TE Vfgh Erkenntnis 2013/6/25 G3/2013 ua

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Veröffentlicht am 25.06.2013
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Index

66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
ASVG §227 Abs4, §253b, §607 Abs12
GSVG §116 Abs1 Z1
BSVG §107 Abs1 Z1

Leitsatz

Gleichheitswidrigkeit der Einführung einer Beitragspflicht für Berufsausübungsersatzzeiten zur Erfüllung der Voraussetzungen für eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer nach dem ASVG wegen Fehlens einer die Dispositionen der Versicherten berücksichtigenden Übergangszeit; Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Bestimmung bis zum Ablauf der vom VfGH bestimmten Übergangszeit von fünf Monaten

Spruch

I.              Die Wortfolge ", wenn für sie ein Beitrag in der Höhe von 22,8% der dreißigfachen Mindestbeitragsgrundlage nach §76a Abs3 je Ersatzmonat unter sinngemäßer Anwendung des §227 Abs4 entrichtet wird" in §607 Abs12 des Bundesgesetzes vom 9. September 1955 über die Allgemeine Sozialversicherung (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz – ASVG), BGBl Nr 189, in der Fassung des Budgetbegleitgesetzes 2011, BGBl I Nr 111/2010, war bis einschließlich 1. Juli 2011 verfassungswidrig.

II.              Die als verfassungswidrig erkannte Wortfolge ist auch im Verfahren 10 ObS 20/13h vor dem Obersten Gerichtshof nicht mehr anzuwenden.

III.              Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt I verpflichtet.

IV.              Der zu G50/2013 protokollierte Antrag des Obersten Gerichtshofes wird zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Anlassverfahren, Prüfungsbeschluss und Vorverfahren

1. Beim Verfassungsgerichtshof sind zu den Zahlen B22/12, B32/12, B107/12, B108/12, B607/12, B825/12 und B940/12 auf Art144 B-VG gestützte Beschwerden gegen letztinstanzliche Bescheide der Landeshauptleute von Wien, Niederösterreich und Salzburg anhängig. Mit diesen Bescheiden wurden jeweils Feststellungsbescheide der Pensionsversicherungsanstalt über die die jeweilige beschwerdeführende Partei treffenden Verpflichtungen zur Nachzahlung von Beiträgen für Versicherungszeiten vor Einführung der Pflichtversicherung zwecks Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer gemäß §607 Abs12 ASVG zum jeweiligen Stichtag bestätigt. Diese Stichtage für die vorzeitige Alterspension für Langzeitversicherte liegen im Zeitraum zwischen 1. März 2011 und 1. Juli 2013.

2. Für alle beschwerdeführenden Parteien wird mit den angefochtenen Bescheiden festgestellt, dass sie zur Erfüllung der Voraussetzungen für den Antritt einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer gemäß §607 Abs12 ASVG Beiträge für die Anrechnung von Ersatzmonaten gemäß §107 Abs1 Z1 BSVG (Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit oder Beschäftigung vor Wirksamkeit des BSVG) als Beitragsmonate, in der Höhe von € 1.875,48 bis € 6.407,89, zu entrichten haben.

3. Bei der Behandlung der gegen diese Bescheide gerichteten Beschwerden sind im Verfassungsgerichtshof Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge ", wenn für sie ein Beitrag in der Höhe von 22,8% der dreißigfachen Mindestbeitragsgrundlage nach §76a Abs3 je Ersatzmonat unter sinngemäßer Anwendung des §227 Abs4 entrichtet wird", in §607 Abs12 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl 189/1955 idF BGBl I 111/2010, entstanden. Der Verfassungsgerichtshof hat daher hinsichtlich dieser Wortfolge mit Beschluss vom 5. Dezember 2012 ein Gesetzesprüfungsverfahren eingeleitet.

4. Der Verfassungsgerichtshof legte seine Bedenken, die ihn zur Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens bestimmt haben, in seinem Prüfungsbeschluss wie folgt dar:

"3. Der Verfassungsgerichthof hegt das Bedenken, dass die hiemit in Prüfung gezogene Wortfolge in §607 Abs12 ASVG idF des Budgetbegleitgesetzes 2011, BGBl I 111/2010, gegen den Gleichheitssatz verstößt.

3.1. Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes kann ein die Rechtslage für die Normunterworfenen verschlechternder Eingriff des Gesetzgebers gleichheitswidrig sein, wenn die Normunterworfenen auf den Bestand der Rechtslage aus besonderen Gründen vertrauen durften, sofern nicht besondere Umstände den Eingriff rechtfertigen (zB VfSlg 12.944/1991). Es gibt zwar grundsätzlich kein verfassungsrechtlich geschütztes Vertrauen auf einen unveränderten Fortbestand der Rechtslage; jedoch muss der Gesetzgeber bei einer verschlechternden Änderung der Rechtslage auf die Auswirkungen der Gesetzesänderung auf Dispositionen angemessen Bedacht nehmen, die von den Normunterworfenen im Hinblick auf die Rechtslage vorgenommen wurden, wenn der Gesetzgeber durch die Gestaltung der Rechtslage gerade diese Dispositionen herbeiführen oder doch ermöglichen wollte (vgl. VfSlg 12.944/1991, 13.655/1993).

3.2. Die Bestimmung des §607 Abs12 ASVG steht als Übergangsbestimmung im Zusammenhang mit der durch das Sozialrechtsänderungsgesetz 2008 im Dauerrecht (schrittweise) abgeschafften vorzeitigen Alterspension wegen langer Versicherungsdauer und sieht als eine der (neben der sog. 'Schwerarbeitspension' und der 'Korridorpension') im Übergangszeitraum aufrechterhaltenen Pensionsformen die sog. 'Hacklerpension' bei Vorliegen von 540 Versicherungsmonaten zum 60. Geburtstag für Männer und 480 Versicherungsmonaten zum 55. Geburtstag für Frauen vor.

3.3. Da die Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung der nach dem GSVG und dem BSVG Versicherten erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt wurde als jene in der Pensionsversicherung für Arbeiter und Angestellte nach dem ASVG, sieht der letzte Halbsatz des §607 Abs12 ASVG zur Herbeiführung der Möglichkeit für diese Berufsgruppen, diese Pension ebenfalls in Anspruch nehmen zu können, vor, dass die als Ersatzzeiten im Sinne der §§116 Abs1 Z1 GSVG und 107 Abs1 Z1 BSVG (Ausübungsersatzzeiten) berücksichtigten Beschäftigungszeiten vor Einführung der Pflichtversicherung beitragsfrei für die Inanspruchnahme der 'Hacklerpension' berücksichtigt werden können.

3.4. Der Verfassungsgerichtshof geht vorläufig davon aus, dass der Gesetzgeber durch die beitragsfreie Berücksichtigung von Ausübungsersatzzeiten die Inanspruchnahme der Alterspension wegen langer Versicherungsdauer auch diesen Versicherten eröffnen wollte und sie damit motiviert und veranlasst hat, ihr Dienst- bzw. Arbeitsverhältnis (teilweise mit einer Altersteilzeitvereinbarung) vor jenem Zeitpunkt zu beenden, zu dem erstmalig – unter Berücksichtigung der beitragsfreien Ersatzzeiten – die Anspruchsvoraussetzungen für eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer erfüllbar waren, um in den Genuss einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer zu kommen. Für deren Inanspruchnahme ist und war es nämlich gemäß §253b Abs1 Z4 ASVG notwendig, dass die oder der Versicherte am Stichtag keiner versicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit nachgeht. Demnach dürfte mit der beitragsfreien Berücksichtigung von Ausübungsersatzzeiten ein Anreiz geschaffen worden sein, außenwirksame (dh rechtlich bindende) Dispositionen hinsichtlich der Beendigung des Arbeits- bzw. Dienstverhältnisses für jenen Zeitpunkt zu treffen, die von den Betroffenen im Falle einer Änderung der Rechtslage nicht einseitig und auch nicht in kurzer Zeit (zwischen Kundmachung und Inkrafttreten der Bestimmungen lag nur etwas mehr als ein Monat) rückgängig gemacht werden können. Die durch die Rechtsänderung nun notwendigen zusätzlichen Beitragsleistungen sind auch nicht von so geringer Höhe (in den Anlassfällen werden Beitragsleistungen bis zu € 6.407,89 fällig, wobei aufgrund der Rechtslage auch noch höhere Leistungen notwendig sein können), dass davon ausgegangen werden kann, dass die Betroffenen diese ohne Weiteres und in kurzer Zeit aufbringen können. Die Möglichkeit einer Ratenzahlung iSd sinngemäß anzuwendenden §227 Abs4 letzter Satz ASVG scheint den Eingriff nicht zu mildern, weil die Versicherungszeiten diesfalls anscheinend auch erst mit dem Zeitpunkt der letzten Ratenzahlung im vollen Umfang wirksam (und damit leistungsbegründend) wären.

3.5. Für Versicherte, die nach der bisherigen Rechtslage erst nach dem 31. Dezember 2010 die Anspruchsvoraussetzungen für eine vorzeitige Alterspension wegen langer Versicherungsdauer erfüllten, wirkt sich die Änderung des §607 Abs12 ASVG in Form der Einführung einer Beitragspflicht als zusätzliche Voraussetzung für die Berücksichtigung von Ausübungsersatzzeiten anscheinend plötzlich und ohne zeitliche Einschleifregelung aus. Damit dürfte aber der Gesetzgeber – anders etwa als bei der Einführung der Beitragspflicht zur Anrechnung von Schulzeiten (vgl. VfSlg 12.732/1991) – nicht ausreichend Bedacht auf die von ihm durch die ursprünglich ohne Entrichtung von Beiträgen vorgesehene Anrechnung dieser Ersatzzeiten selbst initiierten, im Vertrauen auf die Rechtslage gemachten Dispositionen genommen haben. Eine derartige Bedachtnahme hätte anscheinend nicht nur etwaige Kündigungsfristen, sondern auch mittelfristig wirksame Vereinbarungen über Altersteilzeit zu berücksichtigen gehabt, die einseitig nicht mehr geändert werden können, und bei denen im Hinblick auf die Erreichung der Anspruchsvoraussetzungen für eine vorzeitige Alterspension typischerweise auch die (rechtzeitige) Beendigung des Arbeitsverhältnisses vereinbart wird.

3.6. Eine sachliche Rechtfertigung für die überraschende und übergangslose Einführung der Beitragspflicht, die den Betroffenen keine Möglichkeit gab, ihre bereits getroffenen Dispositionen an die neue Gesetzeslage anzupassen, kann der Verfassungsgerichthof vorläufig nicht erkennen. Im Gesetzesprüfungsverfahren wird aber auch zu klären sein, ob sich eine solche Rechtfertigung allenfalls aus der Stellung dieser Maßnahme im Gesamtsystem des Budgetbegleitgesetzes 2011 bzw. im Rahmen des (für männliche Versicherte, die vor dem 1. Jänner 1954 und für weibliche Versicherte, die vor dem 1. Jänner 1959 geboren sind geltenden) Übergangsrechts im Zusammenhang mit der – schrittweisen (§607 Abs10 ASVG) – Abschaffung der vorzeitigen Alterspension wegen langer Versicherungsdauer ergibt."

5. Die Bundesregierung erstattete eine Äußerung, in der den im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken wie folgt entgegengetreten wird:

"Der Verfassungsgerichtshof hegt das Bedenken, dass die in Prüfung gezogene Norm gegen den Gleichheitssatz verstößt, weil die Beitragspflicht als zusätzliche Voraussetzung für die Berücksichtigung von Ausübungsersatzzeiten plötzlich und ohne zeitliche Einschleifregelung eingeführt wurde. Außerdem sei auf Dispositionen, die von den Normunterworfenen im Hinblick auf eine bestehende Rechtslage getätigt wurden, nicht angemessen Bedacht genommen worden.

2.1 Nach Ansicht der Bundesregierung handelt es sich um keinen gravierenden Eingriff in erworbene Rechtspositionen, wenn Ausübungsersatzzeiten gemäß §607 Abs12 erster Satz fünfter Teilstrich ASVG nur dann als Beitragsmonate einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer berücksichtigt werden, wenn für sie ein Beitrag von 161,63 € (Wert 2013) pro Monat entrichtet wird. Der zu entrichtende Beitrag erweist sich im Hinblick auf den zu erwartenden Gesamtpensionsbezug nämlich als gering.

Bei dem gemäß §607 Abs12 ASVG für Ausübungsersatzzeiten zu entrichtenden Beitrag in der Höhe von 22,8 % der dreißigfachen Mindestbeitragsgrundlage nach §76a Abs3 ASVG (das ist die Mindestbeitragsgrundlage für die freiwillige Versicherung) je Ersatzmonat handelt es sich um eine absolut und in Relation zu anderen Beitragsleistungen geringe Belastung. Der Beitrag beträgt 161,63 € pro Monat (Wert 2013), wobei eine Entrichtung in Teilbeträgen möglich ist (§607 Abs12 iVm. §227 Abs4 ASVG). Im Unterschied dazu wurden durch das Budgetbegleitgesetz 2011 die Beiträge für den Nachkauf von Schul- und Studienzeiten auf 1 012,32 € pro Monat (Wert 2013) erhöht (§227 Abs3 ASVG idF Art115 Z34 Budgetbegleitgesetz 2011).

Die Beschwerdeführerin des Anlassfalls kann bereits 53 Monate vor Erreichung des Anfallsalters gemäß §607 Abs10 ASVG (für die auslaufende vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer) die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer gemäß §607 Abs12 ASVG antreten, und zwar ohne Abschläge. Hätte sie erst mit dem vollendeten 713. Lebensmonat einen Pensionsantrag gestellt, so hätte sie als Bezieherin einer vorzeitigen Alterspension gemäß §253b ASVG iVm. §607 Abs10 ASVG immerhin einen Abschlag von 2,45 % der Leistung in Kauf nehmen müssen. Außerdem erhält sie durch die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer gemäß §607 Abs12 ASVG nicht weniger als 62 Pensionsbezüge (samt Sonderzahlungen) mehr als im Fall der Inanspruchnahme der vorzeitigen Alterspension gemäß §253b ASVG iVm. §607 Abs10 ASVG, wobei anzunehmen ist, dass die jeweils gebührende Monatspension der Beschwerdeführerin den monatlichen 'Nachkaufsbetrag' von 161,63 € (Wert 2013) deutlich überschreiten würde.

Die durchschnittliche Pensionshöhe einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer für Angestellte betrug im Dezember 2010 2 131 € (Handbuch der österreichischen Sozialversicherung 2011, 103). Im Vergleich zur Durchschnittspension entspricht der vom Verfassungsgerichtshof angeführte Höchstbetrag in den Anlassfällen von 6 407,89 € ungefähr dem Gegenwert von etwas mehr als drei Monatsbezügen. Legt man den zu zahlenden Beitrag auf eine Pensionsdauer von 15 Jahren (210 Pensionszahlungen) um, so entspricht der zu entrichtende Beitrag einer rechnerischen Verminderung des Gesamtbezuges um lediglich ca. 1,4 %. In VfSlg 18.010/2006 sah der Verfassungsgerichtshof einen Eingriff, der eine tatsächliche Kürzung des Nettoruhegenusses um weniger als 9 % bewirkte, nicht als intensiv an.

Die Notwendigkeit, den Gesamtbetrag vor der Zuerkennung der Pension zu entrichten, ist eine Frage der Vorfinanzierung, die im Vergleich zur Begünstigung aus dem früheren Pensionsanfall nicht außer Verhältnis erscheint. Daneben besteht auch die Möglichkeit eines entsprechend späteren Pensionsantrittes, wobei durch den Jahrgangsschutz die Abschlagsfreiheit auch bei einer späteren Inanspruchnahme der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer gemäß §607 Abs12 ASVG gewahrt bleibt. Die Regelung stellt nämlich auf Jahrgänge ab, die somit auch dann geschützt sind, wenn sie erst zu einem späteren Zeitpunkt als mit der Erreichung des 60. Lebensjahres (Männer) oder 55. Lebensjahres (Frauen) die Regelung in Anspruch nehmen.

Die Beschwerdeführerin des Anlassfalls könnte auch im Fall des 'Nicht-Nachkaufs' von Ausübungsersatzzeiten die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer gemäß §607 Abs12 ASVG mit 1. August 2013 abschlagsfrei in Anspruch nehmen, wenn sie bis dahin die fehlenden 29 Beitragsmonate – ob durch Erwerbstätigkeit oder durch eine Teilpflichtversicherung in der Pensionsversicherung infolge des Bezuges von Arbeitslosengeld – erwirbt.

Die Bundesregierung geht daher davon aus, dass die Belastung, die sich aus dem Nachkauf von Ausübungsersatzzeiten ergibt, für sich genommen, aber auch im Fall der Beschwerdeführerin des Anlassfalls, gering ist.

2.2 Die angefochtene Bestimmung verfolgt das Ziel den Bundeshaushalt kurz- und mittelfristig zu entlasten (RV 981 BlgNR 24. GP 190) und die Finanzierung des Pensionsversicherungssystems mittel- und langfristig zu sichern. Überdies soll durch eine Erschwerung der Zugangsbedingungen zur vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer das faktische Pensionsantrittsalter hinaufgesetzt und an das Regelpensionsalter herangeführt werden. Diese Zielsetzungen liegen ohne Zweifel im öffentlichen Interesse. So hat der Verfassungsgerichtshof die Entlastung des Staatshaushalts als legitimes Ziel anerkannt, das einen Eingriff in Rechtspositionen rechtfertigt (VfSlg 15.269/1998, 16.923/2003). Verschlechterungen des sozialen Schutzes sind auch gerechtfertigt, wenn sie dazu dienen, die Funktionsfähigkeit des Versicherungssystems aufrechtzuerhalten (VfSlg 15.269/1998, 16.764/2002, 16.923/2003, 17.254/2004, 18.010/2006). Von der derzeitigen Übergangsregelung – gemessen am frühestmöglichen Pensionsantritt für Männer mit 60 Jahren bzw. für Frauen mit 55 Jahren – sind nur mehr drei Jahrgänge, nämlich die Jahrgänge 1951 bis 1953 bei Männern und die Jahrgänge 1956 bis 1958 bei Frauen, erfasst. Wären noch Übergangsregelungen zum Übergangsregime des §607 Abs12 ASVG geschaffen worden, so wäre diese Regelung nahezu wirkungslos geblieben.

2.3 Die Bundesregierung geht überdies davon aus, dass der Gesetzgebung bei der Regelung der Anspruchs- und Leistungswirksamkeit von Ausübungsersatzzeiten ein besonders weiter rechtspolitischer Gestaltungsspielraum zukommt, da es sich dabei um Zeiten handelt, in denen keine versicherungspflichtige Erwerbstätigkeit vorlag und daher auch keine Beitragsleistung durch den Versicherten erfolgte. Darin liegt eine besondere sozialversicherungsrechtliche Begünstigung (VfSlg 12.732/1991). Nach Auffassung des Obersten Gerichtshofes steht es in der rechtspolitischen Freiheit der Gesetzgebung festzulegen, ab wann und in welchem Ausmaß bestimmte Zeiten als Ersatzzeiten gelten (OGH 15.9.1998, 10 ObS 165/98g, mwN). Auch der Verfassungsgerichtshof erachtete in VfSlg 12.732/1991 eine Regelung, die Ersatzzeiten für Schule und Studium gegenüber der früheren Rechtslage erst dann leistungswirksam werden ließ, wenn für sie Beiträge entrichtet wurden, als verfassungskonform. Er hegte auch keine Bedenken dagegen, dass für verschiedene Ersatzzeiten unterschiedliche Beiträge zu entrichten waren.

Zwar war nach der dem Erkenntnis VfSlg 12.732/1991 zugrunde liegenden Rechtslage ein längerer Übergangszeitraum vorgesehen, der das Gewicht des Eingriffs fühlbar minderte. Allerdings war (und ist) für die Beitragswirksamkeit von Schul- und Studienzeiten ein wesentlich höherer Beitrag zu entrichten als für Ausübungsersatzzeiten. Angesichts dessen ist die Bundesregierung der Auffassung, dass auch die vergleichsweise kurzfristige Einführung der Verpflichtung zur Entrichtung von Beiträgen für Ausübungsersatzzeiten gerechtfertigt erscheint.

2.4 Der Verfassungsgerichtshof geht überdies davon aus, dass die Gesetzgebung des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 2008 die Versicherten geradezu 'motiviert und veranlasst' habe, ihr Dienst- bzw. Arbeitsverhältnis vor jenem Zeitpunkt zu beenden, zu dem erstmalig die Anspruchsvoraussetzungen für eine vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer erfüllbar waren.

In VfSlg 16.923/2003 hat der Verfassungsgerichtshof hingegen die Ansicht vertreten, dass es 'Sache der Zivilgerichte' sei, zu beurteilen, welche rechtlichen Konsequenzen sich für privatrechtliche Vereinbarungen mit dem Arbeitgeber aus einer Erhöhung des Pensionsanfallsalters ergeben; 'für die Verfassungswidrigkeit' einer Regelung ergebe sich 'daraus nichts'. Nichts anderes als für die Erhöhung des Pensionsanfallsalters kann aber nach Ansicht der Bundesregierung gelten, wenn Ausübungsersatzzeiten nur mehr dann als Beitragsmonate zu berücksichtigen sind, wenn für sie ein Beitrag entrichtet wird.

Auch aus allgemeinen Überlegungen kann nicht angenommen werden, dass Änderungen der Rechtslage schon deshalb dem aus dem Gleichheitssatz abzuleitenden Vertrauensschutz widersprechen, weil auf Grund dieser Rechtslage Dispositionen getroffen wurden. So ist es doch jeder gesetzlichen Bestimmung wesenseigen, das Verhalten von Menschen zu steuern und würde jede Änderung einer Norm, die bereits getroffenen Dispositionen zuwiderläuft, gleichheitswidrig sein. Von einem System abänderbarer Normen, wie es durch die Bundesverfassung statuiert wird, könnte folglich nicht mehr gesprochen werden.

Ehe solche Annahme dürfte jedoch auch in der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes nicht vertreten werden. In den vom Verfassungsgerichtshof bezogenen Erkenntnissen VfSlg 12.944/1991 und 13.655/1993 waren es jeweils besondere Umstände, die zu einer Gleichheitswidrigkeit der in Prüfung gezogenen generellen Normen geführt haben: Nicht der bloße Anreiz zu Dispositionen vermag ein vertrauensbildendes Moment zu sein, sondern erst der Anreiz zu konkreten Investitionen wie etwa die Anschaffung lärmarmer LKW (VfSlg 12.944/1991) oder die Bildung von Rücklagen (VfSlg 13.655/1993). Ein vergleichbarer Anreiz wurde mit dem Sozialrechts-Änderungsgesetz 2008 aber nicht geschaffen, sondern lediglich eine Berücksichtigung von Ersatzmonaten eingeführt, welchen gerade keine Leistung von Seiten der Versicherten gegenübersteht.

2.5 Die angefochtene Bestimmung stellt darüber hinaus keine punktuelle Belastung eines einzelnen Personenkreises dar. Vielmehr enthält das Budgetbegleitgesetz 2011 mehrere Regelungen betreffend Ersatzzeiten. So gelten Zeiten einer Tätigkeit in einem land- oder forstwirtschaftlichen Betrieb gemäß §107 Abs1 Z1 BSVG oder Zeiten eines Krankengeldbezugs nicht als Ersatzzeiten in der mit dem Budgetbegleitgesetz 2011 neu geregelten vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer gemäß §617 Abs13 ASVG. Auf die Erhöhung der Beiträge für den Nachkauf von Schul- und Studienzeiten wurde bereits hingewiesen (vgl. Pkt. II.2.3).

Sofern Personen im Hinblick auf die beitragsfreie Berücksichtigung von Ausübungsersatzzeiten ihr Dienst- bzw. Arbeitsverhältnis vorzeitig beendet haben, handelt es sich nach Ansicht der Bundesregierung um besondere Härtefälle, auf die bei einer generalisierenden Regelung nicht Bedacht genommen werden kann, würde doch eine (weitere) Privilegierung dieser Personen gegenüber jenen Personen, die ihr Dienst- bzw. Arbeitsverhältnis nicht vorzeitig beendet haben, ihrerseits gleichheitsrechtlich zumindest bedenklich erscheinen. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist es der Gesetzgebung nicht verwehrt, bei der Normsetzung zu generalisieren und auf eine Durchschnittsbetrachtung abzustellen (vgl. VfSlg 15.850/2000, 16.048/2000, 16.744/2002, 17.315/2004 und 17.816/2006)."

6. Die Bundesregierung stellt daher den Antrag, der Verfassungsgerichtshof möge aussprechen, dass die angefochtene Bestimmung nicht als verfassungswidrig aufgehoben wird. Für den Fall der Aufhebung beantragt die Bundesregierung eine Frist für das Außerkrafttreten von 18 Monaten zu bestimmen.

II. Rechtslage

1. Der in Prüfung gezogene §607 Abs12 erster Satz 5. Teilstrich des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl 189/1955, wurde durch Art1 Z3 des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 2008 (SRÄG2008), BGBl I 129, eingefügt und durch Art115 Z71 Budgetbegleitgesetz 2011, BGBl I 111/2010, geändert.

§607 Abs12 ASVG idF SRÄG2008 lautete wie folgt:

"(12) Auf männliche Versicherte, die vor dem 1. Jänner 1954 geboren sind, und auf weibliche Versicherte, die vor dem 1. Jänner 1959 geboren sind, sind die am 31. Dezember 2003 geltenden Bestimmungen über die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer (vorzeitige Knappschaftsalterspension bei langer Versicherungsdauer) – mit Ausnahme der §§108h Abs1, 238, 239, 261, 261b, 284 Z3 und 284b – so anzuwenden, dass abweichend von §253b Abs1

1. an die Stelle des 738. Lebensmonates das 60. Lebensjahr tritt, wenn und sobald der Versicherte 540 Beitragsmonate erworben hat,

2. an die Stelle des 678. Lebensmonates das 55. Lebensjahr tritt, wenn und sobald die Versicherte 480 Beitragsmonate erworben hat;

dabei gilt §231 Z1 mit der Maßgabe, dass Zeiten der freiwilligen Versicherung den Ersatzzeiten vorgehen; weiters sind als Beitragsmonate zu berücksichtigen:

- bis zu 60 Ersatzmonate für Zeiten der Kindererziehung (§§227a oder 228a dieses Bundesgesetzes oder §§116a oder 116b GSVG oder §§107a oder 107b BSVG), die sich nicht mit Beitragsmonaten decken,

- Ersatzmonate wegen eines Anspruches auf Wochengeld (§227 Abs1 Z3), die sich nicht mit Ersatzmonaten nach §227a oder nach §228a decken,

- bis zu 30 Ersatzmonate für Zeiten eines Präsenz- oder Zivildienstes (§227 Abs1 Z7 und 8 dieses Bundesgesetzes oder §116 Abs1 Z3 GSVG oder §107 Abs1 Z3 BSVG);

- Ersatzmonate wegen eines Krankengeldbezuges (§227 Abs1 Z6),

- Ersatzmonate nach §116 Abs1 Z1 GSVG und nach §107 Abs1 Z1 BSVG.
[…]"

2. Durch Art115 Z71 Budgetbegleitgesetz 2011, BGBl I 111/2010, wurde §607 Abs12 erster Satz 5. Teilstrich wie folgt geändert (die in Prüfung gezogene Wortfolge ist hervorgehoben):

"- Ersatzmonate nach §116 Abs1 Z1 GSVG und nach §107 Abs1 Z1 BSVG, wenn für sie ein Beitrag in der Höhe von 22,8% der dreißigfachen Mindestbeitragsgrundlage nach §76a Abs3 je Ersatzmonat unter sinngemäßer Anwendung des §227 Abs4 entrichtet wird."

3. §227 Abs4 ASVG, BGBl 189/1955 idF BGBl I 111/2010, lautet:

"(4) Die Beitragsentrichtung nach Abs3 kann bei jedem Versicherungsträger, bei dem mindestens ein Versicherungsmonat erworben wurde, für alle oder einzelne dieser Ersatzmonate jederzeit bis zum Stichtag beantragt werden. Wenn die Berechtigung zur Beitragsentrichtung erst nach dem Stichtag in einem vor dem Stichtag eingeleiteten Verfahren festgestellt wird, können die Beiträge auch nach dem Stichtag entrichtet werden. Die Entrichtung der Beiträge in Teilbeträgen ist zulässig; hiebei darf die Gesamtzahl der Teilbeträge – unter Berücksichtigung der Einkommens- und Familienverhältnisse des (der) Versicherten – das Dreifache der Anzahl der Ersatzmonate, deren Erwerb beantragt wurde, nicht überschreiten. Die Beitragshöhe ist neu festzusetzen, wenn

1. die Zahlung der Teilbeträge ohne triftigen Grund unterbrochen wird oder

2. der Gesamtbetrag – soweit keine Teilbeträge vereinbart wurden – nicht innerhalb von drei Monaten ab der schriftlichen Verständigung durch den Versicherungsträger über die Berechtigung zur Beitragsentrichtung entrichtet wird.

Die dem eingezahlten Betrag entsprechenden Versicherungszeiten werden mit seinem Einlangen beim Versicherungsträger anspruchs- bzw. leistungswirksam."

4. §107 Abs1 Z1 BSVG, BGBl 559/1978 idF BGBl I 142/2004, lautet:

"Ersatzzeiten vor dem 1. Jänner 2005

§107. (1) Als Ersatzzeiten vor dem 1. Jänner 2005 gelten, soweit sie nicht als Beitragszeiten anzusehen sind:

1. nach Vollendung des 15. Lebensjahres im Gebiet der Republik Österreich zurückgelegte Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit oder Beschäftigung, die bei früherem Wirksamkeitsbeginn der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes über die Versicherungspflicht in der Pensionsversicherung die Pflichtversicherung nach diesem Bundesgesetz begründet hätte, bei Pflichtversicherten gemäß §2 Abs1 Z1 nur, wenn der Versicherte seinen Lebensunterhalt überwiegend aus dem Ertrag der die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit bestritten hat; diese Zeiten zählen für die Erfüllung der Wartezeit – unbeschadet der Bestimmungen des Abs3 – mit der vollen zurückgelegten Dauer; für die Bemessung der Leistungen gelten in jedem vollen Kalenderjahr der Ausübung einer derartigen Erwerbstätigkeit bzw. Beschäftigung

bei Versicherten der Geburtsjahrgänge bis 1905 ................... 8 Monate,

bei Versicherten der Geburtsjahrgänge 1906 bis 1916 ......... 7 Monate,

bei Versicherten der Geburtsjahrgänge 1917 und später ..... 6 Monate,

an Ersatzzeit als erworben; ein Rest von weniger als 12 Kalendermonaten der Ausübung einer derartigen Erwerbstätigkeit oder Beschäftigung wird in der Weise berücksichtigt, daß für jeden restlichen Monat ein Zwölftel der für ein volles Kalenderjahr anzurechnenden Monate an Ersatzzeit als erworben gilt. Diese Zeiten sind, wenn in einem Kalenderjahr auch Versicherungsmonate für die Zeiten der Kindererziehung (§§107a und 107 b) vorliegen, so zu lagern, daß sie sich mit diesen überdecken;

[…]"

5. Mit dem (rückwirkenden) Inkrafttreten von §607 Abs12 ASVG idF SRÄG2008, BGBl I 129/2008, am 1. August 2008 konnten Ersatzmonate gemäß §116 Abs1 Z1 GSVG und §107 Abs1 Z1 BSVG bei der Berechnung der Beitragsmonate, die für den Antritt einer vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer notwendig waren, berücksichtigt werden. Zugleich wurde der Personenkreis erweitert, der von der vorzeitigen Alterspension bei langer Versicherungsdauer gemäß §607 Abs12 ASVG Gebrauch machen konnte, indem männliche Versicherte, die vor dem 1. Jänner 1954 (davor bis 1. Jänner 1951), und weibliche Versicherte, die vor dem 1. Jänner 1959 (davor bis 1. Jänner 1956) geboren waren, in die Regelung miteinbezogen wurden.

6. Mit Art115 Z71 Budgetbegleitgesetz 2011, BGBl I 111/2010, wurde §607 Abs12 ASVG dahingehend geändert, dass Ersatzmonate gemäß §116 Abs1 Z1 GSVG und §107 Abs1 Z1 BSVG nur noch dann als Beitragsmonate zu berücksichtigen sind, wenn für sie ein Beitrag in der Höhe von 22,8% der 30fachen Mindestbeitragsgrundlage nach §76a Abs3 ASVG je Ersatzmonat unter sinngemäßer Anwendung des §227 Abs4 ASVG entrichtet wird. §607 Abs12 ASVG idF des Art115 Z71 Budgetbegleitgesetz 2011, BGBl I 111/2010, wurde am 30. Dezember 2010 kundgemacht und trat gemäß §658 Abs1 Z2 ASVG idF des Budgetbegleitgesetzes 2011, BGBl I 111/2010, am 1. Februar 2011 in Kraft. Auf Personen, die die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine vorzeitige Alterspension nach §607 Abs12 ASVG bis zum 31. Dezember 2010 erfüllt haben, ist §607 Abs12 ASVG in der am 31. Dezember 2010 geltenden Fassung weiterhin anwendbar (§658 Abs8 ASVG idF des Budgetbegleitgesetzes 2011, BGBl I 111/2010).

III. Erwägungen

1. Zur Zulässigkeit des Verfahrens

Im Verfahren hat sich nichts ergeben, was an der Präjudizialität der in Prüfung gezogenen Bestimmung zweifeln ließe. Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich das von Amts wegen eingeleitete Gesetzesprüfungsverfahren insgesamt als zulässig.

2. In der Sache

Die im Prüfungsbeschluss dargelegten Bedenken des Verfassungsgerichtshofes konnten im Gesetzesprüfungsverfahren nicht zerstreut werden.

2.1. Die Bundesregierung meint, dass es sich bei den für die vorzeitige Alterspension gemäß §607 Abs12 ASVG auf Grund der am 30. Dezember 2010 kundgemachten Änderung durch das Budgetbegleitgesetz 2011 ab einem Pensionsstichtag 1. Februar 2011 zu leistenden Beiträgen nicht um einen gravierenden Eingriff in erworbene Rechtspositionen handle und versucht dies mit entsprechenden Zahlen zu untermauern.

2.1.1. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes genießt zwar das bloße Vertrauen auf den unveränderten Fortbestand der gegebenen Rechtslage als solches keinen besonderen verfassungsrechtlichen Schutz (vgl. VfSlg 16.687/2002 mwN) und es bleibt dem Gesetzgeber auf Grund des ihm zukommenden rechtspolitischen Gestaltungsspielraumes grundsätzlich unbenommen, eine einmal geschaffene Rechtsposition auch zu Lasten des Betroffenen zu verändern (zB VfSlg 18.010/2006 mwN). Unter besonderen Umständen muss den Betroffenen jedoch zur Vermeidung unsachlicher Ergebnisse die Gelegenheit gegeben werden, sich rechtzeitig auf eine neue Rechtslage einzustellen (vgl. VfSlg 13.657/1993, 15.373/1998, 16.754/2002 mwN).

2.1.2. Vertrauensschutz begründende Umstände können nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darin liegen, dass rückwirkend an in der Vergangenheit liegende Sachverhalte geänderte (für die Normunterworfenen nachteilige) Rechtsfolgen geknüpft werden (vgl. VfSlg 13.020/1992, 16.850/2003) oder dass der Gesetzgeber in Rechtsansprüche, auf die sich die Normunterworfenen nach ihrer Zweckbestimmung rechtens einstellen durften (wie auf Pensionsleistungen bestimmter Höhe), plötzlich und intensiv nachteilig eingreift (vgl. VfSlg 11.288/1987, 16.764/2002, 17.254/2004) oder dass der Gesetzgeber, der Normunterworfene zu Dispositionen veranlasst hat, durch eine spätere Maßnahme diese im Vertrauen auf die Rechtslage vorgenommenen Dispositionen frustriert oder ihrer Wirkung beraubt (vgl. VfSlg 12.944/1991, 13.655/1993, 16.452/2002).

2.1.3. Das Bedenken des Verfassungsgerichtshofes ging dahin, dass der Gesetzgeber bei Einführung der Beitragspflicht nicht ausreichend Bedacht auf jene Dispositionen der Normunterworfenen genommen hat, die von diesen gerade im Hinblick auf die zuvor geschaffene neue Rechtslage (erwartbar) vorgenommen wurden, wie etwa die Auflösung eines Beschäftigungsverhältnisses.

2.1.4. Die Änderung der Rechtslage durch die Gleichstellung von Berufszeiten vor Einführung der Pflichtversicherung mit Beitragszeiten durch das SRÄG 2008, BGBl I 129, betrifft Männer, die vor dem 1. Jänner 1954 (bis zu dieser Novelle: 1. Jänner 1951), und Frauen, die vor dem 1. Jänner 1959 (bis zu dieser Novelle: 1. Jänner 1956) geboren wurden und die daher spätestens 2013 oder früher das Pensionsalter der vorzeitigen Alterspension für Langzeitversicherte gemäß §607 Abs12 ASVG erreichen. Der Gesetzgeber musste daher davon ausgehen, dass in den Jahren unmittelbar nach Vornahme dieser Änderung der Rechtslage die von dieser Änderung betroffene Personengruppe auf Grund ihrer zeitlichen Nähe zum in Betracht kommenden jeweiligen Pensionsalter und auf Grund des durch die nun mögliche Anrechnung der Ausübungsersatzzeiten erworbenen Pensionsanspruchs entsprechende Dispositionen treffen wird, die für die Herstellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Langzeitversichertenpension erforderlich sind, und die sie ohne diese Gesetzesänderung – mangels Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen für diese Pensionsleistung – nicht getroffen hätte. Zu diesen auf Grund des SRÄG 2008 erwartbaren und naheliegenden Dispositionen zählt im Hinblick auf §253b Abs1 Z4 ASVG jedenfalls die rechtzeitige Kündigung von Dienstverhältnissen und die diesem Erfordernis entsprechende vorausschauende Gestaltung von Altersteilzeitvereinbarungen.

2.1.5. Gerade im Hinblick auf derartige Dispositionen hatte der Gesetzgeber des Sozialrechts-Änderungsgesetzes 2000, BGBl I 92/2000 noch Übergangsvor-schriften vorgesehen: Dieses Bundesgesetz wurde am 11. August 2000 ausgegeben und hat im Dauerrecht eine Erhöhung des Pensionsalters für die vorzeitigen Alterspensionen um insgesamt 18 Monate vorgesehen, die nach der Übergangsbestimmung des §588 Abs6 ASVG für alle Stichtage nach dem 30. September 2000 gestaffelt in Zwei-Monats-Schritten vorgenommen wurde. Es wurde dabei jedoch jenen Versicherten, die nach der am 30. September 2000 geltenden Rechtslage Anspruch auf eine solche Pension mit einem Stichtag bis spätestens 1. Februar 2001 hatten, in §588 Abs15 ASVG die Fortgeltung der bisherigen Rechtslage unter der Voraussetzung eingeräumt, dass ihr Arbeitsverhältnis nachweislich bis zum 30. Juni 2000 zu einem Termin zwischen dem 31. August 2000 und dem 31. Dezember 2000 gelöst wurde. In dem von der Bundesregierung genannten Erkenntnis VfSlg 16.923/2003 hat der Verfassungsgerichtshof dem Vorbringen der damaligen Antragsteller zur Verletzung des Vertrauensschutzes entgegnet, es sei durch die zuletzt genannte Übergangsbestimmung dafür Vorsorge getroffen worden, dass derartige Dispositionen den betroffenen Versicherten nicht zum Nachteil gereichen. Der Verfassungsgerichtshof hielt die in diesem Zusammenhang bekämpften Bestimmungen im Hinblick auf die erfolgte Berücksichtigung der für die Auflösung von Arbeitsverhältnissen im Durchschnitt vorgesehenen Kündigungsfristen unter dem Aspekt des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes für nicht verfassungswidrig (VfSlg 16.923/2003, 1055).

2.1.6. Die in Prüfung gezogene Regelung genügt diesen Anforderungen nicht:

2.1.6.1. Die im Gesetz vorgesehene Höhe der Beitragspflicht bleibt nicht im Bagatellbereich.

Die notwendigen zusätzlichen Beitragsleistungen sind nämlich nicht von so geringer Höhe, dass die Betroffenen diese ohne Weiteres und in der erforderlich kurzen Zeit aufbringen könnten. Die Beitragspflicht erreicht vielmehr ein Ausmaß, das unter dem Gesichtspunkt der Intensität des Eingriffs eine nicht zu vernachlässigende Hürde zum Antritt der Pension zum jeweils vorgesehenen Zeitpunkt darstellt und dazu führen kann, dass die betroffene Personengruppe durch die im Vertrauen auf die Rechtslage vorgenommenen Dispositionen, nämlich die bereits erfolgte oder verbindlich in die Wege geleitete Beendigung der dem Pensionsanfall entgegenstehenden Beschäftigungsverhältnisse, Nachteile erleidet.

2.1.6.2. Die Intensität dieses Eingriffs wird auch nicht durch die nach dem Gesetz mögliche Einräumung von Ratenzahlungen gemildert, da diese gemäß §227 Abs4 letzter Satz ASVG erst mit der Einzahlung der letzten Rate, somit um den Zeitraum der Ratenzahlungen verspätet, die für den Pensionsanspruch erforderlichen Versicherungszeiten zur Gänze erwerben lassen. Die damit im Falle einer Ratenzahlung hinzunehmende Verschiebung des Pensionsantrittes trotz rechtzeitig aufgelösten Arbeitsverhältnisses wäre nicht weniger gravierend als die im Übergangsrecht des SRÄG 2000 vorgesehene Erhöhung des Pensionsantrittsalters, der durch Übergangsfristen Rechnung getragen wurde.

2.1.6.3. Der Hinweis der Bundesregierung, dass die Betroffenen die vorzeitige Alterspension bei langer Versicherungsdauer entsprechend später in Anspruch nehmen und damit die Plötzlichkeit bzw. Intensität des Eingriffs vermindern könnten, verkennt daher die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes und geht insoweit ins Leere.

2.1.6.4. Der Verfassungsgerichtshof hegte weder Bedenken gegen die Einführung der Beitragspflicht für Ersatzzeiten als solche, noch bezweifelte er, dass diese an sich einem zulässigen gesetzgeberischen Ziel diente. Soweit die Bundesregierung aber die Meinung vertritt, der Umstand, dass eine Maßnahme der notwendigen Konsolidierung des Bundeshaushaltes diene, sei für sich allein für diese eine ausreichende sachliche Rechtfertigung, ist ihr entgegenzuhalten, dass mit diesem Argument nicht den Bedenken entgegengetreten werden kann, der Gesetzgeber habe nach dem Maßstab des Gleichheitssatzes nicht in der gebotenen Weise auf Dispositionen der Betroffenen Rücksicht genommen. Die Bundesregierung hat im Verfahren nicht dargetan, dass es vor dem Hintergrund der Ziele der Konsolidierung des Bundeshaushaltes und der Sicherung der Finanzierbarkeit der gesetzlichen Pensionsversicherung geboten und daher im öffentlichen Interesse gelegen gewesen wäre, die Gesetzesänderung gänzlich übergangslos einzuführen. Es handelt sich bei der Gruppe der von der Beitragspflicht besonders nachteilig betroffenen Versicherten entgegen der Auffassung der Bundesregierung auch nicht um bloße "Härtefälle". Die unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes hinzunehmenden "Härtefälle" sind in der Regel Folgen einer (zulässigen) Durchschnittsbetrachtung und haben ihre Ursache darin, dass der Gesetzgeber nicht in der Lage ist, alle Fallgestaltungen und daher auch nicht jene, die dann als Härtefall empfunden werden, vorherzusehen und bei seinen Regelungen im Voraus zu bedenken, maW dass es sich um nicht vermeidbare "Systemfehler" handelt (vgl. dazu VfSlg 19.031/2010 mwH auf die Vorjudikatur). Im vorliegenden Zusammenhang ist nicht ersichtlich, welche besonderen Umstände es wären, die den Gesetzgeber gehindert hätten, die nach der Rechtslage naheliegenden Dispositionen der Versicherten vorherzusehen und entsprechend zu berücksichtigen.

IV. Ergebnis

1. Die Wortfolge ", wenn für sie ein Beitrag in der Höhe von 22,8% der dreißigfachen Mindestbeitragsgrundlage nach §76a Abs3 je Ersatzmonat unter sinngemäßer Anwendung des §227 Abs4 entrichtet wird", in §607 Abs12 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG), BGBl 189/1955, idF des Budgetbegleitgesetzes 2011, BGBl I 111/2010, ist daher wegen Verstoßes gegen den auch den Gesetzgeber bindenden Gleichheitssatz verfassungswidrig.

2. Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes richteten sich nicht gegen die nachträgliche Einführung einer Beitragspflicht für Berufsausübungsersatzzeiten an sich, sondern nur gegen das Fehlen einer die Dispositionen der Versicherten, insbesondere eine bereits erfolgte Beendigung eines Arbeitsverhältnisses oder anderer pflichtversicherter Tätigkeiten, berücksichtigenden Übergangszeit. Für Zeiträume nach Ablauf einer solchen Übergangszeit bestehen die Bedenken nicht, sodass zur Herstellung des verfassungskonformen Zustandes eine Aufhebung der in Prüfung gezogenen Gesetzesstelle nicht erforderlich ist. Es genügt vielmehr festzustellen, dass die Bestimmung (aus dem Blickwinkel des Entscheidungszeitpunktes im Gesetzesprüfungsverfahren) bis zum Ablauf einer vom Verfassungsgerichtshof als angemessen zu bestimmenden Übergangszeit verfassungswidrig gewesen ist (vgl. zu einem solchen Ausspruch bei bloß temporärer Verfassungswidrigkeit VfSlg 19.698/2012 – Kärntner Mindestsicherung; im Ansatz ähnlich schon VfSlg 16.754/2002 – Unfallrentenbesteuerung – S 1047, Pkt. 6).

3. Im Hinblick auf das Erkenntnis VfSlg 16.923/2003 (S 1055) erscheint dem Verfassungsgerichtshof eine Übergangszeit im – damals als verfassungsgemäß befundenen – Ausmaß von fünf Monaten aus ausreichend. Diese Frist ist mit Rücksicht auf die erst am 30. Dezember 2010 erfolgte Kundmachung des Gesetzes ab dessen Inkrafttreten am 1. Februar 2011 – bezogen auf die jeweiligen Pensionsstichtage am Ersten eines Monats – zu bemessen. Die Beurteilung der Norm als verfassungswidrig gilt daher für Pensionsstichtage vom 1. Februar bis einschließlich 1. Juli 2011. Es ist somit auszusprechen, dass die in Prüfung gezogene Wortfolge bis einschließlich 1. Juli 2011 verfassungswidrig war.

4. Der wenige Tage vor Beginn der Beratungen eingelangte, die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes übernehmende, zu G50/2013 protokollierte Antrag des Obersten Gerichtshofes auf Aufhebung der im Spruch genannten Wortfolge konnte in das Gesetzesprüfungsverfahren nicht mehr einbezogen werden. Da mit dem vorliegenden Erkenntnis ausgesprochen wird, dass die in Prüfung gezogene Wortfolge bis einschließlich 1. Juli 2011 verfassungswidrig war und nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. zB VfSlg 12.633/1991, 16.532/2002, 17.266/2004) ein bereits aufgehobenes oder als verfassungswidrig erkanntes Gesetz wegen entschiedener Sache nicht neuerlich Gegenstand eines Gesetzesprüfungsverfahrens sein kann, muss dieser Antrag des Obersten Gerichtshofes als unzulässig zurückgewiesen werden. Der Verfassungsgerichtshof sah sich jedoch im Hinblick darauf, dass der Pensionsstichtag des Klägers in dem beim Obersten Gerichtshof anhängigen Ausgangsverfahren der 1. Juli 2011 ist, veranlasst, gemäß Art140 Abs7 zweiter Satz B-VG von der Möglichkeit der Ausdehnung der Anlassfallwirkung auf dieses Verfahren Gebrauch zu machen.

5. Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung und der damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Aussprüche erfließt aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und §64 Abs2 VfGG iVm §3 Z3 BGBlG.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Sozialversicherung, Pensionsversicherung, Beitragspflicht, Ersatzzeiten, Vertrauensschutz, VfGH / Anlassverfahren, res iudicata

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2013:G3.2013

Zuletzt aktualisiert am

08.08.2014
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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