wesentliche Teile der Rechtsordnung erfasst hat und auf große Teile der Gesellschaft ausstrahlt. Das im Januar 2012 vorgestellte 3. Justizreformpaket fokussiert auf die Beschleunigung von Verfahren und die Verkürzung der Untersuchungshaft, sieht aber auch Verbesserungen im Bereich der Meinungsfreiheit vor. Seit 2010 hat die Regierung auf der Grundlage eines erfolgreichen Verfassungsreferendums substanzielle Reformen verwirklicht (u.a. Stärkung der Gewerkschaftsrechte, Ombudsmann-Gesetz, Gleichstellung, Datenschutz). Die Verfassungsbeschwerde soll nach intensiver Vorarbeit im Herbst 2012 eingeführt werden.

 

Glaubensfreiheit:

 

Die individuelle Religionsfreiheit ist weitgehend gewährt; individuelle nicht-staatliche Repressionsmaßnahmen und staatliche Diskriminierungen (z.B. bei Anstellungen im öffentlichen Dienst) kommen vereinzelt vor. Das Kopftuchverbot an Universitäten, Schulen sowie generell für Staatsbedienstete im Dienst besteht indes fort.

 

Fälle von Muslimen, die zum Christentum konvertiert sind, sind besonders aus den großen Städten bekannt. Rechtliche Hindernisse beim Konvertieren bestehen nicht. Allerdings begegnet die große muslimische Mehrheit sowohl der Hinwendung zu einem anderen als dem muslimischen Glauben als auch jeglicher Missionierungstätigkeit mit großem Misstrauen und Intoleranz.

 

Politik:

 

Die Auseinandersetzung zwischen den politischen Lagern ist geprägt von großer pola- risierender Härte; der Gemeinsinn über die Parteigrenzen hinweg ist wenig ausgeprägt. Immer wieder werden Konflikte bis zur versuchten Ausschaltung des politischen Gegners getrieben. Das politische System insgesamt hat sich in den letzten Jahren verändert und weiter demokratisiert. Die politische Bedeutung des in der Vergangenheit sehr mächtigen Militärs ist deutlich zurückgegangen. Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz sowie die rechtsstaatlichen Garantien in Strafverfahren werden nicht immer konsequent respektiert.

 

Seit den Wahlen im Juni 2011 kommt es immer wieder zu Gewalteskalationen zwischen den türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Nationalisten, insbesondere in den kurdisch geprägten Regionen im Südosten. Die 2009 gestartete Politik der sogenannten "Demokratischen Öffnung" wurde vorerst eingefroren, die weitere Stärkung der Rechte für die kurdische Bevölkerung nicht weiter umgesetzt. Im Zuge der Verfolgung der PKK haben die türkischen Justizbehörden ihr Vorgehen gegen deren politische Dachorganisation KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans) ausgeweitet.

 

Politisch Oppositionelle werden in der Türkei nicht systematisch verfolgt. Die Arbeit der oppositionellen pro-kurdischen und in Teilen PKK-nahen DTP (Demokratik Toplum Partisi) wird jedoch teilweise von Seiten der Justiz durch Verfahren behindert, die die Meinungsfreiheit oder die politische Betätigungsfreiheit der DTP-Abgeordneten oder -Mitglieder einschränken.

 

Das Verbotsverfahren gegen die kurdisch orientierte "Demokratische Volkspartei" (DEHAP), die Nachfolge- bzw. Schwesterpartei der HADEP, das 2003 eingeleitet wurde, hat sich erledigt. Die Partei hat sich am 19.11.2005 selbst aufgelöst. Ihre Nachfolge trat die am 25.10.2005 gegründete "Partei für eine demokratische Gesellschaft" (DTP) an, zu der sich viele führende kurdische Politiker zusammengeschlossen haben und die zumindest teilweise noch mit der PKK sympathisiert. Ziel der DTP sei die friedliche Lösung des Kurdenkonflikts, verlautet aus der Partei, an deren Spitze einige der ehemaligen kurdischen Parlamentsabgeordneten stehen, die enge Kontakte zur Menschenrechtspreisträgerin Leyla Zana unterhalten.

 

Nach zwei vornehmlich gegen DTP-und DTP-nahe Gewerkschaftsmitglieder gerichteten Verhaftungswellen am 15. und 28.05.2009 folgten im September, Oktober, Dezember 2009 und Januar 2010 weitere Verhaftungen. Dabei wurden über 800 Personen wegen angeblich terroristischer Aktivität im Rahmen der PKK-nahen Organisation (Kurdistan-Parlament, KCK) in Gewahrsam genommen. Das 2007 gegen die Partei eingeleitete Verbotsverfahren wurde am 11.12.2009 abgeschlossen. Die Partei wurde wegen ihrer Verbindungen zur terroristischen PKK verboten, gegen 37 DTP-Mitglieder (Antrag betraf 221 Personen) wurde wegen "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung" ein politisches Betätigungsverbot ausgesprochen. Zwei der betroffenen DTP-Mitglieder sind Abgeordnete im Parlament.

 

Das türkische Verfassungsgericht hat am 11.12.2009 die DTP verboten. Einstimmig entschieden die elf Richter des Obersten Verfassungsgerichtes in Ankara, dass die pro-kurdische DTP - die wichtigste politische Interessenvertretung der Kurden in der Türkei - gegen die Verfassung verstößt. Gegen 37 Politiker der Partei soll nun ein fünfjähriges Politikverbot verhängt werden. Dass sich die Partei nie klar von der PKK distanzieren wollte - oder konnte, wie sie es oft selbst sagte - haben ihr die Verfassungsrichter nun zur Last gelegt. Die Gründung der Partei, so heißt es in der Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes sei noch direkt auf Anweisung des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan geschehen.

 

Die nach Verbietung der DTP neu gegründete Partei heißt BDP - Partei des Friedens und der Demokratie.

 

Von den Verfahren gegen Parteien vor dem Verfassungsgericht sind grundsätzlich die Verfahren gegen ihre Amtsträger vor Straf- oder Sicherheitsgerichten zu unterscheiden. Letztere werden in der Regel wegen Meinungsdelikten oder des Vorwurfs der Unterstützung einer illegalen Organisation geführt.

 

Dem dt. Auswärtige Amt ist kein Fall bekannt geworden, in dem die einfache Mitgliedschaft in der HADEP oder in der DEHAP - ohne besondere, z.B. strafrechtlich relevante Verdachtsmomente - zu Repressalien gegen die Betreffenden geführt hätte (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei, 11.09.2008).

 

Der Ländersachverständige XXXX (Qualifikationsprofil liegt in Form eines Lebenslaufes zur Einsichtnahme auf) vertritt im Rechercheergebnis vom 22.1.2009 im Asylverfahren E10 225.082, sowie vom 22.1.2009 zum Asylverfahren E10 227.684 die Auffassung, dass der bloße Kontakt zur HADEP/DEHAP bzw. die bloße ehemalige Mitgliedschaft beim Fehlen eines weiteren qualifizierten Sachverhaltes zu keinen staatlichen Verfolgungshandlungen führt(e). Auch wurde nur gegen einige wenige besonders prominente (ehemalige) Mitglieder der DEP strafrechtlich vorgegangen.

 

Die HADEP war bis zum Verbot eine legale Partei, ergo waren auch ihre Veranstaltungen bis zum Zeitpunkt ihres Verbots legal.

 

Aus einer Auskunft der ÖB Ankara, basierend auf eine Auskunft eines türkischen Vertrauensanwaltes vom 14.8.2008 an das Bundesasylamt, Az.: 3000.300/77/2008 geht hervor, dass die Regierung zwar im Jahr 2000 eine relativ strenge Haltung gegenüber der HADEP einnahm, dies heute gegenüber der Nachfolgepartei DTP nicht der Fall ist. Die Haltung der Regierung gegenüber den Mitgliedern der DTP sei "sehr gemäßigt, wenn nicht gar locker."

 

Das Auswärtige Amt Berlin geht auch davon aus, dass gegenwärtig prokurdische Demonstrationen, so lange sie friedliche verlaufen von den Sicherheitskräften grundsätzlich nicht aufgelöst werden (Punkt

1.2. des Bericht des AA Berlin zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei vom 11.9.2008)

 

Versammlungs- Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit:

 

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit sind verfassungsrechtlich garantiert.

 

Beeinträchtigungen der Meinungs- und der Pressefreiheit resultieren nach wie vor aus verschiedenen, teils unklaren Rechtsbestimmungen, erstinstanzlicher Nichtbeachtung der Rechtsprechung des EGMR und u. a. auch höchstrichterlicher Rechtsprechung. Die vielfäl- tige Presselandschaft berichtet zwar insgesamt kritischer als vor 2005, aber immer noch wenig regierungskritisch. Seit März 2011 kam es zu zahlreichen Verhaftungen von Journalisten. Ehemalige Tabu-Themen (Kurden, Armenien, Militär) können inzwischen offener diskutiert werden, wurden jedoch durch neue ersetzt (u.a. Person des Ministerpräsi- denten, islamische Ordensgemeinschaften). Ob die im Rahmen des 3. Justizreformpakets geplanten Änderungen zu einer durchgreifenden Verbesserung führen, bleibt abzuwarten.

 

Die Freiheit, auch ohne vorherige Genehmigung unbewaffnet und gewaltfrei Versammlungen abzuhalten, unterliegt Einschränkungen, soweit Interessen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, die Vorbeugung von Straftaten, die allgemeine Gesundheit oder Moral betroffen sind.

 

Fälle von polizeilichen Ingewahrsamnahmen und strafrechtlichen Ermittlungen bei der Teilnahme an nicht genehmigten oder durch Auflösung unrechtmäßig werdenden Demonstrationen kommen vor; in manchen Fällen kommt es bei diesen Versammlungen auch zur Anwendung von Gewalt durch Demonstranten.

 

Nach der Reform des Artikel 301 StrafG im April 2008 (in Kraft getreten am 08.05.2008) können Ermittlungen nur noch nach Zustimmung des Justizministers aufgenommen werden. Zudem ist der Tatbestand "Beleidigung des Türkentums" durch die Formulierung "Beleidigung der Türkischen Nation" abgeändert, der Strafrahmen von drei auf zwei Jahre heruntergesetzt sowie für im Ausland begangene Taten an das Inlandsstrafmaß angepasst worden. In der großen Mehrzahl der Fälle wurde es von der Justiz seither abgelehnt, Gerichtsverfahren einzuleiten.

 

Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis:

 

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Die Unabhängigkeit der Justiz ist in der Verfassung verankert (Art. 138). Für Entscheidungen u. a. über Verwarnungen, Versetzung oder den Verbleib im Beruf ist der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte unter Vorsitz des Justizministeriums zuständig (Verhandlung in geschlossenen Verfahren; ohne gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit).

 

Untersuchungshaft wird regelmäßig mit schwacher rechtlicher Begründung verbunden mit sehr langen Haftzeiten verhängt. Die Untersuchungshaftzeiten wurden zum 01.01.2011 durch eine Gesetzesänderung des Art. 102 tStPO eingeschränkt. Während für Vergehen eine maximale Untersuchungshaft von eineinhalb Jahren vorgesehen ist, beträgt diese für Verbrechen bis zu fünf, bei Verbrechen mit Terrorbezug bis zu zehn Jahren.

 

Seit 2008 hat sich die vormals zögerliche Haltung bezüglich der Verfolgung von Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamten nachweisbar verbessert. Allerdings kommt es vor allem mangels Kooperation der Behörden bei der Tatsachenfeststellung nur in wenigen Einzelfällen tatsächlich zu Verurteilungen.

 

In Bezug auf die Verfolgung und den Schutz bei Gewaltdelikten gegen Frauen hat der EGMR den türkischen Staat am 09.06.2009 in der Rechtssache Opuz zu einer Zahlung von Schadenersatz in Höhe von 30.000 ¿ verurteilt. Der türkische Staat war trotz einer offensichtlichen Bedrohungssituation im Jahr 2002 nicht zum Schutz einer Frau und ihrer Mutter vor ihrem ehemaligen Ehemann eingeschritten. Der Gerichtshof stellte ein allgemeines Klima staatlicher Toleranz gegenüberhäuslicher Gewalt gegen Frauen, insb. eine diesbezügliche Teilnahmslosigkeit der Verfolgungsbehörden und der Justiz fest. Die Türkei reagierte nach 2002 bereits mit Gesetzesänderungen, es bestehen jedoch weiter Defizite.

 

Das Recht auf sofortigen Zugang zu einem Rechtsanwalt innerhalb von 24 Stunden ist grundsätzlich gewährleistet. Nach spätestens 24 Stunden (in bestimmten Fällen organisierter Kriminalität bis 48 Stunden, Art. 250 Abs. 1 lit. a und c tStPO) zuzüglich 12 Stunden Transportzeit muss der Betroffene dem zuständigen Haftrichter vorgeführt werden.

 

Dem Auswärtigen Amt sind in jüngster Zeit keine Gerichtsurteile auf Grundlage von durch die Strafprozessordnung verbotenen, erpressten Geständnissen bekannt geworden.

 

Durch Änderungen des Anti-Terror-Gesetzes und weiterer Gesetze am 28.07.2010 wurde die Rechtslage für über 16-jährige Minderjährige, die wegen Terrordelikten beschuldigt werden, an das UN-Protokoll für Kinderrechte (1995 unterzeichnet) sowie das Kinderschutzgesetz von 2005 angepasst. 16- und 17-jährige Personen können nun nicht mehr bei terrorbezogenen Delikten der Gerichtsbarkeit speziell autorisierter Gerichte (özel yetkili ihtisas mahkemesi) unterstellt werden, sondern sind der Jugendgerichtsbarkeit unterworfen. Minderjährige, die wegen Terror, Propaganda bzw. Widerstand gegen die Staatsgewalt schuldig befunden werden, können nicht mehr zusätzlich wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verurteilt werden.

 

Zudem werden die Möglichkeiten für Bewährungsstrafen und Strafaussetzungen erweitert und es greifen eine Reihe von Strafmaßreduzierungen.

 

Die Todesstrafe ist in der Türkei vollständig abgeschafft.

 

Polizeiliche Gewahrsame/Haftanstalten:

 

Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Thomas Hammarberg, erkennt in seinem Bericht vom 10. Januar 2012 zwar Fortschritte im Bereich der Justiz an, stellt jedoch das Fortbestehen erheblicher Defizite fest. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die teilweise exzessiv lange Dauer der Strafverfahren und der Untersuchungshaft.

 

Die AK-Partei-Regierung hat alle gesetzgeberischen Mittel eingesetzt, um Folter und Misshandlung im Rahmen einer "Null-Toleranz-Politik" zu unterbinden: Beispielhaft genannt seien die Erhöhung der Strafandrohung (Art. 94ff. des tStGB sehen eine Mindeststrafe von drei bis zwölf Jahren Haft für Täter von Folter vor, verschiedene Tat-Qualifizierungen sehen noch höhere Strafen bis hin zu lebenslanger Haft bei Folter mit Todesfolge vor); direkte Anklagen ohne Einverständnis des Vorgesetzten von Folterverdächtigen; Runderlasse an Staatsanwaltschaften, Folterstraftaten vorrangig und mit besonderem Nachdruck zu verfolgen; Verhinderung der Verschleppung von Strafprozessen und der Möglichkeit, sich dem Prozess zu entziehen; Durchsetzung ärztlicher Untersuchungen bei polizeilicher Ingewahrsamnahme; Stärkung von Verteidigerrechten.

 

Trotz dieser gesetzgeberischen Maßnahmen und trotz einiger Verbesserungen ist es der Regierung bislang nicht gelungen, Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden. Vor allem beim Auflösen von Demonstrationen kommt es zu übermäßiger Gewaltanwendung.

 

Die Zahl der Beschwerden und offiziellen Vorwürfe, die im Zusammenhang mit mutmaßlichen Folter- oder Misshandlungsfällen stehen, ist nach Angaben von Menschenrechtsverbänden 2011 landesweit weiter zurückgegangen. Nach glaubhaften Angaben der türkischen Menschenrechtsstiftung TIHV wurden 2011 insgesamt mindestens 207 (2010: 161, 2009: 252) Personen registriert, die im selben Jahr gefoltert oder unmenschlich behandelt wurden.

 

Hinsichtlich der Folter in Gefängnissen hat sich nach belastbaren Informationen von Menschenrechtsorganisationen die Situation in den letzten Jahren erheblich gebessert; es werden weiterhin Einzelfälle zur Anzeige gebracht, vor allem in Gestalt von körperlicher Misshandlung und psychischen Druck wie Anschreien und Beleidigungen.

 

Auch die Regierung räumt ein, dass Folter in wenigen Ausnahmefällen vorkommt.

 

Ein Problem bei der strafrechtlichen Verfolgung der Täter ist die Nachweisbarkeit von Folter und Misshandlungen.

 

Willkürliche kurzfristige Festnahmen im Rahmen von - mitunter erlaubten, aber in einigen Fällen eskalierenden - Demonstrationen oder Trauerzügen kommen vor. Sie werden von offizieller Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt.

 

In Bezug auf die Verfolgung und den Schutz bei Gewaltdelikten gegen Frauen bestehen weiter große Defizite. Mit einem im März 2012 verabschiedeten Gesetz zum Schutz von Frauen und Familienangehörigen vor häuslicher Gewalt haben nun zwar auch unverheiratete Frauen Anspruch auf staatlichen Schutz. Insgesamt bleibt jedoch die praktische Umsetzung der gesetzlichen Regelungen lückenhaft und die Zufluchtsmöglichkeiten für von Gewalt betroffene Frauen etwa in staatlichen Frauenhäusern ungenügend.

 

In der Türkei gibt es zurzeit 377 Gefängnisse (2010: 371, 2009:429, 2006: 382), darunter 17 sog. F-Typ-Gefängnisse für Häftlinge, die wegen Terror- oder organisiertem Verbrechen verurteilt wurden. 2011 wurden 10 (2010: 7, 2009: 22) neue Haftanstalten geschaffen. In den vergangenen sechs Jahren wurden insgesamt 118 Haftanstalten geschlossen. Justizminister Ergin erklärte 2010, dass 87 neue Gefängnisse bis 2015 eröffnet werden sollen.

 

Die Grundausstattung der türkischen Gefängnisse entspricht nach Angaben des türkischen Justizministeriums den EU-Standards. Die Haftbedingungen sind aufgrund der großen Überbelegung der Haftanstalten jedoch schwierig. Der Bericht des UN-Komitees gegen Folter (CAT) konstatiert darüber hinaus einen Mangel an Gefängnis-Personal (ca. 8.000) und medizinischem Personal. Berichte über mangelnden Zugang zur medizinischen Versorgung von kranken Häftlingen sind demzufolge besorgniserregend.

 

Sippenhaft

 

In der Türkei gibt es keine "Sippenhaft" in dem Sinne, dass Familienmitglieder für die Handlungen eines Angehörigen strafrechtlich verfolgt oder bestraft werden.

 

Staatliche Repressionen

 

Es gibt keine Anhaltspunkte für eine systematische Verfolgung bestimmter Personen oder Personengruppen allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion, Nationalität, sozialen Gruppe oder allein wegen ihrer politischen Überzeugung. Es kommt jedoch zu staatlichen repressiven Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen.

 

Kurden

 

Ungefähr ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der Türkei ist zumindest teilweise kurdischstämmig.

 

Allein aufgrund ihrer Abstammung sind und waren türkische Staatsbürger kurdischer und anderer Volkszugehörigkeit keinen staatlichen Repressionen unterworfen. Aus den Ausweispapieren, auch aus Vor- oder Nachnamen, geht in der Regel nicht hervor, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (Ausnahme: Kleinkindern dürfen seit 2003 kurdische Vornamen gegeben werden).

 

Die meisten Kurden sind in die türkische Gesellschaft integriert, viele auch assimiliert. In Parlament, Regierung und Verwaltung sind Kurden ebenso vertreten wie in Stadtverwaltungen, Gerichten und Sicherheitskräften. Ähnlich sieht es in Industrie, Wissenschaft, Geistesleben und Militär aus.

 

In den wirtschaftlich unterentwickelten und z.T. feudalistisch strukturierten Regionen im Osten und Südosten der Türkei hat sich die Lage der Kurden seit dem Ende des Bürgerkrieges (Festnahme Öcalans 1999, bis dahin ca. 37.000 Todesopfer) und vor allem mit der Verabschiedung der Reformgesetze seit 2002 deutlich verbessert, wie auch unabhängige Menschenrechtsorganisationen feststellen. Dies schließt erste Schritte bei der Gewährung kultureller Rechte ein, wie die Zulassung privater kurdischer Sprachkurse für Erwachsene (die

 

jedoch mangels Nachfrage wieder eingestellt wurden) und die eingeschränkte Genehmigung regionaler kurdischsprachiger Radio- und Fernsehsendungen. Ökonomisch sind zudem erste, wenn auch zaghafte Entwicklungsansätze zu verzeichnen.

 

Der private Gebrauch des Kurdischen, d.h. der beiden in der Türkei vorwiegend gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmanci und Zaza, ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings noch eingeschränkt. Kurdischunterricht und Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen sind nicht erlaubt. Durch die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als der einzigen Nationalsprache und dem damit einhergehenden Verbot für Behörden und Parteien, eine andere Sprache als Türkisch zu verwenden, wird die politische Betätigung von Kurden, aber auch anderer ethnischer Gruppen, eingeschränkt und ihnen die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen erschwert.

 

Seit 2009 sendet der staatliche TV-Sender TRT 6 ein 24-Stunden-Programm in kurdischer Sprache. Zudem wurden alle bisher geltenden zeitlichen Beschränkungen für Privatfernsehen in "Sprachen und Dialekten, die traditionell von türkischen Bürgern im Alltag gesprochen werden" aufgehoben. An der staatlichen Atakule-Universität in Mardin wurde 2010 ein "Institut für lebende Sprachen" (u.a. Kurdisch) eingerichtet. Die staatliche Alpaslan-Universität in Mus bietet seit dem Wintersemester auch einen Magister in kurdischer Sprache an, die private Istanbuler Bilgi-Universität bietet Kurdisch seit 2009 als Wahlfach an.

 

Weiterhin sind Spannungen in den kurdisch geprägten Regionen im Südosten des Landes zu verzeichnen. Allerdings sehen Regierung und Militär, dass die Probleme im Südosten nicht allein mit militärischen Mitteln zu überwinden sind. Seit Mitte 2010 ist jedoch die von Staatspräsident Gül und Ministerpräsident Erdogan in 2009 initiierte "Demokratische Öffnung" (zuvor "Kurdische Öffnung") aufgrund nationalistischer Vorbehalte und andauernder Anschlägen durch die PKK zum Stillstand gekommen. Diese zielte insbesondere auf eine Lösung der Probleme des Südostens und beinhaltet politische, wirtschaftliche und soziokulturelle Maßnahmen. PKK-interne Opposition (Ungehorsam, Befehlsverweigerung etc.) und Abfall (Desertion) von der PKK

 

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Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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