D9 405674-2/2010/37E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. KANHÄUSER als Vorsitzenden und den Richter Mag. STRACKER als Beisitzer über die Beschwerde des XXXX, StA. Russische Föderation, vertreten durch Mag. Norbert KITTENBERGER, Verein "Asyl in Not", gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 30. Dezember 2009, Zl. 08 09.920/1-BAE, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30. April 2013 zu Recht erkannt:
Die Beschwerde wird in Anwendung des § 66 Abs. 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 - AVG, BGBl. Nr. 51, in Verbindung mit § 61 Abs. 1 Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2009, gemäß § 3 Abs. 1, § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100, und § 10 Abs. 1 Z 2 Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 122/2009, als unbegründet abgewiesen.
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der Beschwerdeführer stellte am 13. Oktober 2008 einen Antrag auf internationalen Schutz, nachdem er zuvor illegal ins Bundesgebiet gelangte. Im Zuge der am 13. Oktober 2008 durchgeführten niederschriftlichen Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der Beschwerdeführer zu seinem Reiseweg befragt an, er sei am 9. September 2008 von XXXX aus legal mit seinem russischen Auslandsreisepass aus dem Herkunftsstaat ausgereist. Er sei nach XXXX gelangt und am nächsten Tag mit dem Bus weiter nach Kiew gefahren, habe sich dort bis 20. September 2008 aufgehalten und sei anschließend mit dem Zug nach XXXX gereist. In XXXX angekommen sei er am 21. September 2008 und am 22. September 2008 nach XXXX weitergereist, wo ihn die Polizei aufgegriffen und ihm die Fingerabdrücke abgenommen habe. Nach Beantragung von Asyl sei er in einem Lager in XXXX untergebracht worden, habe dort aber Leute Kadyrows gesehen und sei nach drei oder vier Tagen aus dem Lager weggegangen und nach illegalem Aufenthalt in anderen Unterkünften mit dem Zug von XXXX nach Wien gefahren. Zu seinem Fluchtgrund gefragt, führte der Beschwerdeführer aus, sein Bruder
XXXX habe in der Truppe von Chamsat Gelaev gekämpft, weshalb seine Familie verfolgt worden sei. Im Jahr 1999 sei das Dorf XXXX, in dem der Beschwerdeführer damals wohnhaft gewesen sei, umzingelt und sein Vater im Zuge dessen getötet worden. Auch der Beschwerdeführer selbst habe während dieser Operation auf der Seite von Gelaev gekämpft und sei angeschossen worden. Seine Wunde sei schlecht versorgt worden und habe er deswegen noch Jahre später Probleme gehabt. Im XXXX sei er operiert worden, während seines Aufenthaltes in Polen habe sich sein Gesundheitszustand verschlechtert. Aus der Heimat geflohen sei er, da ihn Kadyrows Leute immer noch verfolgen würden. Für den Fall seiner Rückkehr befürchte er seine Ermordung.
Am 20. März 2009 erfolgte eine ärztliche Untersuchung des Beschwerdeführers, welche keine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung und auch keine sonstigen psychischen Krankheitssymptome ergab.
Am 25. März 2009 wurde der Beschwerdeführer von einem Organwalter des Bundesasylamtes, Erstaufnahmezentrum Ost, niederschriftlich einvernommen, wobei er zur beabsichtigten Überstellung nach Polen angab, er wolle nicht dorthin, da Lebensgefahr bestehe ausgehend von Anhängern Kadyrows, welche ihn vom Flüchtlingslager zu entführen versucht hätten. Er könne nicht in die Heimat zurückkehren, da dort sein Leben in Gefahr sei. Seine Familie werde ständig in der Heimat verhört. Der Beschwerdeführer habe für Kadyrow gearbeitet und sei geflohen. Zur vorgehaltenen gutachterlichen Stellungnahme vom 20. März 2009 meinte der Beschwerdeführer, er nehme seit einem halben Jahr jeden Abend Schlaftabletten.
Mit Bescheid vom 27. März 2009, Zl. 08 09.920, wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 13. Oktober 2008 von der belangten Behörde ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Absatz 1 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, als unzulässig zurückgewiesen und Polen für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz für zulässig erklärt (Spruchpunkt I.) und der Beschwerdeführer gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen (Spruchpunkt III.).
Der dagegen erhobenen Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 30. April 2009, GZ: S10 405674-1/2009/3E, gemäß § 41 Abs. 3 Asylgesetz 2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben. In den Entscheidungsgründen wurde ausgeführt, die sechsmonatige Überstellungsfrist sei abgelaufen, weshalb Österreich zur inhaltlichen Prüfung des Antrags zuständig sei.
Nach Zulassung des Verfahrens erfolgte am 21. Juli 2009 eine Einvernahme des Beschwerdeführers beim Bundesasylamt, Außenstelle Eisenstadt, in welcher der Beschwerdeführer die Frage, ob er gesundheitlich in der Lage sei, der Einvernahme zu folgen, bejahte. Noch einmal zum Reiseweg befragt, führte der Beschwerdeführer aus, er habe XXXX Mitte Februar 2008 verlassen und sei nach XXXX gereist und bis September 2008 geblieben. Danach sei er mit dem Taxi nach XXXX gefahren und habe sich dort einen Tag aufgehalten. Unter Verwendung seines Reisepasses sei er in einem Bus legal nach XXXX gereist, dort ein oder zwei Wochen geblieben und anschließend nach XXXX weitergereist. Am 22. September 2008 sei er mit dem Zug nach Polen gereist, habe um Asyl angesucht und sei in eine Unterbringung für Asylwerber gekommen. Von dort habe man ihn in ein Auto zerren wollen, weshalb er nach XXXX gegangen und am 12. Oktober 2008 nach Warschau und von dort weiter nach Wien gereist sei. Sein Reisepass sei in Polen, weshalb er diesen nicht vorlegen könne. Seine Gattin und seine Tochter seien Asylwerber, seine Mutter und seine Schwester würden sich in der Heimat befinden. Nach seiner Ausreise aus Polen gefragt, meinte der Beschwerdeführer, er sei dort von jenen Leuten, mit denen er zusammengearbeitet habe, von Leuten Kadyrows, bedroht worden. Nach Aufforderung zur Erstattung wahrer Angaben und zur Schilderung seiner Fluchtgründe, führte der Beschwerdeführer aus, er habe zuletzt Probleme mit Leuten Kadyrows gehabt, welche ihn zu vernichten getrachtet hätten. Ein Verbleib in Tschetschenien sei ihm deshalb verunmöglicht worden. Sein Bruder XXXX sei im XXXX bei Kämpfen getötet worden. Er selbst habe von Ende 1999 bis April 2001 für die unabhängigen Truppen Tschetscheniens im Raum XXXX und danach im Raum XXXX gegen die russischen Truppen gekämpft. Nachdem die russischen Truppen auch die Gegend um XXXX eingenommen hätten, hätte er sich in die Berge zurückgezogen. Im Zuge von Kämpfen sei er im XXXX im Rückenbereich verletzt worden. In einem Keller sei er bis Ende Juli gepflegt worden. Bis Ende 2002 habe er sich in den Bergen um XXXX aufgehalten, Anfang 2003 sei er nach XXXX gereist, um sich behandeln zu lassen. Nach einem zweimonatigen Krankenhausaufenthalt sei er nach Tschetschenien, nach XXXX, zurückgekehrt, wo er sich bis Mai 2004 aufgehalten habe. Obwohl ihn Kampfgefährten aufgefordert hätten, sich den Behörden zu stellen und eine Amnestie in Anspruch zu nehmen, habe er dies vorerst nicht getan aus Angst vor einer Inhaftierung. Am 8. oder 9. August 2004 sei er auf dem Weg von XXXX von vermummten Personen aufgehalten, festgenommen, in eine Militärbasis gebracht und dort ca. eine Woche angehalten und misshandelt worden. Er sei über Personen, mit denen er gekämpft habe, und Verwandte ausgefragt worden. Nach einwöchiger Anhaltung sei er nach XXXX gebracht und aus dem Fahrzeug geworfen worden. Passanten hätten ihn ins Krankenhaus gebracht, in dem er sich einen Monat lang aufgehalten habe. Während seines Krankenhausaufenthaltes sei er mehrmals von Leuten Kadyrows besucht und zur Mitarbeit aufgefordert worden, was er vorerst abgelehnt habe. Nachdem man ihm gedroht habe, ihm bzw. seiner Mutter etwas anzutun, habe er sich dazu durchgerungen. Er habe nach der Entlassung aus dem Krankenhaus viele Bekannte zur Zusammenarbeit mit Kadyrow aufgefordert. Jene Personen, die sich geweigert hätten, seien von ihm bzw. Mitstreitern dazu gezwungen worden, teils unter Gewaltanwendung. Dieser Tätigkeit sei er bis Oktober 2007 nachgegangen und anschließend mehrmals nach Georgien gereist, wo er sich bis Februar 2008 aufgehalten habe. Er sei versteckt nach XXXX zurückgekehrt, habe sich eine Woche bei seiner Mutter aufgehalten und anschließend in den Bergen in der Umgebung von XXXX, bis er schließlich nach Europa ausgereist sei. Die Nachfrage, ob er ansonsten jemals in Haft gewesen oder festgenommen worden sei, verneinte der Beschwerdeführer, ebenso wie die Fragen, ob er jemals Probleme mit der Polizei oder einem Gericht gehabt habe oder aus religiösen Gründen verfolgt worden sei. Nachgefragt, ob er wegen seiner politischen Überzeugung verfolgt worden sei, meinte der Beschwerdeführer, er habe das bereits geschildert und für eine selbständige Republik gekämpft. Für den Fall seiner Rückkehr befürchte er, dass ihn Leute von Kadyrow zur Mitarbeit auffordern und bei Weigerung misshandeln oder gar töten würden. Nachgefragt, weshalb er die nunmehr gemachten Angaben zu seiner Zusammenarbeit mit Kadyrow in der Ersteinvernahme nicht erstattet habe, meinte der Beschwerdeführer, bei der Einvernahme sei ein Tschetschene anwesend gewesen, weshalb er aus Angst nichts davon gesagt habe. Nach Vorhalt, wonach seine Behauptung in den Niederschriften keine Bestätigung finde, blieb der Beschwerdeführer bei seinen Angaben. Er habe schon öfter eine ihm bekannte Person aus Tschetschenien in Traiskirchen gesehen, wegen der er versucht habe, Anzeige zu erstatten, was ihm nicht möglich gewesen sei. Nach seinen Befürchtungen in diesem Zusammenhang gefragt, gab der Beschwerdeführer an, jener Mann sei bei seiner Gattin in XXXX gewesen und habe dieser mit der Entführung seiner Tochter gedroht, sollte er nicht nach Hause zurückkehren. Hinsichtlich seiner Gattin gab der Beschwerdeführer an, diese sei vor ca. zwei Wochen nach Österreich gekommen. Verheiratet sei er seit XXXX, die Eheschließung sei am Standesamt in XXXX, erfolgt. Die Frage, ob es noch andere Gründe für seine Ausreise gebe, verneinte der Beschwerdeführer. Zu den vorgehaltenen Länderfeststellungen zum Herkunftsstaat meinte der Beschwerdeführer, dass etliches nicht stimme. Die Bevölkerung lebe in Angst, über alltägliche militärische Zusammenstöße werde nicht berichtet.
Mit Bescheid vom 30. Dezember 2009, Zl. 08 09.920/1-BAE, wurde der Antrag auf internationalen Schutz vom 13. Oktober 2008 von der belangten Behörde bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Unter einem wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt III.).
In der Entscheidungsbegründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer Angaben erstattet habe, denen keine Glaubwürdigkeit zukomme. Der Beschwerdeführer habe sein Vorbringen gesteigert, weshalb diesem nicht gefolgt werden könne. Da - ausgehend vom Nichtvorliegen einer Verfolgungssituation - auch sonst keine maßgebliche Gefährdung glaubhaft gemacht worden sei, seien auch die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nicht gegeben. Die Entscheidung über die Ausweisung des Beschwerdeführers aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation wurde nach Durchführung einer Interessenabwägung als zulässig erachtet.
Gegen diesen Bescheid, zugestellt am 8. Jänner 2010, wurde am 10. Jänner 2010 Beschwerde erhoben. Im Schriftsatz führte der Beschwerdeführer aus, dass entgegen den Ausführungen im angefochtenen Bescheid sein Leben in seiner Heimat bedroht sei, da er immer noch verfolgt werde. Nach seiner Haft strebe er einen anständigen Lebenswandel in Österreich an. Der Beschwerdeführer ersuchte um neuerliche Prüfung eines Falles.
Die Beschwerdevorlage der belangten Behörde vom 20. Jänner 2010 langte am 25. Jänner 2010 beim Asylgerichtshof ein und wurde das gegenständliche Beschwerdeverfahren der Gerichtsabteilung D/5 zugewiesen.
Nach Erhebung einer Unzuständigkeitseinrede wurde das Beschwerdeverfahren am 17. Juni 2010 der Gerichtsabteilung D/9 zugewiesen.
Mit Verfahrensanordnung vom 9. November 2011 stellte der Asylgerichtshof dem Beschwerdeführer über Antrag einen Rechtsberater zur Seite.
Am 6. März 2012 erstatteten der Beschwerdeführer und seine Gattin einen Schriftsatz zum Gesundheitszustand des Beschwerdeführers.
Über Ersuchen des Asylgerichtshofes teilte das Bundeskriminalamt mit, dass der Name des Beschwerdeführers in der Datenbank von Interpol nicht aufscheint.
Am 23. Oktober 2012 erreichte den Asylgerichtshof ein Schriftsatz des Beschwerdeführers vom 22. Oktober 2012 im Wege seines Vertreters samt angeschlossenen Befunden den Beschwerdeführer betreffend.
Am 24. Oktober 2012 langte beim Asylgerichtshof ein Schriftsatz des Bundesasylamtes vom selben Tag ein.
Am 30. April 2013 fand zur Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Asylgerichtshof statt, in welcher der Beschwerdeführer und seine Ehegattin neuerlich zu ihren maßgeblichen Fluchtgründen befragt wurden. Die belangte Behörde war im Vorfeld ordnungsgemäß geladen worden, hatte jedoch bereits mit Schriftsatz vom 13. März 2013 mitgeteilt, dass "aus dienstlichen und personellen Gründen" kein Vertreter entsandt werde. Vorgelegt wurden ärztliche Befunde und ein Unterstützungsschreiben für die ältere Tochter des Beschwerdeführers vom 10. April 2013.
Mit Schriftsatz vom 15. Mai 2013 erstattete der Beschwerdeführer im Wege seines Vertreters eine Stellungnahme zur Verhandlung vom 30. April 2013. Im Schriftsatz wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer sei wegen des Verdachts des Einbruchsdiebstahls festgenommen worden. Der Beschwerdeführer nehme Substitol ein und sei dessen Suchterkrankung nicht zu leugnen. Während der Verhandlung sei der Beschwerdeführer benommen gewesen, habe zusammenhanglose Antworten gegeben und sich die Versicherung des Beschwerdeführers, an der Verhandlung teilnehmen zu können, aus Sicht des Vertreters des Beschwerdeführers als zweifelhaft dargestellt. Die Einvernahmefähigkeit des Beschwerdeführers sei nach dem Dafürhalten des Vertreters des Beschwerdeführers beeinträchtigt gewesen. Die Angaben des Beschwerdeführers seien vor diesem Hintergrund zu sehen. Klärungsbedürftig sei die Frage der Einvernahmefähigkeit des Beschwerdeführers, da nicht beurteilt werden könne, ob die teils widersprüchlich wirkenden Angaben des Beschwerdeführers auf seinen Gesundheitszustand zurückzuführen sein könnten. Dem Beschwerdeführer sei es in der Verhandlung schwer gefallen, über das Schicksal bereits verstorbener Familienangehöriger zu berichten. In der Verhandlung hätten der Beschwerdeführer und seine Ehegattin im Wesentlichen gleichlautende Angaben zur Eheschließung gemacht. Die Ehegattin des Beschwerdeführers sei sehr nervös gewesen, als sie damit konfrontiert worden sei, dass der Beschwerdeführer anderslautende Angaben gemacht habe. Die unklaren Angaben des Beschwerdeführers seien auf dessen psychische Verfassung zurückzuführen. Dass der Beschwerdeführer und seine Gattin Eltern zweier Kinder sind, sei ein deutliches Indiz für das Bestehen einer Ehe im Herkunftsstaat. Hinsichtlich der unterschiedlichen Angaben der Gattin des Beschwerdeführers sei darauf hinzuweisen, dass das Einvernahmeprotokoll vom 9. November 2009 unvollständig sei. Es habe einen Vorfall auf der Straße gegeben, es sei aber im Zuge dessen zu keiner Gewaltanwendung gekommen. Die Ehegattin des Beschwerdeführers sei auch bereit, die anderen geschilderten Erlebnisse ausführlich zu schildern. Hinsichtlich der Angabe der Ehegattin des Beschwerdeführers, dieser habe das Land im September 2007 verlassen, sei festzuhalten, dass dieser Richtung Georgien ausgereist sei; der Beschwerdeführer habe sich bei Nennung des Datums 22. September 2008 auf die Ausreise nach Österreich bezogen; das Ehepaar habe demnach von verschiedenen Ereignissen gesprochen, weshalb kein Widerspruch vorliege. Der Beschwerdeführer habe in der Verhandlung bislang nicht die Möglichkeit erhalten, die Hintergründe für seinen Austritt aus dem Dienst als Sicherheitskraft Kadyrows darzulegen. Der Beschwerdeführer sei nach seinem Dienstbeginn bei Kadyrow in improvisierten Gefängnissen in den Kellern von ehemaligen öffentlichen Gebäuden eingesetzt worden und habe gesehen, dass unschuldige Personen, welche im ersten Krieg für die Unabhängigkeit ihres Landes gekämpft hätten und nicht amnestiert worden seien, gefoltert und misshandelt werden sollten. Der Beschwerdeführer habe viele verhaftete Personen aus seiner Zeit unter Gelaev gekannt. Er habe vereinzelt Personen befreien können, weshalb er den Vorwurf, nur zum Schein für Kadyrow gearbeitet und den Widerstand unterstützt zu haben, bei seiner Rückkehr befürchte. Nach den Länderfeststellungen sei damit im Fall einer Rückkehr damit zu rechnen, dass der Beschwerdeführer in Gefangenschaft komme und Misshandlungen ausgesetzt werde.
Mit Schreiben vom 11. Juni 2013 legte der Beschwerdeführer im Wege seines Vertreters einen Befundbericht XXXX, vom 10. Juni 2013, sowie eine Liste mit Unterschriften von Eltern der Klassenkameraden der älteren Tochter des Beschwerdeführers für den Verbleib der Tochter im Klassenverband sowie ein Schreiben zweier Lehrerinnen der XXXX vom 22. Mai 2013, welche sich für den Verbleib der Familie in Österreich aussprachen.
Am 25. Juni 2013 langte das vom Asylgerichtshof in Auftrag gegebene psychiatrisch-neurologische Gutachten von XXXX, allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger, vom 14. Juni 2013 ein. Beim Beschwerdeführer findet sich demnach eine Polytoxikomanie inklusive des Morphintyps mit Abhängigkeitssyndrom, gegenwärtig Teilnahme an einem ärztlich überwachten Ersatzdrogenprogramm (ICD-10: F 11.22).
Nachdem das Gutachten den Parteien zur Kenntnis gebracht wurde, langte am 28. Juni 2013 eine Stellungnahme des Bundesasylamtes ein, wonach der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers einer Rückkehr nicht entgegenstünde.
Am 25. Juli 2013 langte über Ersuchen des Asylgerichtshofes ein Schreiben von XXXX, ein, wonach der Beschwerdeführer nicht wegen Knochentuberkulose behandelt werde, diese Behandlung vielmehr abgeschlossen sei. Der Beschwerdeführer erhalte medikamentöse Behandlung wegen eines Abszesses für die Dauer von drei Wochen. Außerdem erhalte der Beschwerdeführer Methadon für unbestimmte Zeit.
II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:
1. Auf Grundlage des Verwaltungsaktes der belangten Behörde, der vor dem Asylgerichtshof durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlung und der in diesem Verfahren herangezogenen Hintergrundberichte zur aktuellen relevanten Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien), wird seitens des Asylgerichtshofes Folgendes festgestellt:
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe und bekennt sich zum Islam. Seine Identität steht nicht fest.
Der Beschwerdeführer ist mit der russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit XXXX (D9 411179) verheiratet und Vater von zwei minderjährigen Kindern (D9 411178, D9 421110). Im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers leben noch seine Mutter und seine Schwester.
Der Beschwerdeführer ist im arbeitsfähigen Alter und leidet an keinen Krankheiten, die einer Rückkehr entgegenstünden.
Der Beschwerdeführer stellte am 13. Oktober 2008 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich und befindet sich seit diesem Zeitpunkt durchgehend im Bundesgebiet. Er hat sich einige Deutschkenntnisse angeeignet. Er geht keiner regelmäßigen legalen Erwerbstätigkeit nach. Vielmehr lebt der Beschwerdeführer von staatlichen Sozialleistungen (Grundversorgung), sodass nicht von einer Selbsterhaltungsfähigkeit ausgegangen werden kann. Der Beschwerdeführer ist in keinen gemeinnützigen oder wohltätigen Organisationen bzw. Kultur- oder Sportvereinen engagiert. Er pflegt keine freundschaftlichen Kontakte. Aufenthaltsberechtigte Angehörige hat der Beschwerdeführer in Österreich nicht. Er wurde mit Urteil des XXXX, vom 15. Dezember 2009, wegen §§ 15, 127, 130 erster Fall und 105 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Monaten, davon acht Monate bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren, rechtskräftig verurteilt. Mit Urteil des XXXX, vom 20. Dezember 2011 wurde der Beschwerdeführer wegen §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten, bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren, rechtskräftig verurteilt. Unter einem wurde die Probezeit des bedingten Strafteils zu XXXX auf fünf Jahre verlängert. Mit Urteil des XXXX, wurde der Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 3 SMG und § 15 StGB sowie nach § 27 Abs. 1 Z 1 siebter und achter Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten, davon fünf Monate bedingt unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren, rechtskräftig verurteilt. Gleichzeitig wurde die Probezeit zu XXXX auf fünf Jahre verlängert. Zuletzt wurde der Beschwerdeführer mit Urteil des XXXX, vom 29. August 2013 nach §§ 127, 129 Z 1 und 2 zu einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten rechtskräftig verurteilt. Mit Bescheid der XXXX, wurde gegen den Beschwerdeführer ein Rückkehrverbot, Gültigkeitsdauer 120 Monate, erlassen.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe oder konkrete Anhaltspunkte dafür vor, dass dieser konkret Gefahr liefe, in seinem Herkunftsstaat der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Zur aktuellen politischen und menschenrechtlichen Situation in der Russischen Föderation (Tschetschenien) werden folgende Feststellungen getroffen:
Die Tschetschenische Republik ist eines der 83 Subjekte der Russischen Föderation. Die sieben mehrheitlich moslemischen Republiken im Nordkaukasus wurden jüngst zu einem neuen Föderationsbezirk mit der Hauptstadt Pjatigorsk zusammengefasst. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Tschetschenien selbst ist (kriegsbedingt) eine monoethnische Einheit (93% der Bevölkerung sind Tschetschenen), fast alle sind islamischen Glaubens (sunnitische Richtung). Die Tschetschenen sind das älteste im Kaukasus ansässige Volk und nur mit den benachbarten Inguschen verwandt. Freiheit, Ehre und das Streben nach (staatlicher) Unabhängigkeit sind die höchsten Werte in der tschetschenischen Gesellschaft, Furcht zu zeigen gilt als äußerst unehrenhaft. Sehr wichtig ist auch der Respekt gegenüber älteren Personen und der Zusammenhalt in der (Groß-)Familie, den Taips (Clans) und Tukkums (Tribes). Eine große Bedeutung hat auch das Gewohnheitsrecht Adat. Es gibt sprachliche und mentalitätsmäßige Unterschiede zwischen den Flachland- und den Bergtschetschenen.
In Tschetschenien hatte es nach dem Ende der Sowjetunion zwei Kriege gegeben. 1994 erteilte der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention. Fünf Jahre später begann der zweite Tschetschenienkrieg, russische Bodentruppen besetzten Grenze und Territorium der Republik Tschetschenien. Die Hauptstadt Grosny wurde unter Beschuss genommen und bis Januar 2000 fast völlig zerstört. Beide Kriege haben bisher 160.000 Todesopfer gefordert. Zwar liefern sich tschetschenische Rebellen immer wieder kleinere Gefechte mit tschetschenischen und russischen Regierungstruppen, doch seit der Ermordung des früheren Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, durch den russischen Geheimdienst FSB im März 2005 hat der bewaffnete Widerstand an Bedeutung verloren.
Laut Ministerpräsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen worden. Dabei errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Alu Alchanow im Februar 2007 hat der bisherige Ministerpräsident Ramzan Kadyrow am 05.04.2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten angetreten. Er hat seine Macht in der Zwischenzeit gefestigt und zu einem Polizeistaat ausgebaut "(Kadyrow'scher Privatstaat" Uwe Halbach). Seit 2. September 2010 trägt Kadyrow den Titel "Oberhaupt" Tschetscheniens.
Bis Februar 2011 wurde Russland vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg bereits in 162 Fällen für schwerste Menschenrechtsverletzungen während des zweiten Tschetschenien-Kriegs verurteilt. Im Februar 2011 wurde Ramzan Kadyrow von Präsident Medwedew zu einer zweiten fünfjährigen Amtszeit als Republiksoberhaupt ernannt. Der von Russland unterstützte Präsident Ramzan Kadyrow verfolgt offiziell das Ziel Ruhe, Frieden und Stabilität in Tschetschenien zu garantieren und den Einwohnern seines Landes Zugang zu Wohnungen, Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und Kultur zu bieten. Der russische Präsident Medwedew versucht Tschetschenien auch durch Wirtschaftshilfe zu "befrieden".
Neben der endgültigen Niederschlagung der Separatisten und der Wiederherstellung bewohnbarer Städte ist eine wichtige Komponente dieses Ziels die Wiederbelebung der tschetschenischen Traditionen und des tschetschenischen Nationalbewusstseins. Kadyrow fördert das Bekenntnis zum Islam, warnt allerdings vor extremistischen Strömungen wie dem Wahhabismus. Viele Moscheen wurden wiederaufgebaut, die Zentralmoschee von Grosny ist die größte in Russland. Jeder, der in Verdacht steht, ihn und seine Regierung zu kritisieren, wird verfolgt. Eine organisierte politische Opposition gibt es daher nicht. Die 16.000 Mann starken Einheiten Kadyrows sind für viele Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bis heute verantwortlich.
(Tschetschenien, http://de.wikipedia.org/wiki/Tschetschenien, Zugriff 11.01.2011, Ramzan Kadyrow, http://de.wikipedia.org/wiki/Ramsan_Achmatowitsch_Kadyrow, Zugriff 11.01.2011, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus:
Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009, Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat-Blutrache vom 5.11.2009, Martin Malek, Understanding Chechen Culture, Der Standard vom 19.01.2010, Eurasisches Magazin vom 03.05.2010, Analyse der Staatendokumentation zur Situation der Frauen in Tschetschenien vom 08.04.2010, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 20, The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 8, Issue 42, 02.03.2011)
1. Allgemeine Sicherheitssituation
In Tschetschenien hat Oberhaupt Ramzan Kadyrow ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert, was die Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft auf ein Minimum reduziert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors. Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle ging nach einem relativen Höchststand 2009 wieder zurück. Dennoch kam es 2010 und 2011 zu einigen ernsthaften Vorfällen. Im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 21, Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his visit to the Russian Federation from 12 to 21 May 2011, 6.9.2011)
Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen.
Seit Jahresbeginn 2010 ist es in Tschetschenien jedoch zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt, was teilweise ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien bewirkt. Die Macht von Ramzan Kadyrow, ist in Tschetschenien unumstritten. Politische Beobachter meinen, Ersatz für Kadyrow zu finden wäre sehr schwierig, da er alle potentiellen Rivalen ausgeschalten habe, über privilegierte Beziehungen zum Kreml und zu Ministerpräsident Putin verfüge und sich großer Beliebtheit unter der Bevölkerung erfreue.
(Asylländerbericht Russland der Österreichischen Botschaft in Moskau, Stand 21.10.2010, Seite 15)
Der stetige Rückgang der föderalen Streitkräfte nach Ende der "heißen" Phase des zweiten Krieges ab 2002 kann als Zeichen für die verbesserte Sicherheitslage verstanden werden. Der Rückzug der russischen Truppen war nicht nur durch die Stabilisierung der Sicherheitslage, sondern auch durch die sukzessive Übergabe der Verantwortung auf lokale tschetschenische Streitkräfte, die erst in den letzten Jahren anwuchsen, möglich. Die andauernde Stationierung föderaler Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der trotz der Beendigung der von 1999 bis 2009 dauernden Anti-Terror-Organisation (ATO) nicht erfolgte Abzug zeigen, dass die tschetschenischen Sicherheitskräfte weiterhin föderale Unterstützung im Kampf gegen die Rebellen benötigen. Andererseits kann auch davon ausgegangen werden, dass Moskau seine Truppen vermutlich aus mangelndem Vertrauen in Kadyrow weiterhin dort stationiert lässt. Die in den letzten Monaten ergriffenen Maßnahmen und die Wortwahl der Präsidenten Medwedew und Kadyrow sowie des Ministerpräsidenten Putin zeigen jedenfalls, dass man zur Bekämpfung des "Terrorismus" im Nordkaukasus insgesamt weiterhin eher auf militärische Gewalt setzt, und soziale und wirtschaftliche Maßnahmen eine untergeordnete Rolle spielen.
Medwedew fordert weiterhin "brutale Maßnahmen" gegen Terroristen und spricht von einem "schonungslosen Kampf" gegen die Rebellengruppen. Auch in Zusammenhang mit den Anschlägen auf die Moskauer U-Bahn im März 2010 oder den Anschlag auf ein Kaffeehaus in Pjatigorsk im August 2010 sprach sich Medwedew für die "Zerstörung" der Kämpfer aus. In Anbetracht der 2014 in Sotschi stattfindenden olympischen Winterspiele wird gemutmaßt, dass Medwedew meinen könnte, allein die Anwendung roher Gewalt könne die Region genügend stabilisieren um die Abhaltung der Spiele nicht zu gefährden.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14)
Zusammenfassend ist auszuführen, dass nach Beendigung der Anti-Terror-Organisation 2009 temporär wieder vermehrt Anschläge in Tschetschenien zu verzeichnen waren. Die 2009 sprunghaft angestiegene Anzahl an Selbstmordanschlägen ist 2010 wieder stark eingebrochen. Der jüngste Angriff auf die Heimatstadt Kadyrows Zenteroi am 29. August 2010 lässt keine Zweifel, dass die tschetschenischen Rebellen auch zu taktisch herausfordernden Aktionen fähig sind. Von einer Stärkung der Widerstandsbewegung, die in der nächsten Zeit zu einem Ausbruch größerer Kamphandlungen führen könnte, ist jedoch nicht auszugehen.
Wenngleich sich die Sicherheitslage im Sinne dessen, dass keine großflächigen Kampfhandlungen stattfinden und es zu keiner Vertreibung der Zivilbevölkerung kommt, stabilisiert hat, so zeigt sich also, dass dies nicht zuletzt auf die repressive Machtausübung Ramzan Kadyrows und seiner Sicherheitskräfte zurückzuführen ist. Allgemein ist nach wie vor ein hohes Maß an Gewalt feststellbar, vor allem außerjudizielle Tötungen und Kollektivstrafen. Das teilweise brutale und in einigen Fällen als menschenrechtswidrig zu bezeichnende Vorgehen der Sicherheitskräfte (für das diese kaum belangt werden) bringt zwar auch Resultate mit sich, da immer wieder auch führende Kämpfer "neutralisiert", also getötet oder verhaftet, werden und die Sicherheitslage in Tschetschenien dadurch weitgehend stabilisiert werden konnte, andererseits trägt dieses Vorgehen dazu bei, dass sich auch junge Menschen, die sich zunächst nicht mit radikal-islamischem Gedankengut identifizieren, der Widerstandsbewegung anschließen. Deshalb wird die Rebellenbewegung auch in nächster Zeit nicht an Schlagkraft verlieren. Eine nachhaltige Befriedung ist also weiterhin nicht absehbar, die in Zusammenhang mit Tschetschenien so oft zitierte Gewaltspirale dreht sich weiter.
In Tschetschenien kam es im Sommer 2010 zu einer Spaltung innerhalb des bewaffneten Widerstands, als sich ein Teil der bewaffneten Kämpfer vom bis dahin einflussreichsten Anführer Doku Umarow und seiner Doktrin der Schaffung eines islamischen "Emirat Kaukasus" lossagte. Dieser Zwist führte, zusammen mit dem harten Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen "Terroristen" und deren Angehörige, zu einer Abnahme der direkten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Widerstandskämpfern und Sicherheitskräften, ohne dass die Gewalt insgesamt weniger wurde. Die rund 20.000 "Kadyrowzy" sind nach wie vor aktiv. Die Jamestown Foundation schätzt, dass beinahe 90 Prozent der tschetschenischen islamistischen Gruppierungen nun dem Kommando von Emir Hussein unterstehen, während ein Großteil der dagestanischen, inguschetischen und kabardino-balkarischen "Jamaats" nach wie vor Umarow treu sind. Dieser wurde schon mehrmals totgesagt, was sich bis heute als falsch erwiesen hat.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation:
Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 4-5, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 6, 8 und 9; Russia, Freedom in the World 2012)
2. Verfolgungsgefahr
UNHCR sieht derzeit insbesondere (ehem.) Rebellen und deren Verwandte, politische Gegner Kadyrows, Personen, die eine offizielle Funktion in der Verwaltung Maschadows hatten, Menschenrechtsaktivisten und Personen, die Beschwerden bei regionalen und internationalen Menschenrechtseinrichtungen eingebracht haben und unter besonderen Umständen Frauen und Kinder, als besonders gefährdet an. Personen, die in Sicherheitseinrichtungen, z.B. unter Dudaev und Maschadov tätig gewesen sind oder früher an Rebellenaktivitäten teilgenommen haben, laufen nach wie vor Gefahr, bei einer Rückkehr in die Gefangenschaft zu geraten.
(Anfragebeantwortung von ACCORD vom 08.06.2010)
Dick Marty, Sonderberichterstatter der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, bezeichnet in seinem Bericht den Nordkaukasus als die "europäische Region, in der seit Jahren die gravierendsten und umfangreichsten Menschenrechtsverletzungen stattfinden" und spricht von "systematischen Menschenrechtsverletzungen". Willkürliche Festnahmen und Haft, bei denen es in den meisten Fällen zu Folter kommt, sind im Nordkaukasus alltäglich. Das Ziel ist meistens, Informationen über mutmaßliche Widerstandskämpfer oder Geständnisse sowie die Beschuldigung anderer Personen zu erhalten, welche später in einem Gerichtsverfahren verwendet werden können. Willkürliche Festnahmen werden aber auch eingesetzt, um Menschenrechtsaktivisten, Kritiker und andere Zivilpersonen unter Druck zu setzen und zum Schweigen zu bringen.
Folter und Misshandlung muss aber nicht nur die gesamte Zivilbevölkerung befürchten. Sie drohen auch aus dem Ausland zurückkehrenden Tschetschenen. Das erzwungene Verschwinden von Personen gehört wie Folter und Tötungen zum Alltag im Nordkaukasus.
Kadyrow versprach zudem 100.000 Dollar für jeden getöteten und 50.000 Dollar für jeden lebend gefangen genommenen "Aufständischen". Diese Strategie wird auch von Moskau öffentlich unterstützt. Von Menschenrechtsorganisationen wird kritisiert, dass Entschädigungszahlungen für zerstörte Liegenschaften nur in sehr beschränktem, unzureichendem Ausmaß bezahlt werden. Amnesty International weist darauf hin, dass viele der Entschädigten bis zu 50 Prozent der erhaltenen Gelder gleich als Bestechungsgelder bezahlen mussten. Hohe tschetschenische Beamte und auch Präsident Kadyrow selbst fielen immer wieder durch Drohungen gegenüber den Angehörigen von (mutmaßlichen) Widerstandskämpfern und Rechtfertigungen von kollektiver Bestrafung auf.
(Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 10-14, sowie 17)
Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die tschetschenischen Behörden Unterstützer und Familienmitglieder einzelner Kämpfer auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation suchen und/oder finden würden, was aber bei einzelnen bekannten oder hochrangigen Kämpfern sehr wohl der Fall sein kann.
(BAA/Staatendokumentation: Analyse der Staatendokumentation - Russische Föderation - Unterstützer und Familienmitglieder (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer in Tschetschenien, 20.4.2011)
2.1. Zivilbevölkerung
Vertreter russischer und internationaler NROs (Memorial, Human Rights Watch, amnesty international, Danish Refugee Council) zeichnen ein insgesamt düsteres Lagebild für Tschetschenien. Es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 22)
Bei Sondereinsätzen der Anti-Terror-Organisation geraten gelegentlich auch Zivilisten ins Schussfeld, wie etwa ein Vorfall im inguschetisch-tschetschenischen Grenzgebiet im Februar 2010 zeigt:
Bei diesem Sondereinsatz kamen je nach Angaben zwischen vier und 14 Zivilisten ums Leben. Zudem steht der Vorwurf im Raum, dass Sicherheitskräfte getötete Zivilisten manchmal als Kämpfer bezeichnen würden, um die Statistik zu schönen. Die derzeit stattfindenden Kämpfe führen jedoch nicht zu einer Vertreibung der Zivilbevölkerung.
Bis Mai 2011 hatte der EGMR in rund 180 Fällen Verletzungen der Artikel 2 und 3 der EMRK bei Einsätzen der Sicherheitskräfte in Tschetschenien festgestellt. 60% der Beschwerden betrafen das Verschwinden von Personen. [...] Die andauernden Muster der Straffreiheit für solch ernsthafte Verletzungen zählen zu den hartnäckigsten Menschenrechtsproblemen im Nordkaukasus. Es gab sicherlich mehrere positive Schritte wie die Einrichtung von Untersuchungskomitees, die Unterstützung der Teilnahme von Opfern bei der strafrechtlichen Verfolgung und die Verkündung mehrerer Direktiven hierzu. Viele Untersuchungen ergeben jedoch keinerlei Ergebnisse; in Fällen, in denen Behörden selbst in Verbrechen involviert waren bestehen Zweifel, inwieweit diese mit den Untersuchungsbehörden die notwendige Kooperation ermöglichen können.
(Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his visit to the Russian Federation from 12 to 21 May 2011, 6.9.2011)
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) will sicherstellen, dass die Polizei und Truppen des Innenministeriums, welche Sicherheitsoperationen durchführen, die Gesetze kennen. Daher führte das Komitee zwischen Juni 2010 und Jänner 2011 Informationsveranstaltungen für Sicherheitskräfte durch. Zudem führt das IKRK regelmäßigen Dialog mit föderalen und lokalen Exekutivbehörden über Festnahmen, Inhaftierungen und Gewaltanwendung.
(ReliefWeb: Russian Federation/Northern Caucasus: ICRC maintains aid effort, 1.3.2011,
http://www.reliefweb.int/rw/rwb.nsf/db900SID/JARR-8EJHNK?OpenDocument&rc=4&emid=ACOS-635PN7)
In den letzten Jahren kehrten nicht nur tausende Binnenflüchtlinge in ihre Häuser zurück, sondern auch Tschetschenen, die nach Europa flüchteten. Das subjektive Unsicherheitsgefühl verhindert eine solche Rückkehr scheinbar nicht. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Tschetschenien weiterhin Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen oder unmenschliche Behandlung durch Sicherheitskräfte stattfinden und fragwürdige Maßnahmen wie die Kollektivbestrafung von Kadyrow und anderen tschetschenischen Amtsträgern gutgeheißen werden.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 5)
2.2. Die Rebellen
Die tschetschenische Rebellenbewegung entwickelte sich bereits vor Ausbruch des zweiten Krieges immer mehr von einer separatistischen hin zu einem islamistischen Netzwerk und radikalisierte sich im Verlauf der Kriegsjahre erheblich. Damit einher ging die Ausbreitung der Gewalt auf die Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, wo die Sicherheitslage mittlerweile als prekärer als in Tschetschenien gilt, sowie in geringerem Ausmaß auch auf Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und Nordossetien. Durch die Ausrufung des "Kaukasus Emirats" durch Doku Umarow (Emir Abu Usman) Ende Oktober 2007 wurde offensichtlich, dass sich der tschetschenische Widerstand nunmehr als Teil einer pankaukasischen islamischen Bewegung betrachtet, deren Ziel nicht die Unabhängigkeit der Republik, sondern vielmehr die "Befreiung" der derzeit "von den Russen besetzten" "islamischen Lande" von "Ungläubigen" ist. Grundsätzlich kann die tschetschenische Rebellenbewegung daher heute nicht mehr losgelöst von den im gesamten Nordkaukasus agierenden Rebellengruppen betrachtet werden. Die einzelnen Gruppen des die Republiksgrenzen überschreitenden Netzwerks stehen zwar miteinander in Verbindung, handeln jedoch weitgehend autonom und dürften einzelne Angriffe auch nicht miteinander koordinieren.
Die tatsächliche Anzahl der Kämpfer ist unklar, Schätzungen reichen von 50 bis 60 (Aussagen Kadyrows) über rund 500 (FSB) bis zu 1.500 Mann (einzelne unabhängige Beobachter in Tschetschenien). Doku Umarow gab im März 2010 an, die Anzahl der Mudschaheddin im gesamten Nordkaukasus läge zwischen 10.000 und 30.000 Mann, bei entsprechenden Ressourcen könnte er fünf- bis zehnmal so viele anführen. Während die Angaben Kadyrows zu niedrig angesetzt sind (allein 2009 sollen offiziellen Angaben zufolge 190 Kämpfer in Tschetschenien ums Leben gekommen sein, in den ersten sieben Monaten 2010 51), sind jene Umarows sicherlich stark übertrieben.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-15)
Verfolgungshandlungen von Unterstützern der Kämpfer im zweiten Tschetschenienkrieg können eher vorkommen als bei Unterstützern der Kämpfer des ersten Krieges, wo eine Vorfolgung heutzutage eher auszuschließen ist. Entscheidend für eine Verfolgung ist, wie aktiv ein Kämpfer tatsächlich involviert war oder gegebenenfalls immer noch ist. Andererseits werden führende Posten in der Verwaltung von ehem. Rebellenkommandanten, die zu Kadyrow übergewechselt sind, eingenommen. Bei Unterstützern des Widerstands im ersten und zweiten Tschetschenienkrieg vor 2005 sind einzelne Verfolgungshandlungen jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Familienmitglieder und Unterstützer von derzeit aktiven Rebellen sind, sofern sie als solche bekannt sind, sicherlich einer Bedrohung durch staatliche Organe ausgesetzt. Fälle strafrechtlicher Verfolgung von Unterstützern von Rebellen sind bekannt. Die ergriffenen Maßnahmen wie etwa Hausniederbrennungen finden nicht offiziell statt, werden aber geduldet, wenn nicht sogar durch Aussagen hoher Regierungsbehörden bis hin zu Präsident Kadyrow informell gefördert.
(Analyse der Staatendokumentation, Tschetschenien - Gefährdungseinschätzung: Menschenrechtsaktivisten und Unterstützer (von ehemaligen) Widerstandskämpfern vom 09.09.2009, Seite 13 und 14
COI Workshop "Frauen in Tschetschenien" am 17.02.2012)
2.2.1. Das Vorgehen der Rebellen
In den ersten Jahren des zweiten Krieges kämpften ganze Armeedivisionen und Brigaden russischer Truppen gegen die Rebellen. Nachdem es den föderalen Truppen gelungen war, große Kampfverbände zu besiegen, gingen die Auseinandersetzungen in einen Guerillakrieg über. In den ersten Monaten des zweiten Tschetschenienkrieges waren die russischen Truppen, die sich vor allem auf die als Hochburgen der Rebellen geltenden südlichen Regionen der Republik konzentrierten, beinahe täglich Bombenanschlägen und Angriffen durch Heckenschützen ausgesetzt. Die Stärke und Kräfte der Kämpfer nahmen ab 2002 und deutlich mit 2004 ab, die Häufigkeit militärischer Aktionen ging zurück. Nachdem viele hochrangige Kommandeure der ersten Generation liquidiert worden waren, - nämlich im März 2002 Ibn al-Chattab, im Jänner 2003 Ruslan Gelajew, im März 2005 Aslan Maschadow, im Juni 2006 Abdul-Chalim Sadulajew und im Juli 2006 Schamil Bassajew - verlor die Rebellenbewegung in Tschetschenien insgesamt an Schlagkraft. Die jüngsten Anschläge im russischen Kernland - jener auf den Zug Newski-Express im November 2009 und die Moskauer U-Bahn im März 2010 - gingen Bekennerschreiben zufolge zwar ebenfalls auf das Konto nordkaukasischer Rebellen, allerdings vermutlich nicht tschetschenischer.
Heutzutage teilt sich die Rebellenbewegung in Tschetschenien in kleine, extrem mobile und unabhängige Gruppen von Kämpfern, die sich im gesamten Nordkaukasus praktisch mehr oder weniger frei bewegen können.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16)
2.2.2. Schwächung der Rebellenbewegung
Es kamen zahlreiche Anführer des Kaukasus Emirats ums Leben, darunter auch tschetschenische. Zuletzt wurde am 21. August 2010 der "Emir von Grosny", Chamsat Schamilew, bei einem Sondereinsatz getötet. Gerade in Tschetschenien selbst gelang es im Gegensatz zu Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien aber nicht, auch bedeutende Führungspersönlichkeiten wie Doku Umarow, festzunehmen oder zu liquidieren. Ob die Tötung von Führungspersönlichkeiten zu einer Schwächung der tschetschenischen Rebellenbewegung führen würde, ist fraglich. Das Beispiel der anderen Republiken zeigt, dass dies zumindest kurzfristig nicht zu einer entscheidenden Schwächung der einzelnen Dschamaat führt.
Die nordkaukasische Widerstandsbewegung wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert. Radikal-islamisches Gedankengut findet jedoch in Tschetschenien kaum Sympathien in der Bevölkerung, die Islamisten können sich durch den hohen Repressionsdruck nicht frei in der Öffentlichkeit bewegen. Obwohl die radikal-islamische Ausrichtung einige Männer abschrecken soll sich den Kämpfern anzuschließen, scheint die nordkaukasische Rebellenbewegung keine Probleme zu haben, neue Mitglieder zu rekrutieren. Obwohl die Rekrutierung neuer Mitglieder kein Problem darstellt, gehen den tschetschenischen Kämpfern einigen Beobachtern zufolge zusehends die Ressourcen aus, da es Kadyrow und russischen Sicherheitskräften gelungen sei, ihre Versorgungslinien abzuschneiden.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 16-18)
Die tschetschenischen Sicherheitskräfte unterstehen fast allesamt dem tschetschenischen Innenministerium. Nach Auflösung der beiden Bataillons Sapad und Wostok, die direkt dem russischen Verteidigungsministerium unterstanden hatten, stehen in der Praxis alle Sicherheitskräfte in Tschetschenien unter der direkten Kontrolle Ramzan Kadyrows oder sind ihm loyal, da es Kadyrow im Laufe der Jahre gelungen war, nahezu das gesamte Innenministerium mit Vertrauenspersonen zu besetzen
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 9)
Die tschetschenische Polizei hat nach Angaben des tschetschenischen Innenministers Ruslan Alchanow seit dem Jahresbeginn (2011) 13 Extremisten vernichtet und 41 mutmaßliche Teilnehmer gesetzwidriger bewaffneter Gruppen festgenommen. Weitere zehn Mitglieder der bewaffneten Formationen stellten sich selbst, hieß es. "Die illegalen bewaffneten Gruppen in Tschetschenien sind in der letzten Zeit beträchtlich geschrumpft und bekommen praktisch keine personelle Auffüllung mehr", so der Minister. "Die unbedeutenden Reste dieser Gruppen sind nicht in der Lage, etwas zu ändern, geschweige denn die Lage in der Republik Tschetschenien zu destabilisieren."
(Ria Novosti: Empfindliche Verluste bei Extremisten, 24.4.2011, http://de.rian.ru/russia/20110424/258932158.html, Zugriff 1.6.2011)
2.2.3. Neuerliche Gewalt durch Rebellengruppen
Als Gründe für den neuerlichen Gewaltausbruch werden nicht nur religiöser Extremismus und ethnischer Separatismus genannt. Auch die autoritäre Politik Kadyrows und die durch russische und tschetschenische Sicherheitskräfte begangenen Menschenrechtsverletzungen werden als Auslöser genannt. Wie bereits erwähnt werden Armut und die schlechte wirtschaftliche Lage sowie die weit verbreitete Korruption und Clanwirtschaft ebenso dafür verantwortlich gemacht, den Zulauf aus der tschetschenischen Bevölkerung zur Widerstandsbewegung nicht abreißen zu lassen.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 14-18)
Am 19.10.2010 drangen Terroristen sogar bis zum schwer bewachten Parlament in Grosny vor. Aus bisher ungeklärten Gründen gelang es drei Terroristen die Sperre vor dem Parlamentsgebäude zu passieren. Einer der Angreifer sprengte sich davor in die Luft, zwei Untergrundkämpfer drangen in das Gebäude ein, lieferten sich im Erdgeschoss ein Feuergefecht mit den tschetschenischen Sicherheitskräften und sprengten sich dann selbst in die Luft. Außer den Terroristen wurden bei dem Überfall drei Personen getötet, darunter zwei Polizisten und ein tschetschenischer Zivilist. 17 Personen, darunter sechs Polizisten und elf Zivilisten, wurden verletzt. Mit dem Überfall zeigten die Separatisten, dass sie auch in Tschetschenien, wo es in den letzten Jahren weit weniger Anschläge gegeben hatte, als in den Nachbarrepubliken Inguschetien und Dagestan, noch handlungsfähig sind.
(Eurasisches Magazin: Der Terror in Tschetschenien ist zurück vom 06.12.2010)
Am 6. Juli 2010 forderte Putin im südrussischen Kislowodsk eine Amnestie für die Untergrundkämpfer im Nordkaukasus. Damit bewies er, dass man mit allen Mitteln Frieden erreichen will.
(Informationszentrum Asyl & Migration: Russische Föderation, Länderinformation und Pressespiegel zur Menschenrechtslage und politischen Entwicklung, Lage im Nordkaukasus vom September 2010, Seite 5)
2.3. Menschenrechtsaktivisten und Gegner Kadyrows:
Immer wieder kam es zu Zusammenstößen zwischen verschiedenen offiziellen tschetschenischen Einheiten, insbesondere zwischen solchen unter der Kontrolle Kadyrows und jenen unter der Kontrolle von Personen, die gemeinhin als seine persönlichen Gegner bezeichnet wurden, wie zum Beispiel der mittlerweile ermordete Sulim Jamadajew und der nunmehr aus Tschetschenien vertriebene Said-Magomed Kakijew. Bei diesen Zusammenstößen kam es auch zu Todesfällen.
(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 10)
Seit 2009 wurde eine zunehmende Zahl von Menschenrechtsverteidigern aus dem Nordkaukasus drangsaliert, geschlagen, entführt und getötet. Auch der tschetschenische Präsident Ramzan Kadyrow beschuldigte am 3. Juli 2010 in einem Fernsehinterview Journalisten und Menschenrechtsaktivisten, vom Ausland bezahlt zu sein, und bezeichnete sie als "Verräter, welche "die Idee des Mutterlands verkauft" hätten, zudem als "Feinde des Volkes, Feinde des Gesetzes, Feinde des Staates".
(Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, Seite 14-15)
Einer der zuletzt bekannt gewordenen Fälle betrifft den kritischen politischen Journalisten der Tageszeitung "Kommersant" Oleg Kaschin, der am 06.11.2010 vor seinem Haus von Unbekannten zusammengeschlagen und schwer verletzt wurde.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 9)
3. Versorgungslage
Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in den Jahren seit 2007 deutlich verbessert. Die Staatsausgaben in Tschetschenien pro Einwohner sind doppelt so hoch wie im Durchschnitt des südlichen Föderalen Bezirks. Durch die in den letzten zehn Jahren - großteils durch föderale Gelder - durchgeführten Programme und Projekte konnte der Wiederaufbau in der Tschetschenischen Republik vorangetrieben werden. Kadyrow möchte eine Art "Dubai des Kaukasus"(Uwe Halbach) aus Tschetschenien machen. Sowohl in die soziale, als auch in die technische Infrastruktur wurde investiert: In den Bau und die Renovierung von Wohnungen, medizinischen Einrichtungen, Schulen, Kaufhäusern, Straßen, Kanalisation, Stromversorgung u. ä. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens Grosny ist inzwischen fast vollständig wieder aufgebaut - dort gibt es mittlerweile auch wieder einen Flughafen. Nach Angaben der EU-Kommission findet der Wiederaufbau überall in der Republik, insbesondere in Gudermes, Argun und Schali, statt. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen melden, dass selbst in kleinen Dörfern Schulen und Krankenhäuser aufgebaut werden. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser, etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die Kompensationszahlungen Erfolge. Der Wiederaufbau geht unter hohem Einsatz staatlicher Mittel rasch voran, die Arbeitslosigkeit bleibt aber nach wie vor ein schweres Problem. Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau sachgerecht verwendet werden. Die humanitären Organisationen reduzieren langsam ihre Hilfstätigkeiten; sie konstatieren keine humanitäre Notlage, immer noch aber erhebliche Entwicklungsprobleme. Der Schulbesuch ist grundsätzlich möglich und findet unter zunehmend günstigen Bedingungen statt.
(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 23, Bericht der Staatendokumentation zum Forschungsaufenthalt, Russische Föderation - Republik Tschetschenien, Dezember 2011, Seite 5; Amnesty International, Annual Report 2012)
3.1. Wohnsituation
Laut Beurteilung des tschetschenischen Eigentumsministeriums sowie des Wohnungsministeriums ist das Privateigentum anderer für Tschetschenen unantastbar. Aus diesem Grunde werden Häuser von Tschetschenen, die ausgereist sind, nicht von anderen Personen oder vom Staat in Besitz genommen. Es wurde in den diesbezüglichen Stellungnahmen sogar soweit ausgeholt, dass Häuser so lange leer stehen würden, bis der Besitzer zurückkäme.
(Bericht der Staatendokumentation zum Forschungsaufenthalt, Russische Föderation - Republik Tschetschenien, Dezember 2011, Seite 23-24)
Im Juli 2003 führte die Regierung Kompensationszahlungen ein. Im Rahmen dessen sollten Personen, deren gesamtes Eigentum zerstört worden war, 350.000 Rubel bekommen. Der föderalen Regierung zufolge hatten bis Ende 2004 39.000 Personen solche Kompensationszahlungen erhalten. Zusätzlich zu Regierungsprogrammen unterhalten humanitäre Organisationen Programme zur Beschaffung von Unterkünften. Zwischen 2000 und 2007 wurden in Tschetschenien rund 20.000 Häuser mit der Hilfe humanitärer Organisationen repariert oder aufgebaut.
(BAA - ÖIF, Soziale Infrastruktur in Tschetschenien; August 2009, Seite 9)
Wohnraum bleibt ein großes Problem. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden während der kriegerischen Auseinandersetzungen seit 1994 über 150.000 private Häuser sowie ca. 73.000 Wohnungen zerstört. Die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist noch nicht abgeschlossen. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass nur rund ein Drittel der Vertriebenen eine Bestätigung der Kompensa