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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
EU-Grundrechte-Charta Art47 Abs2Leitsatz
Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach der EU-Grundrechte-Charta durch Abweisung des Asylantrags und Ausweisung eines afghanischen Staatsangehörigen; Sachverhalt nicht hinreichend geklärt, kein ausreichendes ErmittlungsverfahrenSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt worden.
Die Entscheidung wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.400,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 12. November 2011 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen befragt, brachte er vor, dass ihn die Taliban für den Krieg gegen die Amerikaner rekrutieren hätten wollen. Er sei noch zur Schule gegangen und er wolle nicht kämpfen. Die Taliban seien sehr gefährlich und würden die Leute, die nicht für sie kämpfen, töten. Er habe daher Angst von den Taliban umgebracht zu werden.
Aus einem vom Bundesasylamt in Folge eingeholten Gutachten zur sachverständigen Altersschätzung vom 24. Jänner 2012 ergibt sich, dass das im Untersuchungszeitpunkt wahrscheinlichste Lebensalter des Beschwerdeführers bei 16 bis 18 Jahren liege; unter Berücksichtigung der Schwankungsbreite liege ein Mindestalter von 15 Jahren vor.
2. Nach erfolgten Einvernahmen beim Bundesasylamt am 27. Jänner 2012 und am 21. März 2012 wies das Bundesasylamt mit Bescheid vom 23. März 2012 den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab; des Weiteren wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Afghanistan ausgewiesen.
3. Die dagegen erhobene Beschwerde – in der u.a. vorgebracht wurde, dass gerade junge Männer im Alter des Beschwerdeführers von den Taliban als Selbstmordattentäter rekrutiert würden – wies der Asylgerichtshof mit der angefochtenen Entscheidung gemäß §§3, 8 und 10 Asylgesetz 2005 in nichtöffentlicher Sitzung als unbegründet ab.
Die die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten tragende Begründung lautet dabei wörtlich wie folgt:
"Die Angaben des BF zu seinen Fluchtgründen folgen zwar im Prinzip einem bestimmten Handlungsablauf, bleiben jedoch in der Schilderung vage und oberflächlich und wurden ohne Angabe von zu erwartenden lebensnahen Details vorgebracht.
Die 'Grundgeschichte' konnte der BF halbwegs stimmig vorbringen. Im Falle einer tiefergehenden Befragung war sich der BF jedoch unsicher, wiederholte vorangehende Stehsätze oder erläuterte die allgemeine Lage in Afghanistan und konnte keine konkreten Antworten liefern.
Zusammengefasst ist der Kern des Fluchtvorbringens zwar in Teilen gleich geblieben, konnte jedoch aufgrund gleichbleibender Stehsätze sowie wegen seines oberflächlichen Inhalts nicht glaubhaft gemacht werden.
Der BF tätigte bezüglich möglicherweise stattgefundener Bedrohungsszenarien vage sowie unpräzise Aussagen und konnte nicht den Eindruck erwecken, dass das Geschilderte persönlich Erlebtes darstellt. Das Vorbringen ist in seiner Gesamtheit derart dürftig gehalten, dass man daraus kein den BF persönlich betreffendes, zusammenhängendes und einigermaßen glaubhaftes Geschehen ableiten kann. Der BF gab auf die ihm vom Bundesasylamt gestellten Fragen lediglich ausweichende und detailarme Antworten, die keine konkrete Gefährdung des BF in Afghanistan vermitteln konnten.
Der BF konnte nicht einmal eine fluchtauslösende Bedrohungssituation schildern. Die Ausreise des BF erfolgte seinen Angaben nach lediglich aufgrund von vagen Befürchtungen vor einer Rekrutierung durch die Taliban, die nicht dazu geeignet sind, eine konkrete Verfolgungsgefahr glaubhaft zu machen. So kam es zu keinerlei Übergriffen auf den BF bzw. nicht einmal zu einem persönlichen Kontakt zwischen dem BF und den Taliban ('Ich habe sie weiter weg gesehen und gewusst, dass sie in den Bergen sind.'), weshalb das vage Vorbringen, dass der BF im Falle einer Rückkehr von den Taliban umgebracht werden würde, offenbar eine reine Spekulation darstellt. Auch lassen die Angaben des BF über den Besuch der Taliban bei seinem Vater während seines Aufenthaltes in Griechenland keinerlei Rückschlüsse auf das Bestehen einer akuten Gefährdungslage für den BF zu, zumal - selbst bei Wahrheitsunterstellung - das behauptete 'belästigende' Verhalten der Taliban ('...sie haben ihn belästigt und gefragt, und dann sind sie wieder gegangen.') wohl kaum ein lebensbedrohliches, asylrelevantes Ereignis darstellt.
Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass sich mehrere Brüder des BF noch immer in Afghanistan aufhalten und dort nach Angaben des BF ohne Probleme leben können. Der diesbezügliche Erklärungsversuch des BF, er und seine beiden in Griechenland aufhältigen Brüder wären - im Gegensatz zu den restlichen Brüdern - lediglich aufgrund ihrer Schulbildung von den Taliban ausgewählt worden, erscheint unplausibel und nur wenig glaubwürdig. Insbesondere ist es nur schwer nachvollziehbar, dass die Taliban bei der - in der Beschwerde behaupteten - Rekrutierung von Selbstmordattentätern ausgerechnet nur junge Männer wie den BF, die eine mehrjährige Schulbildung vorweisen können, aussuchen und die anderen (älteren und somit wohl 'kampffähigen') Brüder des BF jedoch unbehelligt lassen sollten.
[…]
Das Vorbringen in der Beschwerde war ebenfalls nicht geeignet, das bisherige Vorbringen des BF zu unterstützen. Es erschöpft sich im Wesentlichen in Rechtsausführungen und der Wiederholung seines vagen Fluchtvorbringens, welches der BF bereits vor der Erstbehörde vorgebracht hatte. Soweit in der Beschwerde die allgemeine Menschenrechtssituation in Afghanistan dargestellt wurde, verkennt der BF, dass die allgemeine Menschenrechtssituation in
Afghanistan nicht geeignet ist, ein konkretes asylrelevantes Vorbringen zu ersetzen, sondern allenfalls im Zusammenhang mit der Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten Berücksichtigung finden könnte." (Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen)
Hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ging der Asylgerichtshof mit näherer Begründung davon aus, dass es dem Beschwerdeführer möglich und zumutbar sei, von der Hauptstadt Kabul aus in die Heimatprovinz Paktia zu gelangen, wo ein soziales bzw. familiäres Netz bestehe.
Abschließend begründete der Asylgerichtshof, warum eine Verletzung des Beschwerdeführers im Recht auf Privat- und Familienleben durch die Ausweisung nicht erkennbar sei.
4. In der gegen diese Entscheidung gemäß Art144a B-VG an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde wird die Verletzung in Art2, 3, 5, 8 EMRK sowie die Verletzung in dem durch das Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973 verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt.
Vorgebracht wird darin im Wesentlichen, dass die Entscheidungsbegründung nicht nachvollziehbar sei und dass die Entscheidung gegen das rechtsstaatliche Gebot der Begründung gerichtlicher Entscheidungen verstoße. Der Asylgerichtshof habe ferner die in der an ihn erhobenen Beschwerde enthaltenen Ausführungen zur katastrophalen Menschenrechtssituation in Afghanistan unberücksichtigt gelassen und keine mündliche Beschwerdeverhandlung durchgeführt, obwohl dies beantragt worden sei. Bei richtiger rechtlicher Würdigung hätte zumindest von einer Ausweisung Abstand genommen werden müssen.
5. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor und beantragte die Beschwerde abzuweisen. Von der Erstattung einer Gegenschrift wurde – unter Verweis auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung – Abstand genommen.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
1. Der Asylgerichtshof geht in seiner Entscheidung, die er ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen hat, davon aus, dass das vom minderjährigen Beschwerdeführer erstattete Fluchtvorbringen – die Taliban hätten ihn als Kämpfer bzw. Selbstmordattentäter rekrutieren wollen – unglaubwürdig sei und dass es dem Beschwerdeführer möglich und zumutbar sei, in seine Heimatprovinz Paktia zurückzukehren.
2. Diese Entscheidung verstößt aus folgenden Gründen gegen das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC):
2.1. Zunächst ist festzuhalten, dass die angefochtene Entscheidung – obwohl in der an den Asylgerichtshof erhobenen Beschwerde ausdrücklich vorgebracht wurde, dass gerade junge Männer im Alter des Beschwerdeführers von den Taliban als Selbstmordattentäter rekrutiert würden – keinerlei Länderfeststellungen enthält, anhand derer beurteilt werden könnte, wie groß der Einfluss der Taliban in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers tatsächlich anzunehmen ist und mit welcher Wahrscheinlichkeit ein junger Afghane wie der Beschwerdeführer Opfer einer Zwangsrekrutierung werden könnte.
Der Asylgerichtshof hat es – anscheinend ausgehend von der Annahme der Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers – verabsäumt, auf das diesbezügliche Vorbringen einzugehen und zu ermitteln, ob sich aus der Berichtslage Hinweise auf eine (asylrelevante) Zwangsrekrutierungsgefahr für den Beschwerdeführer in seiner Heimatprovinz ergeben könnten.
2.2. Die Ausführungen des Asylgerichtshofes zur Unglaubwürdigkeit der vom Beschwerdeführer geschilderten fluchtauslösenden Ereignisse sind jedoch in wesentlichen Punkten nicht nachvollziehbar:
Abgesehen davon, dass sich der Asylgerichtshof über weite Strecken darauf beschränkt, das Vorbringen des Beschwerdeführers textbausteinartig als "vage und oberflächlich" zu qualifizieren (ohne dies anhand konkreter Beispiele nachvollziehbar darzulegen), ist die diesbezügliche Begründung überwiegend spekulativer Art: So die Ausführungen hinsichtlich der "Kampffähigkeit" der in Afghanistan verbliebenen Brüder sowie insbesondere die Behauptung, das vorgebrachte belästigende Verhalten der Taliban beim Vater des Beschwerdeführers würde "wohl kaum ein lebensbedrohliches, asylrelevantes Ereignis" darstellen; dem Asylgerichtshof ist dabei auch vorzuwerfen, dass er die Frage nach der Art und Intensität dieser "Belästigungen" nicht weiter vertieft hat (vgl. die Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 21. März 2012: "[S]ie haben meinen Vater belästigt, als ich in Griechenland war. […] Sie haben meinen Vater gefragt, warum er seine Söhne nach Europa geschickt hat.").
2.3. Unter Bedachtnahme darauf, dass der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde im vorliegenden Fall gerade nicht geklärt erscheint (vgl. dazu insbesondere die Ausführungen unter Punkt II.2.2.), ist festzuhalten, dass die Voraussetzungen des §41 Abs7 Asylgesetz 2005 für das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung nicht vorlagen.
2.4. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 13. März 2013, U1175/12 ua., welches der hier angefochtenen Entscheidung des Asylgerichtshofes in allen entscheidungswesentlichen Punkten gleicht, festgehalten hat, bewirkt das Absehen von einer – in concreto im Lichte des §41 Abs7 Asylgesetz 2005 zweifellos gebotenen – mündlichen Verhandlung durch den Asylgerichtshof eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht nach Art47 Abs2 GRC.
3. Die angefochtene Entscheidung ist daher schon aus diesen Gründen aufzuheben.
III. Ergebnis
Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß Art47 Abs2 GRC verletzt worden.
Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §88a iVm §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 400,– enthalten.
Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
Asylrecht, Ausweisung, Ermittlungsverfahren, EU-Recht, Verhandlung mündliche, ParteiengehörEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2013:U1257.2012Zuletzt aktualisiert am
06.08.2013