TE AsylGH Erkenntnis 2013/09/18 S25 437551-1/2013

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Veröffentlicht am 18.09.2013
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Spruch

S25 437.551-1/2013-4E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. NIEDERSCHICK als Einzelrichter über die Beschwerde der XXXX, geb. XXXX, StA. Russische Föderation, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Philipp TSCHERNITZ, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 21.08.2013, Zl. 13 05.621-EAST-West, zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs 3 AsylG 2005 stattgegeben. Der angefochtene Bescheid wird behoben und das Verfahren der Beschwerdeführerin zugelassen.

Text

Entscheidungsgründe:

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt

 

1. Die Beschwerdeführerin, eine russische Staatsangehörige, stellte am 30.04.2013 einen Antrag auf internationalen Schutz.

 

Bereits zuvor am 21.02.2013 war ein in Österreich lebender Sohn der Beschwerdeführerin, ein österreichischer Staatsangehöriger, von der Abteilung Fremdenpolizeiliche Angelegenheiten des Polizeikommissariats XXXX, als Zeuge einvernommen worden. Dieser gab dabei an, in Österreich bereits seit mindestens sieben Jahren bei einer Firma berufstätig zu sein und zunächst in Österreich einen positiven Asylbescheid und kürzlich auch die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten zu haben. Seine Mutter - die Beschwerdeführerin - sei ungefähr einen Monat zuvor, ohne vom Beschwerdeführer geholt worden zu sein, zu ihm gekommen und er wisse nicht, was er tun solle. Er habe sich bereits an die Diakonie gewandt, die ihm jedoch nicht helfen habe können. Seine Mutter sei derzeit nicht reisefähig und lebe gegenwärtig in seiner Wohnung gemeinsam mit seiner Ehefrau und den fünf Kindern. Seine Mutter sei bereits 74 Jahre alt und habe in Russland nur noch einen Sohn, der Invalide sei. Seine Mutter habe seine Adresse gehabt, da er ihr immer Pakete nach Russland geschickt habe. Wie die Reise der Mutter erfolgt sei, wisse er noch nicht genau. Er sorge derzeit für seine Mutter. Seine Frau sei ebenso geringfügig beschäftigt und finanziell komme man zurecht [Aktenseite des Verwaltungsverfahrensaktes (AS) 5].

 

Bei der am 30.04.2013 durchgeführten Erstbefragung nach dem AsylG gab die Beschwerdeführerin zu Beginn zu ihrem Gesundheitszustand befragt an, Probleme mit der Wirbelsäule, der Hüfte sowie den Beinen zu haben und im Rollstuhl zu sitzen und regelmäßig Schmerzmittel zu nehmen. Zu ihrer Ausreise führte sie aus, aus Tschetschenien zu stammen, im Jänner 2013 mit dem Taxi nach Grosny gefahren und von dort mit einem unbekannten tschetschenischen Mann nach Moskau geflogen zu sein. Jener Mann habe ihr auch ein von XXXX bis XXXX gültiges italienisches Visum C besorgt, sei mit ihr von Moskau aus in einem weiteren Flugzeug an einen ihr unbekannten Ort geflogen und habe sie anschließend in ein Taxi gesetzt. Dem Fahrer habe dieser dann die Adresse des in Österreich lebenden Sohnes gegeben, zu dem sie in der Folge gebracht worden sei. Ihr Sohn sei österreichischer Staatsbürger. Zu ihrem Ausreisegrund brachte die Beschwerdeführerin vor, dass sich ihr gesundheitlicher Zustand nach dem Tod ihres Ehemannes verschlechtert habe. Sie habe niemanden gehabt, der sich um sich kümmern habe können, da ihr Mann verstorben sei und der noch in Tschetschenien lebende Sohn seit seiner Geburt behindert und selbst pflegebedürftig sei. Sie könne nicht gehen und wolle mit ihrem in Österreich lebenden Sohn leben, der sie unterstütze und sich um sie kümmern werde [AS 41 f].

 

Am 08.05.2013 richtete das Bundesasylamt gemäß Art 9 Abs 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates (Dublin II-VO) ein Ersuchen um Aufnahme an die italienischen Behörden. Das Bundesasylamt teilte diesen auch mit, dass der Sohn der Beschwerdeführerin als Konventionsflüchtling in Österreich lebe und es sich bei der Beschwerdeführerin um eine vulnerable Person handle, die eine besondere Behandlung benötige (AS 69 ff).

 

Am 08.05.2013 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 29 Abs 3 AsylG 2005 mitgeteilt, dass das Bundesasylamt seit 08.05.2013 Dublin-Konsultationen mit Italien führe und aufgrund dieser Mitteilung die Zwanzigtagesfrist des Zulassungsverfahrens nicht mehr gelte. Darüber hinaus wurde ihr mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, ihren Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen (AS 117 ff).

 

Mit Schriftsatz vom 27.05.2013 gab der ausgewiesene rechtsfreundliche Vertreter die Bevollmächtigung durch die Beschwerdeführerin und die Übernahme der Vertretung bekannt (AS 135).

 

Mit Schreiben vom 28.05.2013 teilte Italien zu der Anfrage des Bundesasylamtes vom 08.05.2013 mit, dass sich Italien als zuständig erachte. Gleichzeitig ersuchte Italien unter Bezugnahme auf die Angaben des Bundesasylamtes, wonach der Sohn der Beschwerdeführerin als Konventionsflüchtling in Österreich aufenthaltsberechtigt sei, dass im Sinne der Dublin II-VO zur Wahrung der Familieneinheit das Bundesasylamt den Antrag der Beschwerdeführerin prüfe (AS 141).

 

Am 04.06.2013 wurde die Beschwerdeführerin vom Bundesasylamt nach einer zuvor erfolgten Rechtsberatung in Anwesenheit ihres Sohnes und eines Rechtsberaters einvernommen. Zu ihrem Gesundheitszustand befragt, gab sie dabei an, nicht gehen zu können, Probleme mit den Gelenken zu haben und stets Krücken zu benötigen, um sich zu bewegen. Zu Angehörigen und Bezugspersonen befragt, führte die Beschwerdeführerin aus, dass sie nur ihren Sohn habe, der österreichischer Staatsbürger sei und seit Mai 2003 in Österreich lebe. Ihr Sohn habe hier auch eine Ehefrau und fünf Kinder. Ihr Sohn habe mit ihr in Tschetschenien stets in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Seit er in Österreich sei, habe er sie ein bis zwei Mal in der Woche in Tschetschenien angerufen sowie auch finanziell und mit Paketen, Kleidung und Schuhen unterstützt. Sie wüsste nicht, wie ihr Leben dort wäre, wenn ihr Sohn ihr nicht geholfen hätte. Er unterstütze sie auch jetzt, sie lebe seit ihrer Ankunft in Österreich bei ihm und er passe auf sie auf. Sie benötige nur die Hilfe ihres Sohnes und sonst nichts. Weiters gab die Beschwerdeführerin an, sie wolle nicht nach Italien zurück, da sie dort niemanden habe und auf die Hilfe ihres Sohnes angewiesen sei. Sie benötige nicht nur Krücken, sondern auch menschliche Hilfe. Ihr Sohn begleite sie sogar auf das WC. Nicht nur er passe auf sie auf, sondern auch ihre Enkelkinder, von denen sie anscheinend geliebt werde. Ihre Schwiegertochter sei ein sehr guter Mensch und barmherzig zu ihr. Ihr Sohn begleite sie auch zu den Ärzten und bezahle die ärztliche Hilfe. Ihr Sohn werde natürlich auch in Zukunft für sie sorgen, solange sie lebe.

 

Der Rechtsberater beantragte um Aushändigung der Länderfeststellungen zu Italien sowie eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme. Weiters ersuchte der Rechtsberater mit näherer Begründung, dass Österreich aus humanitären Gründen vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch mache (AS 173 ff).

 

Mit undatiertem Schriftsatz, eingelangt beim Bundesasylamt am 11.06.2013, gab die Beschwerdeführerin eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen ab (AS 185 ff).

 

Laut einem im Akt befindlichen ärztlichen Attest eines Arztes für Allgemeinmedizin vom 17.06.2013 leidet die Beschwerdeführerin an degen. Veränderungen des gesamten Bewegungsapparates, vor allem an Hüftgelenksarthrose links und Kniegelenksarthrose rechts. Dazu wurde ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin dadurch stark gehbehindert und nicht dazu in der Lage sei, sich täglich bei der Polizeiinspektion zu melden (AS 211).

 

In einem Schreiben vom 17.06.2013 teilte das Polizeikommissariat XXXX dem Bundesasylamt mit, dass die Beschwerdeführerin derzeit ihre Meldepflicht gemäß § 15 AsylG aus medizinischen Gründen nicht erfüllen könne und der zuständige Referent des Bundesasylamtes mitgeteilt habe, dass bei Vorliegen einer ärztlichen Bestätigung die Meldepflicht vorläufig nicht erfüllt werden müsse. Weiters wurde ausgeführt, dass sich im Akt der Fremdenpolizei eine ärztliche Bestätigung befinde, wonach die Beschwerdeführerin nicht reisefähig sei, und die Meldepflicht seit 08.06.2013 dadurch erfüllt werde, dass die zuständige Polizeiinspektion in der derzeitigen Unterkunft der Beschwerdeführerin die Anwesenheit überprüft habe (AS 213).

 

Mit Schriftsatz vom 16.07.2013 beantragte der rechtsfreundliche Vertreter bei der Landespolizeidirektion XXXX, der Beschwerdeführerin die Auflage der täglichen Meldung zu entziehen (AS 223 f.).

 

2. Mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid des Bundesasylamtes wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und wurde ausgesprochen, dass für die Prüfung des gegenständlichen Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich des Beschwerdeführers gemäß Art 9 der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates Italien zuständig sei (Spruchpunkt I). Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs 1 Z 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Italien ausgewiesen und festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Italien gemäß § 10 Abs 4 AsylG zulässig sei (Spruchpunkt II) (AS 227 ff).

 

Das Bundesasylamt traf in diesem Bescheid insbesondere die Feststellungen, dass die Beschwerdeführerin mit einem Visum des Mitgliedstaates Italien eingereist sei, ein Aufnahmeersuchen an Italien gestellt worden sei und sich Italien für zuständig erklärt habe. Weiters wurden vom Bundesasylamt Feststellungen zum italienischen Asylverfahren, insbesondere zu Rechten und Pflichten des Asylwerbers und zur Versorgung, mit entsprechenden Quellenangaben in den Bescheid aufgenommen.

 

Zum Privat- und Familienleben traf das Bundesasylamt wörtlich folgende Feststellungen:

 

"Sie haben die Familie eines Sohnes in Österreich. Sie haben in Österreich keine weiteren Angehörigen oder sonstige Verwandten, zu denen ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis bzw. eine besonders enge Beziehung besteht. Sie leben nunmehr 10 Jahre getrennt vom Sohn, ein weiterer Sohn befindet sich in der Heimat. Die Kernfamilie ihres Sohnes umfasst 5 Kinder, ihr Sohn ist österreichischer Staatsbürger und sie führen aus ¿seit 19.05.2003 in Österreich'.

 

Sie reisten zwar bereits Jänner 2013 mit Visum ausgestellt von Italien zum Sohn nach Österreich und erklären zu Unterstützungsleistungen befragt ¿Ja, natürlich, alles. Er hat mich finanziell unterstützt als ich zuhause war und jetzt wo ich in Österreich bin, bin ich bei meinem Sohn und er paßt auf mich auf. Ich bin seit 5 Monate, ich glaube seit Jänner bei ihm jetzt.' In Gesamtschau und Abwägung kann Ihr Vorbringen jedoch nicht geeignet sein eine Entscheidungsabänderung zu bewirken und ist klar die Zuständigkeit des MS Italien (Visum) gem. der Dublin II - VO gegeben. Zu sonstigem Bezug zu Österreich befragt führen sie aus ¿Nein, ich brauche die Hilfe meines Sohnes hier. Sonst nichts.'

 

Sie haben in Österreich keine sozialen Kontakte, die Sie an Österreich binden. Auch hat sich ihr Sohn bereits 1994 verehelicht und ist somit bereits seit 1994 die Ausgestaltung eines eigenen Familienlebens gegeben, und nicht erst seit der ältere Sohn sich samt Familie in Österreich befinde, wenngleich sie auf telefonischen Kontakt 1 bis 2 Mal in der Woche verweisen und ist auch klar zu sehen dass sie gegenständliche Reise auch selbst finanzieren und einen Schlepper organisieren konnten"

 

Im Rahmen der Beweiswürdigung führte das Bundesasylamt hinsichtlich des festgestellten Privat- und Familienlebens wörtlich aus:

 

Die Angaben bezüglich Ihres Privat- und Familienlebens ergeben sich aufgrund Ihrer niederschriftlichen Einvernahmen. Soweit sie auf Gehunfähigkeit verweisen bzw. erklären ¿Gehen kann ich seit 4 bis 5 Jahren nicht. Seit mein Mann verstarb war ich zuhause alleine gestellt und hatte niemanden der sich um mich kümmern konnte. Ich habe zwar einen Sohn zuhause, der ist selbst Invalide und deswegen kam ich zu meinem Sohn nach Österreich jetzt, damit mein Sohn mir hilft.' ist klar zu sehen dass sie gegenständliche Reise selbst finanziert und organisiert haben und auch zur Betreuung auf ¿einen Mann' verweisen bzw. ausführen ¿Er begleitete mich von zuhause. Als wir aus dem Flugzeug ausgestiegen sind hat er für mich ein Taxi genommen und gesagt wohin er mich bringen soll. Am Flughafen haben wir uns getrennt.'

 

Spruchpunkt I wurde zusammengefasst im Wesentlichen damit begründet, dass sich aus dem Vorbringen der Beschwerdeführerin und dem amtswegigen Ermittlungsverfahren ergebe, dass Art 9 Dublin II-VO erfüllt sei. Dieser Staat sei auch bereit, die Beschwerdeführerin einreisen zu lassen und ihr gegenüber die sich aus der Dublin II-VO ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen. Festzustellen sei, dass Italien ein Mitgliedstaat der EU sei und auf Grund der allgemeinen Lage nicht hinreichend wahrscheinlich sei, dass es im gegenständlichen Fall bei einer Überstellung zu einer entscheidungsrelevanten Verletzung der EMRK komme. Auch aus der Rechtsprechung des EGMR und aus sonstigem Amtswissen ließen sich keine systematischen, notorischen Verletzungen fundamentaler Menschenrechte in Italien erkennen. Ein von der Beschwerdeführerin im besonderen Maße substantiiertes und glaubhaftes Vorbringen betreffend das Vorliegen besonderer, bescheinigter exzeptioneller Umstände, die die Gefahr einer maßgeblichen Verletzung der EMRK im Falle einer Überstellung ernstlich möglich erscheinen lassen, sei im Verfahren nicht hervorgekommen und auch nicht behauptet worden. Die Regelvermutung des § 5 Abs 3 AsylG treffe daher zu. Es habe sich kein Anlass für die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes gemäß Art 3 Abs 2 Dublin II-VO ergeben, weshalb spruchgemäß zu entscheiden gewesen sei.

 

Hinsichtlich Spruchpunkt II erachtete das Bundesasylamt die Ausweisung für zulässig. Zur individuellen Situation der Beschwerdeführerin führte das Bundesasylamt dazu aus, dass die Beschwerdeführerin die Familie ihres ältesten Sohnes in Österreich habe und dazu auf die bereits erfolgten Ausführungen zu verweisen sei. Ergänzend werde angeführt, dass das private Interesse an einem Fortbestand der Beziehung zur Familie des ältesten Sohnes im gegenständlichen Fall jedenfalls geringer zu werten sei als das öffentliche Interesse an einem geordnetem Zuzug nach Österreich im Sinne der Unterbindung von Einreisen unter Umgehung der Kontrollen bzw illegaler Einreisen in Verbindung mit Schlepperkriminalität. Eine gegenteilige Ansicht würde den Bestimmungen des Fremdenrechts widersprechen, welche den Familiennachzug regeln und würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass diese Bestimmungen durch den faktischen Vollzug des Familiennachzuges durch Einreise unter Umgehung der Grenzkontrolle und rechtsmissbräuchlicher Stellung eines Asylantrages in der Rechtswirklichkeit de facto außer Kraft gesetzt werden würden. Es erscheine auch nicht unmöglich, dass die Beschwerdeführerin etwaige Kontakte auf Grundlage gegenseitiger Besuche im Rahmen der fremdenrechtlichen Bestimmungen halten könnten.

 

Der Bescheid des Bundesasylamtes wurde der Beschwerdeführerin am 21.08.2013 und dem rechtsfreundlichen Vertreter am 22.08.2013 ordnungsgemäß zugestellt (AS 339, 359).

 

Mit Verfahrensanordnung des Bundesasylamtes vom 21.08.2013 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 66 Abs 1 AsylG für das Beschwerdeverfahren ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt (AS 343).

 

3. Mit Schriftsatz vom 26.08.2013 wurde gegen den Bescheid des Bundesasylamtes fristgerecht und vollumfänglich Beschwerde erhoben. Beantragt wurde, den Bescheid des Bundesasylamtes wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben, in das Asylverfahren gemäß Art 3 Abs 2 Dublin II-VO einzutreten und dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von internationalen Schutz stattzugeben; in eventu den Spruchpunkt II des bekämpften Bescheides wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes ersatzlos zu beheben; in eventu den Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben und zur Durchführung ergänzender Ermittlungen an die belangte Behörde zurückzuverweisen (AS 361 ff).

 

4. Die gegenständliche Beschwerde langte samt Verwaltungsverfahrensakt der Aktenlage nach am 05.09.2013 beim Asylgerichtshof ein.

 

5. Mit Beschluss des Asylgerichtshofes vom 06.09.2013 wurde der Beschwerde gemäß § 37 Abs 1 AsylG 2005 die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

 

II. Der Asylgerichtshof hat gemäß § 61 Abs 3 und 4 AsylG 2005 durch den zuständigen Richter als Einzelrichter über die gegenständliche Beschwerde erwogen

 

1. Beweis wurde erhoben durch den Inhalt des vorliegenden Verwaltungsverfahrensaktes.

 

2. Auf alle ab dem 1.1.2006 gestellten Anträge auf internationalen Schutz ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl, BGBl I Nr 100/2005, zuletzt geändert durch BGBl I Nr 144/2013 (AsylG), anzuwenden.

 

Hinsichtlich des Verfahrens vor dem Asylgerichtshof sind die einschlägigen Bestimmungen des AsylG 2005 und das Bundesgesetz über den Asylgerichtshof, BGBl I Nr 4/2008 in der Fassung BGBL I Nr 140/2011 (AsylGHG) sowie subsidiär das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz 1991, BGBl Nr 51/1991 in der geltenden Fassung (AVG) anzuwenden. Schließlich war das Bundesgesetz über die Zustellung behördlicher Dokumente, BGBl Nr 200/1982 in der geltenden Fassung (ZustG) maßgeblich.

 

3. Zur Frage der Zuständigkeit zur Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz (Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides)

 

3.1. Gemäß § 5 Abs 1 AsylG ist ein nicht gemäß § 4 AsylG erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Dublin II-VO zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs 1 Z 1 AsylG ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe der § 10 Abs 3 und Abs 4 AsylG mit einer Ausweisung zu verbinden.

 

Die Dublin II-VO ist eine Verordnung auf Basis des Unionsrechtes der Europäischen Union (vgl Art 78 AEUV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebenso wenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

Gemäß § 41 Abs 3 AsylG ist in einem Verfahren über eine Beschwerde gegen eine zurückweisende Entscheidung und die damit verbundene Ausweisung § 66 Abs. 2 AVG nicht anzuwenden (Satz 1). Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesasylamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben, ist das Verfahren zugelassen (Satz 2). Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint (Satz 3).

 

3.2. Es ist daher zunächst zu überprüfen, welcher Mitgliedstaat zur inhaltlichen Prüfung zuständig ist.

 

Im gegenständlichen Fall wurde der Beschwerdeführerin von der italienischen Botschaft in Moskau am XXXX ein für den Zeitraum XXXX bis XXXX und für den gesamten Schengenraum gültiges Visum C ausgestellt (Kopie im Verwaltungsverfahrensakt, AS 55). Weiters stellte die Beschwerdeführerin am 30.04.2013 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Vor diesem Hintergrund ist das Bundesasylamt zunächst zu Recht von der Zuständigkeit Italiens gemäß Art 9 Abs 4 Dublin II-VO ausgegangen und hat Italien auch seine Zuständigkeit zur Führung des Verfahrens der Beschwerdeführerin angenommen.

 

Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, sodass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II-VO - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007, 22ff; vgl auch das Gebot der Transparenz im "Dublin-Verfahren", VwGH 23.11.2006, 2005/20/0444). Derartiges wurde im Verfahren auch nicht behauptet. Das Konsultationsverfahren erfolgte nach Ansicht des Asylgerichtshofes ohne relevante Mängel. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung ist somit gegeben.

 

3.3. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art 3 Abs 2 Dublin II-VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung von maßgeblichen Vorschriften der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, B 336/05, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten kraft Gemeinschaftsrecht [nunmehr: Unionsrecht] nicht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II-VO erfolgt sei, dabei aber gleichzeitig ebenso ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich [unionsrechtlich] zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art 3 Abs 2 Dublin II-VO zwingend geboten sei.

 

Die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu den Determinanten dieser Nachprüfung lehnt sich richtigerweise an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte an und lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die bloße Möglichkeit einer dem Art 3 EMRK widersprechenden Behandlung in jenem Staat, in den ein Fremder abgeschoben werden soll, genügt nicht, um die Abschiebung des Fremden in diesen Staat als unzulässig erscheinen zu lassen. Wenn keine Gruppenverfolgung oder sonstige amtswegig zu berücksichtigende notorische Umstände grober Menschenrechtsverletzungen in Mitgliedstaaten der EU in Bezug auf Art 3 EMRK vorliegen (VwGH 27.09.2005, 2005/01/0313), bedarf es zur Glaubhaftmachung der genannten Bedrohung oder Gefährdung konkreter auf den betreffenden Fremden bezogener Umstände, die gerade in seinem Fall eine solche Bedrohung oder Gefährdung im Fall seiner Abschiebung als wahrscheinlich erscheinen lassen (VwGH 26.11.1999, 96/21/0499, VwGH 09.05.2003, 98/18/0317; vgl auch VwGH 16.07.2003, 2003/01/0059):

"Davon abgesehen liegt es aber beim Asylwerber, besondere Gründe, die für die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes im zuständigen Mitgliedstaat sprechen, vorzubringen und glaubhaft zu machen. Dazu wird es erforderlich sein, dass der Asylwerber ein ausreichend konkretes Vorbringen erstattet, warum die Verbringung in den zuständigen Mitgliedstaat gerade für ihn die reale Gefahr eines fehlenden Verfolgungsschutzes, insbesondere einer Verletzung von Art 3 EMRK, nach sich ziehen könnte, und er die Asylbehörden davon überzeugt, dass der behauptete Sachverhalt (zumindest) wahrscheinlich ist." (VwGH 23.01.2007, 2006/01/0949).

 

Die Vorlage allgemeiner Berichte ersetzt dieses Erfordernis in der Regel nicht (vgl VwGH 17.02.1998, 96/18/0379; EGMR Mamatkulov & Askarov v Türkei, Rs 46827, 46951/99, 71-77), eine geringe Anerkennungsquote, eine mögliche Festnahme im Falle einer Überstellung ebenso eine allfällige Unterschreitung des verfahrensrechtlichen Standards des Art 13 EMRK sind für sich genommen nicht ausreichend, die Wahrscheinlichkeit einer hier relevanten Menschenrechtsverletzung darzutun. Es ist auch nicht Aufgabe der österreichischen Asylbehörden, hypothetische Überlegungen über den möglichen Ausgang eines von einem anderen Staat zu führenden Asylverfahrens anzustellen. Relevant wäre dagegen etwa das Vertreten von mit der GFK unvertretbaren rechtlichen Sonderpositionen in einem Mitgliedstaat oder das Vorliegen einer massiv rechtswidrigen Verfahrensgestaltung im individuellen Fall, wenn der Asylantrag im zuständigen Mitgliedstaat bereits abgewiesen wurde (Art 16 Abs 1 lit e Dublin II-VO). Eine ausdrückliche Übernahmeerklärung des anderen Mitgliedstaates hat in die Abwägung einzufließen (VwGH 31.03.2005, 2002/20/0582; 31.05.2005, 2005/20/0025; 25.04.2006, 2006/19/0673; 31.5.2005, 2005/20/0095), ebenso andere Zusicherungen der europäischen Partnerstaaten Österreichs (zur Bedeutung solcher Sachverhalte Filzwieser/Sprung, Dublin II VO3, K15. zu Art 19 Dublin II-VO).

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die unionsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Unionsrechtes entstehen. Zur effektiven Umsetzung des Unionsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Unionsrecht verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II-VO, offenbar im Glauben, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risiken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II-VO), hat keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen. Diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der menschenrechtskonformen Auslegung des Unionsrechtes und aus Beachtung der unionsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei ausnahmsweiser Verletzung der EMRK bei Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat eine Überstellung nicht stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II-VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren verbietet) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex 1/2007, 18ff, Filzwieser/Sprung, Dublin II-VO3, K8-K15 zu Art. 19).

 

Die allfällige Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsrecht [Unionsrecht] kann nur von den zuständigen gemeinschaftsrechtlichen [unionsrechtlichen] Organen, nicht aber von Organen der Mitgliedstaaten rechtsgültig festgestellt werden. Der EGMR hat festgestellt, dass die Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts [Unionsrechts] regelmäßig den Anforderungen der EMRK entspricht (30.06.2005, Bosphorus Airlines v Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf sohin europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können. Diesem Grundsatz entspricht auch die durch das AsylG 2005 eingeführte gesetzliche Klarstellung des § 5 Abs 3 AsylG, die Elemente einer Beweislastumkehr enthält. Es trifft zwar ohne Zweifel zu, dass Asylwerber in ihrer besonderen Situation häufig keine Möglichkeit haben, Beweismittel vorzulegen (wobei dem durch das Institut des Rechtsberaters begegnet werden kann), und dies mitzubeachten ist (VwGH, 23.01.2007, 2006/01/0949), dies kann aber nicht pauschal dazu führen, die vom Gesetzgeber - im Einklang mit dem Unionsrecht - vorgenommene Wertung des § 5 Abs 3 AsylG überhaupt für unbeachtlich zu erklären. Eine Rechtsprechung, die in Bezug auf Mitgliedstaaten der EU faktisch höhere Anforderungen entwickelte als jene des EGMR in Bezug auf Drittstaaten wäre jedenfalls unionsrechtswidrig.

 

3.3.1. Mögliche Verletzung des Art 8 EMRK

 

3.3.1.1. Gemäß Art 8 Abs 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art 8 Abs 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Das Recht auf Achtung des Familienlebens iSd Art 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben; das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR 27.10.1994 Kroon ua. / NL, VfGH 28.06.2003, G 78/00). Der Begriff des Familienlebens ist nicht auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere de facto Beziehungen ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (VwGH 08.09.2010, 2008/01/0551; EGMR 22.07.2010, P.B. und J.S. / A; 13.06.1979, Marckx / B; 22.04.1997, X. Y. und Z. / GB). Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen kann dann unter den Schutz des Art 8 Abs 1 EMRK fallen, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (VfGH 06.06.2013 U 682/2013 mit Verweis auf VfSlg 17.851/2006 mwN).

 

Bei der vorzunehmenden Interessensabwägung nach Art 8 Abs 2 EMRK ist zwar nicht ausschlaggebend, ob der Aufenthalt des Fremden zumindest vorübergehend rechtmäßig war (EGMR 16.09.2004, Ghiban / BRD; 07.10.2004, Dragan / BRD; 16.06.2005, Sisojeva u.a. / LV), bei der Abwägung jedoch in Betracht zu ziehen (vgl. VfGH 17.03.2005, G 78/04; EGMR 08.04.2008, Nnyanzi / GB). Eine langjährige Integration ist zu relativieren, wenn der Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten, insbesondere etwa die Vortäuschung eines Asylgrundes (vgl VwGH 2.10.1996, 95/21/0169), zurückzuführen ist (VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168). Darüber hinaus sind auch noch Faktoren wie etwa Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, sowie der Grad der Integration welcher sich durch Intensität der Bindungen zu Verwandten und Freunden, Selbsterhaltungsfähigkeit, Schulausbildung bzw. Berufsausbildung, Teilnahme am sozialen Leben, Beschäftigung manifestiert, aber auch die Bindungen zum Herkunftsstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (VfGH 29.09.2007, B1150/07 unter Hinweis und Zitierung der EGMR-Judikatur). Eine Maßnahme ist dann in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, wenn sie einem dringenden sozialen Bedürfnis entspricht und zum verfolgten legitimen Ziel verhältnismäßig ist. Die Schaffung eines Ordnungssystems, mit dem die Einreise und der Aufenthalt von Fremden geregelt werden, ist im Lichte der Entwicklungen auf europäischer Ebene notwendig, weshalb dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung iSd Art 8 Abs 2 EMRK daher ein hoher Stellenwert zukommt (vgl. EGMR 18.02.1991, Moustaquim / B; VfGH 29.9.2007, B 328/07). Die Abwägung der betroffenen Rechtsgüter bei der Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes ist immer auf die besonderen Umstände des Einzelfalls im Detail abzustellen. Eine Ausweisung hat daher immer dann zu unterbleiben, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

 

3.3.1.2. Im gegenständlichen Fall lebt die Beschwerdeführerin seit ihrer Einreise in Österreich im Jänner 2013 mit ihrem seit 2003 in Österreich lebenden erwachsenen Sohn, ihrer Schwiegertochter und ihren fünf Enkelkindern in einem gemeinsamen Haushalt. Der Sohn der Beschwerdeführerin wurde von Österreich zunächst als Konventionsflüchtling anerkannt, ist mittlerweile im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft und ebenso wie die Schwiegertochter erwerbstätig. Bei der Beschwerdeführerin wurde das Vorliegen degen. Veränderungen des gesamten Bewegungsapparates, vor allem an Hüftgelenksarthrose und Kniegelenksarthrose diagnostiziert. Die Beschwerdeführerin ist knapp 75 Jahre alt, stark gehbehindert, kann sich lediglich mit Krücken bzw im Rollstuhl fortbewegen und ist laut einer weiteren ärztlichen Bestätigung vom Februar 2013 nicht reisefähig. Der Sohn der Beschwerdeführer lebte bis zu seiner Ausreise aus seiner Heimat im gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter, hat diese danach wöchentlich ein bis zwei Mal angerufen und sie auch regelmäßig mit Paketen, Kleidung, Schuhen sowie Geld unterstützt, sodass der Kontakt nie abgerissen ist. Seit die Beschwerdeführerin in Österreich lebt, kümmert sich ihre gesamte Familie um sie. Ihr Sohn unterstützt sie in allen Belangen des Lebens, vom Arztbesuch bis zum Gang zur Toilette. Auch die Schwiegertochter und die Enkelkinder der Beschwerdeführerin kümmern sich um sie und geben auf die Beschwerdeführerin Acht.

 

Das Bundesasylamt hat sich mit diesen Umständen in seinem Bescheid lediglich selektiv und unzureichend auseinandergesetzt und auch im Rahmen der Begründung zur Ausweisung keine Interessensabwägung nach Art 8 Abs 2 EMRK vorgenommen, sondern die Ausweisung ohne nachvollziehbar begründete Gewichtung der relevanten Kriterien ausschließlich mit dem öffentlichen Interesse an einem geordnetem Zuzug nach Österreich begründet. Dies, obwohl das Bundesasylamt selbst noch im Zuge des Konsultationsverfahrens mit Italien den italienischen Behörden mitgeteilt hat, dass es sich bei der Beschwerdeführerin um eine vulnerable Person handelt, die einer besonderen Behandlung bedarf und das Bundesasylamt laut einem im Akt einliegenden Schreiben des Polizeikommissariats XXXX die Beschwerdeführerin aus medizinischen Gründen auch von der Erfüllung ihrer Meldepflicht nach dem Asylgesetz entbunden hat. Auch hatten die italienischen Behörden ihrerseits Österreich in ihrem Antwortschreiben darum ersucht, zur Wahrung der Familieneinheit den Antrag der Beschwerdeführerin in Österreich zu führen.

 

Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 06.06.2013, U 682/2013, wiederholt, dass eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen dann unter den Schutz von Art 8 Abs 1 EMRK fallen kann, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen. Im vorliegenden Fall ist entsprechend den festgestellten Umständen von einem solchen schützenswerten Familienleben auszugehen (vgl dazu auch VfGH 10.06.2013, U 2340/2012: "Der AsylGH hält in seiner Entscheidung Umstände fest, die der Sache nach ein schützenswertes Familienleben des [erwachsenen, Anm.] Beschwerdeführers mit seiner Mutter iSd Art 8 EMRK begründen würden (zB bestreite der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt ua mit finanzieller Unterstützung seiner Mutter und sei seiner Mutter im alltäglichen Leben behilflich."). Darüber hinaus besteht zudem ein besonderes Abhängigkeits- und Naheverhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und ihren Familienangehörigen in Österreich in der Form, dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihres Alters in Verbindung mit ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf ständige Hilfe, Betreuung und Unterstützung angewiesen ist und sie diese auch durch ihre eigene Familie erhält, von der sie auch aufgenommen wurde. Laut Aktenlage kümmert sich die gesamte Familie bis hin zu ihren Enkelkindern um die Beschwerdeführerin.

 

Wenngleich der Asylgerichtshof den hohen Stellenwert nicht verkennt, welcher dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung der die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Bestimmungen im Interesse des Schutzes der öffentlichen Ordnung zukommt, ist demgegenüber im gegenständlichen Fall auf Grund der Gesamtbetrachtung von einem Überwiegen des Privat- und Familienlebens der Beschwerdeführerin in Österreich auszugehen, da in diesem konkreten Fall die Auswirkungen der Effektuierung der Dublin II-VO auf die Lebenssituation der Beschwerdeführerin und ihrer Familie ungleich schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen einer Abstandnahme von dieser.

 

3.3.2. Somit ist zur Vermeidung einer Verletzung von Art 8 EMRK vom Selbsteintrittsrechts gemäß Art 3 Abs 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen.

 

3.3.3. Es war daher hier nach § 41 Abs 3 2. Satz AsylG vorzugehen. Mit Rechtskraft dieses Erkenntnisses gilt das Verfahren als zugelassen und wird der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz in weiterer Folge inhaltlich zu prüfen sein. Eine neuerliche Unzuständigkeitsentscheidung gemäß § 5 AsylG kommt bei der gegebenen Sachlage nicht mehr in Frage.

 

4. Zur Frage der Zulässigkeit der Ausweisung (Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides)

 

Im Lichte der bereits zuvor getroffenen Ausführungen war auch Spruchpunkt I des bekämpften Bescheides zu beheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

 

5. Gemäß § 41 Abs 4 AsylG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden.

 

6. Es war somit spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
Abhängigkeitsverhältnis, Bescheidbehebung, bestehendes Familienleben, EMRK, gesundheitliche Beeinträchtigung, Interessensabwägung, Selbsteintrittsrecht
Zuletzt aktualisiert am
25.09.2013
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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