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19/05 Menschenrechte;Norm
AVG §68 Abs1;Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):2011/22/0134Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerden 1. der N und 2. des M, vertreten durch Dr. Michael Vallender, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Paulanergasse 14, gegen die Bescheide der Bundesministerin für Inneres je vom 30. März 2011, Zl. 311.399/12-III/4/10 (betreffend Erstbeschwerdeführerin, protokolliert zur Zl. 2011/22/0133) und Zl. 311.399/13-III/4/10 (betreffend Zweitbeschwerdeführer, protokolliert zur Zl. 2011/22/0134), jeweils betreffend Niederlassungsbewilligung, zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den Beschwerdeführern jeweils Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit den angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheiden bestätigte die belangte Behörde die mit erstinstanzlichen Bescheiden vom 23. Dezember 2009 vorgenommene Zurückweisung der Anträge der beschwerdeführenden Parteien (Mutter und Sohn kosovarischer Staatsangehörigkeit) vom 9. Juli 2009 auf Erteilung von Niederlassungsbewilligungen gemäß § 44 Abs. 3 und § 44b Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).
Zur Begründung führte die belangte Behörde in den angefochtenen Bescheiden annähernd gleichlautend im Wesentlichen aus, dass die Erstbeschwerdeführerin mit dem Zweitbeschwerdeführer und einem weiteren Sohn im Jahr 1998 illegal eingereist sei und wiederholt Asylanträge gestellt habe. Der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater des Zweitbeschwerdeführers befinde sich bereits seit 1992 in Österreich. Dessen Verfahren über den letzten Antrag auf Verlängerung der Niederlassungsbewilligung sei noch nicht abgeschlossen. Gegen den älteren Sohn der Erstbeschwerdeführerin sei am 19. Mai 2007 ein Aufenthaltsverbot erlassen worden. Gegen die beschwerdeführenden Parteien seien mit Bescheiden vom 14. Februar 2007 Ausweisungen ausgesprochen worden, die mit 7. März 2007 rechtskräftig geworden seien. "An diese Entscheidung sind die NAG-Behörden gebunden."
Im Berufungsschreiben vom 13. Jänner 2010 habe die Erstbeschwerdeführerin angegeben, dass sie wirtschaftlich und persönlich integriert wäre und freundschaftliche Beziehungen zu Bekannten und Freunden hätte. Sie hätte die deutsche Sprache weit über das Niveau A2 hinausgehend erlernt und wäre selbsterhaltungsfähig.
Die Erstbeschwerdeführerin sei im Besitz einer Arbeitserlaubnis gewesen und habe zuletzt bis 5. August 2006 als Hotelhilfskraft gearbeitet. Eine wirtschaftliche bzw. berufliche Integration ab 5. August 2006 habe sie nicht nachgewiesen. Sie habe auch keinen Nachweis über einen positiv abgeschlossenen Deutschkurs vorgelegt.
Der Zweitbeschwerdeführer sei lediglich an einem Tag (am 19. Juli 2009) einer geringfügigen Beschäftigung nachgegangen. Er sei daher beruflich nicht integriert.
Die belangte Behörde könne eine maßgebliche Sachverhaltsänderung seit den rechtskräftigen Ausweisungsverfahren bis zur jeweiligen Entscheidung der erstinstanzlichen Behörde im Dezember 2009 nicht feststellen. Somit seien die Berufungen abzuweisen gewesen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die wegen des persönlichen und sachlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Beschwerden nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:
Eingangs ist anzumerken, dass angesichts der Zustellung der angefochtenen Bescheide im Mai 2011 die Bestimmungen des NAG in der Fassung der Novelle BGBl. I Nr. 111/2010 und der Kundmachung BGBl. I Nr. 16/2011 anzuwenden sind.
Unbestritten beantragten die beschwerdeführenden Parteien die Erteilung von humanitären Aufenthaltstiteln gemäß § 44 Abs. 3 NAG.
Gemäß § 44b Abs. 1 Z 1 NAG ist ein solcher Antrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn gegen den Antragsteller eine Ausweisung rechtskräftig erlassen wurde und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 11 Abs. 3 NAG ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt (vgl. zu diesem Erfordernis das hg. Erkenntnis vom 15. Juni 2010, 2010/22/0075, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird). Ausgehend von den rechtskräftigen Ausweisungen der beschwerdeführenden Parteien im Februar 2007 verneinte die belangte Behörde eine maßgebliche Sachverhaltsänderung im genannten Sinn bis zur maßgeblichen Entscheidung der erstinstanzlichen Behörde im Dezember 2009.
Dieser Ansicht vermag sich der Verwaltungsgerichtshof nicht anzuschließen.
Eine Sachverhaltsänderung ist dann wesentlich, wenn sie für sich allein oder in Verbindung mit anderen Tatsachen den Schluss zulässt, dass nunmehr bei Bedachtnahme auf die damals als maßgebend erachteten Erwägungen eine andere Beurteilung jener Umstände, die seinerzeit den Grund für die rechtskräftige Entscheidung gebildet haben, nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten kann. Die Erlassung eines inhaltlich anders lautenden Bescheides (bezogen auf § 44b Abs. 1 NAG: eine andere Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Rechte nach Art. 8 EMRK) muss also zumindest möglich sein; in dieser Hinsicht hat die Behörde eine Prognose zu treffen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 17. April 2013, 2013/22/0006). Für diese Prognose ist eine Gesamtbetrachtung anzustellen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Oktober 2012, 2012/22/0167).
Bei dieser Gesamtbetrachtung ist der im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Entscheidung mittlerweile sehr lange Aufenthalt der beschwerdeführenden Parteien von über zehn Jahren zu berücksichtigen. Weiters sind seit der Rechtskraft der Ausweisungen fast drei Jahre vergangen. Aus diesen Gründen kann eine zu Gunsten der beschwerdeführenden Parteien vorzunehmende Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK nicht von vornherein als ausgeschlossen gelten, zumal die Versagung eines Aufenthaltstitels gegenüber dem Ehemann bzw. Vater nicht feststeht.
Demnach waren die angefochtenen Bescheide gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am 29. Mai 2013
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2013:2011220133.X00Im RIS seit
05.07.2013Zuletzt aktualisiert am
20.12.2013