RS Vfgh 2013/6/29 B938/2010

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Veröffentlicht am 29.06.2013
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Index

66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art20 Abs3
B-VG Art83 Abs2
B-VG Art133 Z4
EMRK Art6 Abs1 / Tribunal
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art13
EU-Grundrechte-Charta Art47 Abs2
ASVG §31 Abs3 Z12, §351c ff, §351d, §351g, §351i
Verfahrensordnung zur Herausgabe des Erstattungskodex nach §351g ASVG §8, §19
Richtlinie 89/105/EWG

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Nichtaufnahme der Arzneispezialität Lucentis in den gelben Bereich des Erstattungskodex wegen Fehlens der Wirtschaftlichkeit (ua Nichteinhaltung des EU-Durchschnittspreises); keine Maßgeblichkeit der Regelung über eine 120-Tage-Frist für eine neuerliche Entscheidung des Hauptverbandes bei sonstiger Geltung des Antrags als angenommen; keine Willkür infolge Nichtberücksichtigung eines verbesserten Preisanbotes; Angemessenheit der Verfahrensdauer, keine Verschleppungsabsicht des Hauptverbandes

Rechtssatz

Qualifikation der Unabhängigen Heilmittelkommission (UHK) als Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag iSd Art133 Z4 B-VG und als Tribunal iSd Art6 EMRK (vgl VfSlg 17686/2005 ua; siehe auch B287/2012 vom selben Tag).

Aus der gesetzlich vorgeschriebenen Mitwirkung sogenannter Interessenvertreter an der Entscheidung lässt sich eine - auch nur scheinbare - Abhängigkeit von den Streitparteien nicht ableiten (vgl zB VfSlg 11912/1988 uva).

Die Zulässigkeit der Verwendung von zugelassenen Arzneimitteln, die nicht in den Erstattungskodex aufgenommen sind, zur Krankenbehandlung im Rahmen der sozialen Krankenversicherung hängt nicht von der Aufnahme des Arzneimittels in den Erstattungskodex, sondern davon ab, ob die Behandlung aus zwingenden therapeutischen Gründen notwendig ist (vgl §31 Abs3 Z12 viertletzter Satz ASVG). Die "Positivliste" des Erstattungskodex schränkt das Recht des Patienten auf Anwendung der für die ausreichende und zweckmäßige Krankenbehandlung notwendigen Heilmittel nicht ein. Den Versicherten können vielmehr - wenngleich nach Genehmigung durch den chefärztlichen Dienst - alle zugelassenen Medikamente verordnet werden, wenn dies im einzelnen Behandlungsfall den gesetzlich festgelegten Kriterien einer ausreichenden, zweckmäßigen und das Maß des Notwendigen nicht überschreitenden Krankenbehandlung dient.

Die für die Aufnahme von Arzneimitteln in den Erstattungskodex zu beachtenden Kriterien geben den Rahmen für eine Abwägungsentscheidung des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger. Daher genügt unter dem Gesichtspunkt des Art6 EMRK die nachprüfende Kontrolle dieser Abwägungsentscheidung durch ein Tribunal wie die UHK, das berechtigt ist, sowohl die Verletzung der gesetzlichen Grenzen der darin inkludierten Ermessensübung, als auch eine für eine wirksame Nachprüfung der Ermessensübung unzureichende Begründung als zur Aufhebung der Entscheidung des Hauptverbandes führende Rechtswidrigkeit aufzugreifen.

Gem §351d Abs1 ASVG Verpflichtung des Hauptverbandes zur Entscheidung über Anträge auf Aufnahme in den gelben oder grünen Bereich innerhalb von 90 Tagen (wird auch über den Preis entschieden innerhalb von 180 Tagen); bei nicht fristgerechter Entscheidung Berechtigung des Unternehmens zur Anrufung der UHK; in diesem Fall Verpflichtung der UHK gemäß §351i Abs5 ASVG zur Entscheidung innerhalb von weiteren 180 Tagen in der Sache selbst, widrigenfalls der Antrag als angenommen gilt.

Hat der Hauptverband (wie hier in den drei ersten Rechtsgängen) zunächst nur über die Erstattungsfähigkeit abgesprochen, so beginnen mit der Aufhebung seiner Entscheidung gemäß §351i Abs4 vierter Satz ASVG die Fristen nach §351c Abs1 zweiter Satz leg cit von 90 Tagen und nach §351c Abs7 Z1 leg cit von 24 Monaten neu zu laufen. Dies bedeutet, dass dann, wenn die Erstattungsfähigkeit nicht innerhalb von 90 Tagen erneut verneint wird, die Arzneispezialität im roten Bereich verbleibt, und zwar (zunächst) höchstens für 24 Monate ab der Feststellung des ermittelten EU-Durchschnittspreises. Im Übrigen gilt für den Hauptverband erneut die Frist von 180 Tagen gemäß §351d Abs1 ASVG.

Die für den Hauptverband geltende Frist von 120 Tagen iSd §351i Abs4 zweiter Satz ASVG, nach deren Verstreichen der Antrag als angenommen gilt, wird hingegen erst dann in Gang gesetzt, wenn die UHK eine Entscheidung des Hauptverbandes aufgehoben hat, in welcher - in ausdrücklicher oder konkludenter Bejahung der Erstattungsfähigkeit - die Aufnahme einer Arzneispezialität in den Erstattungskodex aus anderen Gründen abgelehnt oder eine in den Erstattungskodex aufgenommene Arzneispezialität aus einem anderen Grund als dem Fehlen der Erstattungsfähigkeit gestrichen wurde.

Da die von der belangten Behörde im vierten Rechtsgang bestätigte Entscheidung des Hauptverbandes - nunmehr insoweit von der grundsätzlichen Erstattungsfähigkeit ausgehend - die Streichung wegen des Fehlens der Wirtschaftlichkeit (ua wegen Nichteinhaltung des EU-Durchschnittspreises) vorgenommen hat, hätte die 120-Tage-Frist nur im Falle einer neuerlichen Aufhebung auch dieser Entscheidung durch die UHK erstmals zu laufen beginnen können.

Daher keine Verletzung im Recht auf ein faires Verfahren iSd Art6 EMRK und im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter.

Nicht nachvollziehbar ist die Argumentation der beschwerdeführenden Partei, wonach ihr der Zugang zu "geheimen Protokollen" über eine Sitzung der Heilmittelevaluierungskommission (HEK) verwehrt worden sei, die dem elektronischen Akt nicht angeschlossen worden seien.

Ein (Beratungs-)Protokoll über die Standpunkte und über das Abstimmungsverhalten einzelner Mitglieder unterliegt - entsprechend den in dieser Hinsicht bestehenden allgemeinen Standards der österreichischen Rechtsordnung (vgl auch Art20 Abs3 B-VG) - nach §8 der Verfahrensordnung zur Herausgabe des Erstattungskodex (VO-EKO) zulässigerweise der Amtsverschwiegenheit und ist daher nicht parteienöffentlich.

Keine Bedenken gegen §19 Abs3 Z5 VO-EKO; keine Willkür infolge Nichtberücksichtigung eines außerhalb der Frist des §19 Abs3 Z5 VO-EKO eingereichten Preisanbots.

Die strengen zeitlichen Vorgaben des §19 Abs1 VO-EKO bzw der (demgegenüber begünstigenden) Ausnahmeregelung des §19 Abs3 Z5 VO-EKO gelten ausdrücklich nur für die Vorlage von Unterlagen, und nicht auch - nach erfolgter Ermittlung des EU-Durchschnittspreises - für "in letzter Minute" verbesserte Preisanbote (also für bloße Tatsachenmitteilungen), mit denen diesem Durchschnittspreis entsprochen werden soll; es ist nicht nachvollziehbar, aus welchen (sachlichen) Gründen die für die Vorlage von nach Antragstellung unverlangt nachgereichten Unterlagen geltende Frist des §19 Abs3 Z5 VO-EKO auch für ein verbessertes Preisanbot gelten soll.

Die belangte Behörde durfte denkmöglich davon ausgehen, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für die Aufnahme von Lucentis in den gelben Bereich des Erstattungskodex gemäß §31 Abs3 Z12 litb letzter Satz ASVG nicht vorlagen.

Keine Verletzung im Recht auf Entscheidung in angemessener Frist.

Die gesetzlichen Bestimmungen und die Verordnung über das Verfahren zur Aufnahme einer Arzneispezialität in den Erstattungskodex setzen die Richtlinie 89/105/EWG betr die Transparenz von Maßnahmen zur Regelung der Preisfestsetzung bei Arzneimitteln und ihre Einbeziehung in die staatlichen Krankenversicherungssysteme um; sie liegen daher im Anwendungsbereich des Unionsrechts und daher auch des insoweit dem Art6 EMRK gleichenden Art47 der EU-Grundrechte-Charta (GRC).

Angesichts der Parallelität des Art6 EMRK mit Art47 Abs2 GRC Verweis auf die ständige Rechtsprechung des EGMR, der zufolge die Angemessenheit der Verfahrensdauer nicht abstrakt, sondern im Lichte der besonderen Umstände des einzelnen Falles zu beurteilen ist (vgl ua VfSlg 18658/2008).

Da die Abweisung des Antrages der beschwerdeführenden Partei im vierten Rechtsgang aus anderen Gründen als dem der Erstattungsfähigkeit erfolgt ist, hatte die Beschwerde gegen diesen Bescheid aufschiebende Wirkung, sodass die Arzneispezialität bis zur Erlassung des Bescheides der belangten Behörde - rund 20 Monate - im roten Bereich des Erstattungskodex verblieb. Diese dem angestrebten Verfahrensergebnis weitgehend entsprechende Rechtsstellung, die das Gesetz der beschwerdeführenden Partei somit bereits während des Verfahrens einräumt, relativiert die Belastung, die der beschwerdeführenden Partei durch die Verfahrensdauer von nahezu drei Jahren erwachsen konnte.

Was den Beitrag der Behörden zu der Verfahrensdauer betrifft, so kann eine längerdauernde Untätigkeit nicht festgestellt werden.

Der EGMR hat für den Fall, dass staatliche Behörden durch Rechtsmittel gegen gerichtliche Anordnungen die faktische Durchsetzbarkeit eines rechtskonformen Zustandes zu verhindern suchen, ausgesprochen, dass die Behörden die damit verbundenen Verzögerungen zu verantworten haben (EGMR, Pibernik, Appl 75139/01, Rz 56 f). Das Erfordernis wiederholter Rechtsgänge innerhalb der Verwaltung, die auf Begründungsmängel der jeweils erstinstanzlichen Bescheide zurückzuführen sind, könnten - selbst unter Zugrundelegung des in der genannten Entscheidung des EGMR zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens - nur dann eine Unangemessenheit der Verfahrensdauer begründen, wenn dieser Fehler dem Hauptverband als erstinstanzliche Behörde als eine Verfahrensverschleppung vorwerfbar wäre.

Ein Verhalten des Hauptverbandes, das in Verschleppungsabsicht gesetzt worden wäre, wird in der Beschwerde aber nicht dargetan.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Sozialversicherung, Arzneimittel, Kollegialbehörde, Tribunal, Behördenzusammensetzung, Preisregelung, EU-Recht Richtlinie, Fristen, Verfahrensdauer überlange, fair trial, Rechtsschutz, Amtsverschwiegenheit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2013:B938.2010

Zuletzt aktualisiert am

08.08.2014
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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