D4 416896-3/2013/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. SCHERZ als Vorsitzende und die Richterin Mag. STARK als Beisitzer über die Beschwerde des XXXX StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Innsbruck, vom 21.03.2013, FZ.. 13 01.243-BAI, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8 und 10 AsylG 2005, idF BGBl. I Nr. 38/2011, als unbegründet abgewiesen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
I. Verfahrensgang
1. (Erstverfahren):
Der minderjährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und wurde amXXXXals Sohn der Asylwerber XXXX im Bundesgebiet geboren. Er stellte am 11.11.2010 vertreten durch seine Mutter einen Antrag auf internationalen Schutz, wozu für ihn keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht wurden.
Der Asylantrag seiner Mutter vom 11.04.2004 war mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 19.07.2010, Zl. D4 256651-2/2009/5E, rechtskräftig negativ entschieden worden und ihre Ausweisung unter Gewährung eines Durchführungsaufschubes bis zum 31.01.2011 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgesprochen worden.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Salzburg, vom 25.11.2010, Zl. 10 10.577-BAS, wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 11.11.2010 gemäß § 3 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen, gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Russische Föderation abgewiesen und der Beschwerdeführer ebenfalls unter Gewährung eines Durchführungsaufschubes gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 bis zum 31.01.2011 gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 07.02.2011, Zl. D4 416896-1/2010/2E, gemäß §§ 3,8 und 10 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, dass eine asylrelevante Verfolgung seitens der Mutter des Beschwerdeführers nicht geltend gemacht worden sei. Mangels Fluchtvorbringen seien auch keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne der Judikatur des EGMR feststellbar gewesen, welche gegen eine Abschiebung in die Russische Föderation sprechen würden. Der Beschwerdeführer befinde sich als unmündiger Minderjähriger in der Obsorge seiner gesunden und arbeitsfähigen Eltern, denen auch in Zukunft zumutbar sei, durch eigene Erwerbstätigkeit den Familienunterhalt zu sichern. Auch im Rahmen des Familienverfahrens gemäß § 34 AsylG 2005 lagen die Voraussetzungen für eine anderslautende Entscheidung nicht vor. In der Ausweisung gemeinsam mit seinen Eltern wurde keine Verletzung von Art. 8 EMRK erblickt. Diese Entscheidung wurde der gesetzlichen Vertreterin des Beschwerdeführers am 14.02.2011 persönlich zugestellt.
Am 26.04.2011 erklärte die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers schriftlich, freiwillig zurückkehren zu wollen. Nach der Mitteilung der Caritas vom 08.06.2011 ist die Familie jedoch nicht zum Flugtermin erschienen und war nicht mehr erreichbar.
2. (Folgeverfahren):
Am 20.09.2011 stellte der minderjährige Beschwerdeführer vertreten durch seine Mutter einen zweiten Antrag auf internationalen Schutz, nachdem er sich zuvor mit seinen Eltern drei Monate in Frankreich aufgehalten hatte, wo sie ebenfalls Asyl beantragt hatten und hierauf nach Österreich rücküberstellt wurden. Als Grund für die neuerliche Antragstellung gab die Mutter des Beschwerdeführers an, sie habe Angst, in Tschetschenien umgebracht zu werden. Sie seien in Österreich Nachbarn des Mannes gewesen, welcher Umar Israilov getötet habe. Sie habe mit dessen Frau XXXX Schwierigkeiten gehabt und diese habe gedroht, alles ihrem Mann zu erzählen. Ihr Mann habe dann mit diesem Probleme gehabt. Ihr Mann habe ihr gesagt, dass dieser wieder in Tschetschenien sei und sie daher nicht zurückkönnten. Sie stelle auch für ihren Sohn XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz, er sei gesund.
Anlässlich der Einvernahme am 27.09.2011 durch das Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, gab die Mutter des Beschwerdeführers zusammengefasst an, seit 04.08.2008 mit XXXX nach moslemischer Tradition verheiratet zu sein. Außer dem gemeinsamen Sohn XXXX hätten sie keine weiteren Kinder. Ihre Eltern und Geschwister befänden sich als Asylwerber in Österreich, ein gemeinsamer Haushalt bestehe seit ihrer Heirat nicht mehr mit diesen, auch kein sonstiges Abhängigkeitsverhältnis. Von ihrer Antragstellung bis etwa Juni 2011 habe sie sich in Österreich, danach bis 20.09.2011 mit ihrem Mann und ihrem Kind in Frankreich und seither wieder in Österreich aufgehalten. Ab ihrer Heirat im Jahr 2008 bis zur Ausreise nach Frankreich hätten sie in XXXX als Nachbarn von Letschi BOGATIROV, welcher in Österreich einen Tschetschenen ermordet habe, gelebt. Ihr Mann habe sich mit diesem sehr oft gestritten. Dessen Ehefrau Eliza habe ihr sehr oft im Streit damit gedroht, alles ihrem Mann berichten zu wollen, welcher ihnen das Leben zur Hölle machen werde. Sie befürchte im Fall der Rückkehr wegen der Streitereien in XXXX von Letschi BOGATIROV ermordet zu werden. Die Gründe, aus denen ihr Mann Streit mit dem Nachbarn gehabt habe, könne sie nicht nennen. Sie selbst habe mit der Frau des Nachbarn Streitereien gehabt, weil diese zB ihre Sachen in der gemeinsamen Küche weggeworfen habe. Die Streitereien hätten 2008 gleich nach der Ankunft in XXXX begonnen und hätten bis zur Abreise der Frau gedauert, glaublich im letzten Jahr, Anfang 2010. Wegen der Streitigkeiten hätten sie sich nicht an die Polizei gewendet. Die Rückkehrbefürchtung bestehe, seit sie von dem Mord in Wien aus der Zeitung erfahren habe, sie glaube, dies sei ungefähr vor einem Jahr gewesen. Zum Vorhalt, warum sie nicht bereits vor einem Jahr einen (neuen) Asylantrag gestellt habe, gab sie an, diese Frage nicht verstanden zu haben, weil sie ja damals in Österreich aufhältig gewesen seien. Damals hätten sie nicht gewusst, dass die österreichischen Behörden sie nach Tschetschenien hätten schicken wollen. Zur Verhinderung der Abschiebung hätten sie die Rückkehrberatung aufgesucht und wären einen Tag vor der Abreise nach Russland die Reise nach Frankreich angetreten. Im Jahr 2010 habe sie einen Deutschkurs absolviert. Berufstätig sei sie in Österreich nicht gewesen, sie sei auch nicht Mitglied einer Organisation oder in Vereinen. Ihre Eltern und Geschwister befänden sich in Österreich. Außer Onkeln und Tanten habe sie in Tschetschenien keine Verwandten. Sie fürchte um das Leben ihres Sohnes. Er sei damals noch nicht auf der Welt gewesen, als Letschi BOGATIROV in Österreich gewesen sei. Sie persönlich sei von diesem nicht bedroht worden, sondern ihr Mann, welcher sich mit diesem gestritten habe.
Die Einvernahme der Mutter des Beschwerdeführers vom 19.10.2011 hatte das Parteiengehör zur beabsichtigten Zurückweisung des Antrages und zu den ihr vorgehaltenen Länderfeststellungen zum Gegenstand, wozu sie jedoch keine substantiierten Angaben machte.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Erstaufnahmestelle Ost, vom 09.11.2011 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers vom 20.09.2011 gemäß § 68 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
Begründend wurde ausgeführt, dass das nunmehrige Vorbringen des Beschwerdeführers keinen glaubhaften Kern beinhalte und damit die Rechtskraft des Erstverfahrens einer neuerlichen inhaltlichen Entscheidung entgegenstehe. Auch die den Beschwerdeführer treffende allgemeine Lage in der Russischen Föderation habe sich seit Rechtskraft des letzten Asylverfahrens nicht geändert. Die nunmehrige Behauptung, die Eltern seien während des bisherigen Aufenthaltes in Österreich vom benachbarten späteren Mörder Israilovs bzw. dessen Ehefrau im Zuge von Streitigkeiten bedroht worden, wurde als nicht glaubwürdig erachtet, vor allem weil die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers am 26.04.2011 - somit auch bereits nach Abschluss des Verfahrens betreffend den Beschwerdeführer -schriftlich erklärte, freiwillig nach Hause zurückreisen zu wollen, was ihrem nunmehrigen Vorbringen diametral widerspreche. Es sei vielmehr zu erwarten gewesen, dass sie im Fall von weiteren Befürchtungen anstatt dessen schon (früher) einen weiteren Asylantrag gestellt hätte. Ihr Vorbringen, dass sie diese Frage nicht verstehe, weil sie zu dieser Zeit ohnehin in Österreich aufhältig gewesen sei, gehe ins Leere, weil über ihre ersten Anträge bereits rechtskräftig negativ entschieden worden und ihnen (damit) keinerlei Schutzstatus eingeräumt worden sei und sie auch über kein sonstiges Aufenthaltsrecht in Österreich verfügt hätten. Auch habe sie vorgebracht, sich wegen der Bedrohungen durch BOGATIROV bzw. dessen Ehefrau nicht an die Polizei gewendet zu haben, weshalb nicht erkannt werden könne, dass sie einer Gefährdung durch BOGATIROV ausgesetzt gewesen seien. Es sei daher auch nicht plausibel, dass ihr (bereits) vor ca. einem Jahr die Gefährdung durch BOGATIROV bewusst geworden sei.
Mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 30.11.2011, D4 416896-2/2011/2E, wurde die erhobene Berufung als unbegründet abgewiesen und der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
Begründend wurde ausgeführt, dass im Erstverfahren rechtskräftig festgestellt worden sei, dass der beschwerdeführenden Partei in der Russischen Föderation keine Verfolgung im Sinne der GFK drohe und dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der beschwerdeführenden Partei in die Russische Föderation keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK bedeute und ihre Ausweisung in die Russische Föderation ausgesprochen.
Am 26.04.2011 habe die gesetzliche Vertreterin des Beschwerdeführers schriftlich erklärt, freiwillig zurückkehren zu wollen. Nach der Mitteilung der Caritas vom 08.06.2011 sei die Familie jedoch nicht zum Flugtermin erschienen und sei nicht mehr erreichbar gewesen. Am 20.09.2011 sei er gemeinsam mit seiner Familie im Rahmen der Dublin II-Verordnung aus Frankreich nach Österreich rücküberstellt worden.
Da weder in der maßgeblichen allgemeinen und individuellen Sachlage noch in den anzuwendenden Rechtsnormen eine Änderung eingetreten sei, welche ein andere rechtliche Beurteilung des Antrages nicht von vornherein als ausgeschlossen erscheinen ließe, stehe die Rechtskraft des ergangen Erkenntnisses des Asylgerichtshofes vom 07.02.2011 einer neuerlichen Entscheidung entgegen und sei der Antrag zurückzuweisen.
Im Rahmen der Ausweisungsentscheidung wurde festgehalten, dass seine Familie ebenfalls von einer Ausweisungsentscheidung betroffen sei, wodurch kein Eingriff in das Familienleben iSd Art. 8 EMRK erfolge. Betreffend sein Privatleben wurde ausgeführt, dass sich seine persönliche Situation derart darstelle, dass sein bisheriger Aufenthalt im Bundesgebiet aus seinen bzw. seinen gesetzlichen Vertretern zurechenbaren Handlungen, wie das Stellen von letztlich ab- bzw. zurückgewiesenen Anträgen, resultiere. Es sei ihm nie ein anderes Aufenthaltsrecht zugekommen. Im Hinblick auf seinen bisherigen Aufenthalt in Österreich sei eine stark ausgeprägte Integration nicht ersichtlich und sei sein bisheriger Aufenthalt auch nicht in einer den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerung begründet. Es sei davon auszugehen, dass ihm und seinen gesetzlichen Vertretern ein Familien- und Privatleben im Herkunftsstaat möglich sei, nachdem sich diese und der Beschwerdeführer in einem anpassungsfähigen Alter befänden, keine Sprachbarrieren bestünden und seine Eltern mit den Gepflogenheiten vertraut seien. Letztlich wurde die Ausweisung für zulässig befunden und seien keine Hinweise auf die Notwendigkeit eines Durchführungsaufschubes hervorgekommen.
3. (2. Folgeverfahren):
Am 29.01.2013 stellte der Beschwerdeführer vertreten durch seine Mutter einen dritten Antrag auf internationalen Schutz am Flughafen Wien-Schwechat, nachdem die Familie des Beschwerdeführers im Rahmen der Dublin VO (EG) 343/2003 zurücküberstellt wurde. Die Mutter hielt sich samt Familie zuvor laut eigenen Angaben einige Monate in der Schweiz auf, wo sie ebenfalls Asyl beantragt hätte. Als Grund für ihre neuerliche Antragstellung für sich und ihre Söhne gab sie an, dass sie von den Schweizer Behörden nach Österreich deportiert worden wäre und ihre Gründe, die sie in der ersten Einvernahme angegeben habe, noch aufrecht wären. Sie fürchte um ihr Leben und das ihrer Familie.
Bei der Einvernahme am 18.03.2013 beim Bundesasylamt gab die Mutter des Beschwerdeführers zusammengefasst an, sie sei gesund und habe keine physischen oder psychischen Probleme.
Sie wurde auf die Entscheidungen im Erst- und Zweitverfahren aufmerksam gemacht, sowie, dass sie sich im April 2011 für die freiwillige Ausreise angemeldet hätte. Aufgrund des dritten Asylantrags am 29.01.2013 wurde sie nochmals einvernommen. Befragt, ob sie dies verstanden hätte, antwortete sie, dass sie nichts hinzufügen wolle.
Ihre Angaben im Rahmen der Erstbefragung seien vollständig, sie habe damals die Wahrheit gesagt, mehr habe sie selbst nicht dazu anzuführen. Andere Gründe gebe es nicht.
Hinsichtlich ihrer Fluchtgründe habe sie bereits alles gesagt und sie halte diese aufrecht. Sie habe Angst und wolle nicht nach Hause zurück. Es habe sich seit der Entscheidung im Jahr 2011 nichts geändert, da sie nicht zu Hause gewesen wären.
Sie verzichtete auf die Übersetzung der Länderfeststellungen, da sie die allgemeine Situation in ihrer Heimat kenne. Sie wolle auch keine schriftliche Stellungnahme dazu abgeben.
Für ihre Kinder habe sie keine eigenen Asylgründe vorzubringen. Für ihre Kinder würden die gleichen Gründe wie für sie gelten. Ihre beiden Kinder seien gesund. Die Angaben der Mutter würden auch für ihre Kinder gelten.
Mit Bescheid des Bundesasylamtes, Außenstelle Innsbruck, vom 21.03.2013, FZ. 13 01.243-BAI, wurde der Antrag vom 29.01.2013 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen, gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf die Russische Föderation abgewiesen und der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.
Nach Verweis auf die Einvernahmeprotokolle der Mutter des Beschwerdeführers, in denen sie für ihre Kinder keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht habe, wurden vom Bundesasylamt in der Begründung als Beweismittel die Asylverfahren der Eltern des Beschwerdeführers sowie die Zusammenstellung der Staatendokumentation angeführt.
Das Bundesasylamt stellte die Identität, die Staatsangehörigkeit sowie die Zugehörigkeit zur Kernfamilie ebenso fest, sowie, dass die Asylverfahren der Angehörigen zeitgleich abgewiesen werden würden.
Weiters wurde festgestellt, dass er an keiner schweren oder lebensbedrohlichen Krankheit leidet und die gesetzliche Vertreterin für den Beschwerdeführer keine gesonderten seine Person betreffenden Fluchtgründe oder Rückkehrbefürchtungen vorgebracht habe. Den Mitgliedern seiner Familie sei weder Asyl noch subsidiärer Schutz gewährt worden.
Folgende relevante Feststellungen zur Russischen Föderation bzw. zur Republik Tschetschenien wurden konkret getroffen:
ALLGEMEINE LAGE
Politik
Die Russische Föderation hat dem Russischen Föderalen Statistikdienst Rosstat zufolge Ende 2010 142,9 Millionen Einwohner, davon leben 74% im städtischen Raum.
(Rosstat: ?????????, ???????? ??? ????????????? ???????? ????????? 2010 ????, ohne Datum,
http://www.gks.ru/free_doc/new_site/perepis2010/croc/Documents/Vol1/pub-01-01_02.pdf, Zugriff 6.2.2013)
Russland ist eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten mit unterschiedlichem Autonomiegrad und Bezeichnungen (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte) besteht. Die Föderationssubjekte verfügen über eine eigene Legislative und Exekutive. Die Gouverneure der Föderationssubjekte wurden bis Mitte 2012 auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente (derzeit durchweg "Einiges Russland") vom Staatspräsidenten ernannt. Nach Gesetzesänderungen vom Frühsommer 2012 werden die Gouverneure seit Herbst 2012 grundsätzlich wieder direkt gewählt - in mehreren russischen Regionen fanden am 14.10.2012 erstmals seit 2005 wieder Gouverneurswahlen statt. In der Praxis kam es dabei zu Einschränkungen der Wahlmöglichkeiten für die Bürger. Bei den Gouverneurs- ebenso wie den parallel durchgeführten Kommunalwahlen in vielen Regionen Russlands erzielte "Einiges Russland" nahezu überall große Mehrheiten, allerdings bei z. T. extrem niedriger Wahlbeteiligung.
Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 166 Mitgliedern. Jedes Föderationssubjekt entsendet zwei Vertreter in den Föderationsrat, je einen aus der Exekutive und der Legislative. Durch Präsidialdekret vom Juli 2000 wurden die zunächst sieben, seit Februar 2010 acht Föderalbezirke geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der ebenfalls durch Präsidialdekret (September 2000) geschaffene Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten.
Mit 238 von 450 Sitzen verfügt die regierungsnahe Fraktion "Einiges Russland" über eine absolute Mehrheit in der Staatsduma. Bei der Wahl am 4. Dezember 2011 wurde die Staatsduma erstmals für eine verlängerte Amtszeit von nun fünf Jahren gewählt. Alle Abgeordneten werden ausnahmslos über Parteilisten nach Verhältniswahlrecht mit Sieben-Prozent-Hürde gewählt. Ab der nächsten Wahl gilt wieder die Fünf-Prozent-Hürde. Derzeit ist eine Wahlrechtsreform in Arbeit, die u. a. die Abschaffung des föderalen Listenteils auf den Wahlzetteln vorsieht. Alle Abgeordneten sollen dann ausschließlich über 225 Regionallisten gewählt werden. Neben "Einiges Russland" haben die Kommunisten mit 92 Sitzen, die linksorientierte Partei "Gerechtes Russland" mit 64 Sitzen und die "Liberaldemokraten" des Rechtspopulisten Schirinowski mit 56 Sitzen wie schon 2007 den Einzug in die Duma geschafft.
Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Russischer Präsident ist seit dem 7. Mai 2012 erneut Wladimir Wladimirowitsch Putin. Er war am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt worden. Putin löste Präsident Dmitri Anatoljewitsch Medwedew ab, der seit 2008 im Amt war. Putin war bereits von 2000 bis 2008 Staatspräsident und seitdem russischer Ministerpräsident. Im Gegenzug übernahm Medwedew am 8. Mai 2012 das Amt des Ministerpräsidenten.
Als Reaktion auf die Protestbewegung im Winter 2011 und Frühjahr 2012 wurden noch vor der Amtsübernahme durch Präsident Putin einige politische Reformen beschlossen. So wurden Hürden für die Gründung von Parteien und deren Teilnahme an Wahlen abgesenkt und direkte Gouverneurswahlen wieder eingeführt, allerdings mit Vorbehaltsklauseln. Mittlerweile haben sich zahlreiche neue Parteien registrieren können, darunter auch Oppositionsparteien mit demokratischem Anspruch, wie die "Republikanische Partei - Partei der Volksfreiheit (RPR-PARNAS). Seit Mai wird jedoch von vielen eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. Im Sommer 2012 wurden z.B. das russische Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft. Vom früheren Präsidenten Medwedew durchgesetzte Reformen wurden zum Teil zurückgenommen, z.B. durch die Wiederaufnahme von "Verleumdung" als Straftatbestand in das russische Strafgesetzbuch. Andererseits sollen die Agenda der wirtschaftlich-technischen Modernisierung Russlands weiter verfolgt und der Sozialstaat ausgebaut werden.
Bei den Dumawahlen im Dezember 2011 hat die von Putin angeführte Partei "Einiges Russland" ihre bisherige Zweidrittelmehrheit in der Staatsduma verloren, konnte jedoch eine absolute Mehrheit erreichen. Die drei weiteren in der Duma vertretenen Parteien (Kommunistische Partei, Gerechtes Russland und Liberal-Demokratische Partei Russlands) konnten ihren Stimmenanteil ausbauen und ihr politisches Gewicht in der Staatsduma erhöhen. Wahlfälschungsvorwürfe bei den Dumawahlen waren ein wesentlicher Auslöser für Massenproteste, insbesondere im Dezember 2011 und Anfang 2012.
(Auswärtiges Amt: Länder, Reise, Sicherheit - Russische Föderation - Innenpolitik, Stand Oktober 2012, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/ RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 6.2.2013)
Russland ist keine Wahldemokratie. Die Präsidentschaftswahlen 2012 wurden zugunsten des Premierministers und ehemaligen Präsidenten Wladimir Putin verzerrt, dieser profitierte unter anderem von bevorzugter Behandlung durch die Medien, zahlreichen Missbräuchen seines Amtsbonus und Unregelmäßigkeiten während der Stimmenauszählungen. Die Parlamentswahlen 2011 waren gemäß OSZE gekennzeichnet von einer "Konvergenz des Staates und der Regierungspartei, eingeschränktem politischem Wettbewerb und einem Mangel an Fairness", aber viele Wähler nutzten sie, um Protest gegen den Status Quo auszudrücken.
Gemäß der Verfassung von 1993 ist das Amt des Präsidenten sehr stark, dieser entlässt und ernennt, vorbehaltlich der Zustimmung des Parlaments, den Premierminister. Putins Entscheidung, die Präsidentschaft für vier Jahre an Dimitri Medwedew zu übergeben sodass er danach für eine weitere - nunmehr sechs Jahre dauernde - Amtszeit zurückkehren kann, verletzte den Geist der verfassungsmäßigen Beschränkung auf zwei Amtsperioden.
Seit 2007 werden die Dumaabgeordneten aufgrund von Parteilisten gewählt. Parteien müssen mindestens 7% der Wählerstimmen erreichen, um in der Duma vertreten zu sein. Zudem können sich Parteien nicht zu Wahlbündnissen zusammenschließen. Medwedew unterzeichnete im April 2012 ein Gesetz, das die Registrierung von Parteien liberalisierte, bis Jahresende ließen sich 42 Parteien registrieren. Jedoch stellte keine dieser Parteien eine ernsthafte Bedrohung für die Behörden dar, viele schienen dazu bestimmt zu sein, die Spaltung und Unübersichtlichkeit der Opposition zu erhöhen.
Die Hälfte der Mitglieder des Oberhauses wird von den Gouverneuren ernannt, die andere Hälfte wird von den Regionalparlamenten ernannt, üblicherweise mit gewichtigen föderalen Vorgaben. Seit Jänner 2011 sind nur mehr lokal gewählte Politiker berechtigt, im Föderationsrat zu sitzen. Diese Änderung wird vor allem Einheitliches Russland zum Vorteil gereichen, da die meisten lokalen Amtsinhaber Parteimitglieder sind. Ein von Medwedew im Mai 2012 unterzeichnetes Gesetz setzte wieder die Wahl von Gouverneuren ein, die zuvor seit 2004 vom Präsidenten ernannt worden waren. Im Oktober wurden in den ersten fünf Regionen Wahlen abgehalten. Das neue Gesetz ermöglicht es regionalen Beamten, Gouverneurskandidaten auszusieben, wodurch starke Oppositionelle ausgeklammert werden können bei allen fünf Wahlen pro-Kreml Amtsinhaber gewannen.
(Freedom House: Freedom in the World 2013 - Russia, Jänner 2013)
Neue Massenproteste in Russland: Zehntausende Menschen haben unbeeindruckt von einem Großaufgebot der Polizei und Eiseskälte gegen Kremlchef Wladimir Putin protestiert. Zu dem ersten "Marsch gegen die Schurken" kamen am 13.1.2013 allein im Stadtzentrum von Moskau mehr als 20.000 Menschen, wie unabhängige Beobachter schätzten. Diese erste Anti-Regierungs-Aktion des Jahres richtete sich gegen das von Putin zuletzt unterzeichnete Adoptionsverbot russischer Kinder durch US-Bürger. Allein in der russischen Hauptstadt waren 4.000 Polizisten im Einsatz, wie Medien berichteten. Zur Zahl der Demonstrationsteilnehmer gab es stark voneinander abweichende Zahlen. Die Polizei sprach von maximal 9.500 Teilnehmern, mehrere Oppositionspolitiker nannten dagegen rund 50.000.
(Die Presse: Zehntausende Russen beim "Marsch gegen die Schurken", 13.1.2013,
http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/1332155/Zehntausende-Russen-beim-Marsch-gegen-die-Schurken?_vl_backlink=/home/index.do, Zugriff 6.2.2013)
Wahlen
Am 4. März 2012 wurden Präsidentschaftswahlen durchgeführt. Fünf Kandidaten, darunter der damals amtierende Premierminister [Putin], stellten sich der Wahl. Obwohl alle Kandidaten ungehindert Wahlkampf führen konnten, wurden die Bedingungen für den Wahlkampf zugunsten Putins verzerrt. Wenngleich alle Kandidaten Zugang zu den Medien hatten, wurde ihm ein klarer Vorteil bei der Berichterstattung gegeben. Entgegen den gesetzlichen Bestimmungen war die Berichterstattung der Rundfunkmedien nicht ausgewogen. Herr Putin dominierte den Wahlkampf in den Medien durch oftmalige Auftritte, seine bisherigen Erfolge wurden gelobt.
Staatliche Ressourcen wurden zugunsten des damaligen Premierministers eingesetzt. Es kam zu einer offensichtlichen Mobilisierung von Individuen und staatlichen Ressourcen zur Unterstützung des Wahlkampfes von Putin. In einigen Regionen berichteten Personen, die am Wahlkampf teilnahmen, dass sie von ihren Vorgesetzten dazu angehalten worden waren. In vielen öffentlichen Institutionen wurden Untergebene angewiesen, für Putin Wahlkampfveranstaltungen zu organisieren. Lokale Behörden nutzen zudem behördliche Kommunikationskanäle, wie Websites oder Zeitungen ihrer Einrichtungen, zur Unterstützung seines Wahlkampfes.
Am Wahltag wurde die Stimmabgabe im Allgemeinen positiv bewertet; jedoch verschlechterte sich der Vorgang während der Auszählung aufgrund von verfahrenstechnischen Unregelmäßigkeiten. Die Auszählung wurde deshalb von fast einem Drittel der Wahllokale negativ bewertet. Das Hinzufügen von Wählern zu den Wählerlisten kurz vor und am Wahltag selbst führte zu einigen Bedenken. Es wurde auch die Einrichtung von speziellen Wahllokalen in letzter Minute berichtet, die Verfahren hierzu waren nicht transparent.
Die Unabhängigkeit der Wahlbehörden wurde auf allen Ebenen angezweifelt, meistens aufgrund ihrer vermeintlichen Zugehörigkeit zur lokalen Verwaltung und der Regierungspartei.
Der Wahlkampf war geprägt von im Allgemeinen unbehinderten, großen Protesten gegen die Wahlfälschungsvorwürfe während der Dumawahlen 2011. Auch im Nachfeld der Wahlen kam es zu einigen großen genehmigten und nicht genehmigten Demonstrationen, insbesondere in Moskau und St. Petersburg, mit massiver Polizeipräsenz.
(OSZE: Russian Federation, Presidential Election, 4 March 2012: Final Report, 11.5.2012)
Wladimir Putin gewann die Präsidentenwahl mit 63,6 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei 65,3 Prozent, teilte die Wahlkommission in Moskau mit. Kurz vor Putins Amtseinführung am Montag, 7.5.2012 sperrte ein Großaufgebot an Sicherheitskräften weite Teile des Zentrums in Moskau ab. Bei anschließenden Demonstrationen nahm die Polizei etwa 120 Menschen fest. Die Demonstranten wurden laut Sicherheitsbehörden wegen Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung vorübergehend festgenommen. Ihre Demonstration war nicht genehmigt. Bereits am Sonntagabend waren bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten rund 80 Menschen verletzt worden. Es gab mehr als 400 Festnahmen. Im Zentrum der russischen Hauptstadt hatten Zehntausende gegen "Putins Dauerherrschaft" protestiert.
(Die Presse: Wladimir Putin stilisiert sich als überparteilich, 8.3.2012,
http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/738709/Wladimir-Putin-stilisiert-sich-als-ueberparteilich?from=simarchiv, Zugriff 6.2.2013 / Die Presse: Wladimir Putin als neuer russischer Präsident vereidigt, 7.5.2012
http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/ 755461/Wladimir-Putin-als-neuer-russischer-Praesident-vereidigt-?from=simarchiv, Zugriff 6.2.2013)
An den Wahlen zur Staatsduma am 4.12.2012 nahmen alle sieben beim Justizministerium registrierten politischen Parteien teil, von denen vier auch im bisherigen Parlament vertreten waren: die Regierungspartei "Einiges Russland", die "Kommunistische Partei der Russischen Föderation", die "Liberaldemokratische Partei Russlands" und "Gerechtes Russland". Die anderen drei Parteien waren die Parteien "Jabloko", "Patrioten Russlands" und "(Ge-)Rechte Sache". Nur eine zusätzliche Partei seit den Wahlen 2007 - "(Ge-)Rechte Sache" - konnte für die Wahlen 2011 registriert werden, allen weiteren wurde die Registrierung verweigert. Die Registrierungsvoraussetzungen wurden von allen Parteien vor dem Europarat kritisiert.
Die Dumawahlen 2012 waren gut verwaltet, aber von einer Konvergenz der Regierungspartei mit dem Staat, eingeschränktem politischem Wettbewerb (durch die Verweigerung von Registrierungen politischer Parteien durch das Justizministerium) und mangelnder Fairness gekennzeichnet. Die Wahlverwaltungsbehörden, lokale Behörden und Dienstanbieter behandelten die wahlwerbenden Parteien ungleich, das Spielfeld war zugunsten der Regierungspartei geneigt. Die Unterscheidung zwischen Staat und Regierungspartei wurde oft dadurch verzerrt, dass einige Personen ihr Amt zu ihrem Vorteil nutzten.
Seit den letzten Wahlen wurde der gesetzliche Rahmen in mehrerlei Hinsicht verbessert, beispielsweise war der Zugang zu Printmedien offener, die Möglichkeiten, Treffen und Kundgebungen zu veranstalten waren größer. Dennoch ist das Gesetz zu komplex und lässt zu viel Raum für Interpretation, was zu uneinheitlicher Anwendung führte.
Der Umgang der Zentralen Wahlkommission mit Beschwerden unterminierte das Recht der Wahlteilnehmer auf effektive und zeitgerechte Abhilfe. Die Unabhängigkeit der Kommission von der staatlichen Administration wurde von den meisten politischen Parteien in Frage gestellt. Die Möglichkeiten für internationale Wahlbeobachter waren eingeschränkt.
Am Wahltag war die Stimmabgabe gut organisiert, aber die Qualität des Prozesses verschlechterte sich während der Auszählung, bei der es zu Verletzungen der vorgegebenen Prozedere und Manipulationen kam. Die Massenproteste in vielen russischen Städten weisen auf Bedenken in der Öffentlichkeit hin. Eine Untersuchung von mehr als 2.000 diesbezüglichen Anschuldigungen wurde eingeleitet.
(Council of Europe - Parliamentary Assembly: Observation of the parliamentary elections in the Russian Federation (4 December 2011), 23.1.2012)
Allgemeine Sicherheitslage
Teile des Landes, vor allem im Nordkaukasus, sind von hohem Gewaltniveau betroffen. Der relative Erfolg des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, bedeutende Rebellenaktivität in seinem Herrschaftsbereich einzuschränken, ging einher mit zahlreichen Berichten über außergerichtliche Tötungen und Kollektivbestrafung. Zudem breitete sich die Rebellenbewegung in den umliegenden russischen Republiken, wie Inguschetien, Dagestan und Kabardino-Balkarien aus. Hunderte Beamte, Aufständische und Zivilisten sterben jedes Jahr durch Bombenanschläge, Schießereien und Morde.
(Freedom House: Freedom in the World 2013 - Russia, Jänner 2013)
Die Gewalt im Nordkaukasus, angefacht von Separatismus, interethnischen Konflikten, dschihadistischen Bewegungen, Blutfehden, Kriminalität und Exzessen durch Sicherheitskräfte geht weiter. Die Gewalt in Tschetschenien ging jedoch 2011 im Vergleich zu 2010 zurück.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2011 - Russia, 24.5.2012)
Der islamistische Widerstand ist nach wie vor aktiv, insbesondere in Dagestan. Offiziellen Angaben zufolge wurden in den ersten sechs Monaten 1012 116 "terroristische Verbrechen" in Dagestan begangen, bei denen 67 Personen, darunter 7 Zivilisten, ums Leben kamen.
(Human Rights Watch: World Report 2013 - Russia, 31.1.2013)
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus war noch immer instabil. Bewaffnete Gruppen gingen weiter gezielt gegen Polizeibeamte und andere Staatsbedienstete vor. Dabei gerieten oft Zivilisten ins Kreuzfeuer oder wurden gezielt angegriffen. Sowohl bewaffnete Gruppen als auch die Sicherheitskräfte begingen gravierende Menschenrechtsverstöße. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte im gesamten Nordkaukasus ging oft mit schweren Menschenrechtsverletzungen einher. Es gingen Berichte über die Drangsalierung und Tötung von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und Rechtsanwälten sowie über die Einschüchterung von Zeugen ein. Anders als im übrigen Nordkaukasus gingen die Angriffe bewaffneter Gruppen in Tschetschenien zurück.
(Amnesty International: Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights, 24.5.2012)
Die Sicherheitslage im Nordkaukasus ist insgesamt weiterhin schlecht, auch wenn zwischen den einzelnen Entitäten z. T. zu differenzieren ist. Fast täglich gibt es Meldungen über gewaltsame Vorfälle mit Toten und Verletzten in der Region. Besonders betroffen ist weiterhin die Republik Dagestan. Aber auch in Kabardino-Balkarien, Tschetschenien und Inguschetien kommt es zu Zwischenfällen, so dass von einer Normalisierung nicht gesprochen werden kann. Nur vereinzelt ist bisher von Attentaten und anderen extremistischen Straftaten aus den übrigen Republiken des Förderalbezirks Nordkaukasus zu hören.
Auf Gewalt durch islamistische Aufständische oder im Zuge von Auseinandersetzungen zwischen Ethnien und Clans reagieren die regionalen und föderalen Behörden weiterhin vor allem mit harter Repression. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt dreht sich dadurch weiter.
(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Juni 2012, 6.7.2012)
Der Leiter der Hauptverwaltung des Innenministeriums Russlands im Nordkaukasus, Sergej Tschentschik, erläuterte, dass im Jahr 2012 insgesamt 211 Angehörige der Sicherheitskräfte ermordet worden sind und 405 weitere diverse Verletzungen erlitten haben. Außerdem haben die Extremisten 78 Zivilisten getötet und 179 weitere verletzt. Nach Angaben der Hauptverwaltung des russischen Innenministeriums im Nordkaukasus wurden im vergangenen Jahr 352 terroristische Verbrechen in der Region gemeldet. Im Jahr 2011 habe es dort 406 Verbrechen gegeben, teilte Tschentschik mit. Ferner gab es über 222 Beschießungen im vorigen Jahr bzw. 252 Beschießungen im Jahr 2011, 116 Explosionen im Jahr 2012 bzw. 144 Explosionen im Jahr zuvor, drei Überfälle auf Angehörige der Rechtsschutzorgane mit blanken Waffen in 2012. "Die Zahl der Verbrechen in Tschetschenien, Kabardino-Balkarien und Dagestan ist zurückgegangen".
(Russland.ru: Jahresbilanz des russischen Innenministeriums im Nordkaukasus, 26.1.2013,
http://www.russland.ru/rupol0010/morenews.php?iditem=24000, Zugriff 6.2.2013)
Bis zu 40 Banden mit insgesamt rund 600 Mitgliedern sind der örtlichen Innenbehörde zufolge derzeit im Nordkaukasus aktiv. Der größte Gefahrenherd ist dabei die Teilrepublik Dagestan. "Nach unseren Angaben zählen bis zu 40 Banden insgesamt rund 600 aktive Mitglieder. Rund zehn dieser Banden operieren in Tschetschenien, etwa 16 in Dagestan, zirka drei in Inguschetien, bis zu fünf in Kabardino-Balkarien sowie eine in Karatschajewo-Tscherkessien", heißt es in der Mitteilung.
(Ria Novosti: Russlands Innenministerium: 600 militante Extremisten im Nordkaukasus aktiv, 25.1.2013, http://de.rian.ru/politics/20130125/265394634-print.html, Zugriff 6.2.2013)
Gemäß dem Sondervertreter des Russischen Antiterrorismuskomitees (NAK) wurden 2012 bis Mitte Dezember rund 360 "Kämpfer" getötet, 99% davon im Nordkaukasus. Die Zahl der Terrorismusopfer ging ihm zufolge von 128 im Jahr 2011 auf 58 im Jahr 2012 zurück.
(RFE/RL: Russia's Counterterrorism Committee Lists Achievements, 14.12.2012,
http://www.rferl.org/content/russia-counterterrorism-committee-lists-achievements/ 24798867.html, Zugriff 6.2.2013)
INNERSTAATLICHE FLUCHTALTERNATIVE
Allgemeines
Das Gesetz sieht die Bewegungsfreiheit im Land, Auslandsreisen, Emigration und Repatriierung vor. Jedoch schränkte die Regierung die Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes und Migration ein. Obwohl das Gesetz dem Bürger das Recht auf freie Wahl des Wohnorts einräumt, müssen alle Erwachsenen müssen behördlich ausgestellte Inlandpässe bei sich tragen, wenn sie im Land reisen, und müssen sich innerhalb eines bestimmten Zeitraumes nach ihrer Ankunft an einem neuen Ort bei den lokalen Behörden melden. Behörden verweigerten Personen ohne Inlandpass oder ordnungsgemäße Registrierung oft öffentliche Dienstleistungen. Viele regionale Regierungen schränkten das Recht durch Registrierungsbestimmungen, die stark an jene aus Sowjetzeiten erinnerten, ein. Dunkelhäutige Personen aus dem Kaukasus oder afrikanischen oder asiatischen Ursprungs wurden oft für Dokumentenkontrollen herausgegriffen. Es gab glaubhafte Berichte, dass die Polizei unregistrierten Personen willkürlich Geldstrafen auferlegten, die über die gesetzlichen Vorgaben hinausgingen, oder Bestechungsgelder verlangten.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2011 - Russia, 24.5.2012)
Die Regierung erlegt der Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit einige Einschränkungen auf. Erwachsene müssen ihren Inlandsreisepass bei Reisen mitführen, und benötigen ihn, um viele staatliche Leistungen zu erhalten. Einige regionale Behörden haben Registrierungsvorschriften, die das Recht der Bürger ihren Wohnort frei zu wählen einschränken. In der Mehrheit der Fälle wird hier auf ethnische Minderheiten und Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien abgezielt.
(Freedom House: Freedom in the World 2013 - Russia, Jänner 2013)
Ein Aufenthaltsort ist ein Ort, wo sich ein Bürger eine begrenzte Zeit aufhält - z.B. Hotel, ein Sanatorium, Campingplatz, Krankenhaus, oder andere ähnliche Einrichtungen und auch eine Wohnräumlichkeit, die keinen Wohnort des Bürgers darstellt. Ein Wohnort ist die Stelle, wo der Bürger ständig oder vorwiegend wohnhaft ist und zwar als Eigentümer oder aufgrund eines Miet- oder Untermietvertrages, oder in einer sozial zugewiesenen Wohnung oder aufgrund anderer Grundlagen, die durch die Gesetzgebung der Russischen Föderation vorgesehen sind: ein Wohnhaus, spezielle Objekte wie Heim, Wohnung, Dienst-Wohnraum, Hotel-Zufluchtsstätte, Ersatzwohnung des Ersatzwohnungsfonds [wortwörtlich Manövrierungsfond - Anmerkung der Übersetzerin], spezielle Einrichtung für alleinstehende und alte Personen, Internatshaus für Behinderte, Veteranen oder andere und eine andere Wohnräumlichkeit.
Die Bürger sind verpflichtet, sich am Aufenthaltsort und Wohnort bei den Meldebehörden zu melden und bestimmte Bestimmungen zu beachten. Die Kontrolle der Einhaltung dieser Bestimmungen durch die Bürger und Amtspersonen übernimmt der Föderale Migrationsdienst, seine territorialen Behörden und die Behörden für innere Angelegenheiten. Die für die Durchführung der Registrierung notwendigen Dokumente, die die Identität der Bürger der Russischen Föderation bestätigen (in Folge Identitätsdokumente) sind: Pass des Bürgers der Russischen Föderation, der die Identität des Bürgers der Russischen Föderation auf dem Territorium der Russischen Föderation bestätigt; Pass eines Bürgers der UdSSR, der die Identität des Bürgers der Russischen Föderation bis zu seinem Umtausch in den Pass des Bürgers der Russischen Föderation in der festgelegten Frist bestätigt; Geburtsurkunde für Personen, die jünger als 14 Jahre alt sind; Pass, der die Identität eines Bürgers der Russischen Föderation bestätigt für Personen, die ständig außerhalb der Russischen Föderation wohnen.
Registrierung am Aufenthaltsort
Bürger die einen vorübergehenden Aufenthalt in einem Wohngebiet außerhalb ihres Wohnortes für einen Zeitraum von über 90 Tagen beziehen, haben sich nach Ablauf der genannten Frist an die für die Registrierung zuständigen Amtspersonen zu wenden und folgende Dokumente vorzuweisen:
-
Ausweis;
-
einen Antrag auf die Registrierung für den Aufenthaltsort in der festgelegten Form [auch im Sinne von Vordruck - Anmerkung der Übersetzerin];
-
ein Dokument, das die Grundlage für die befristete Aufenthaltserlaubnis eines Bürgers in diesem Wohngebiet ist (Mietvertrag (Untermietvertrag), Mietvertrag bezüglich einer auf sozialem Wege zur Verfügung gestellten Wohnung oder eine Erklärung der Person, die dem jeweiligen Bürger eine Wohnung vermietet).
Die für die Registrierung zuständigen Amtspersonen, sowie Bürger und juristischen Personen, die eine, ihnen aufgrund des Eigentumsrechts gehörende, Räumlichkeit zu Wohnzwecken übergeben, haben binnen 3 Tagen, nachdem sich die Bürger an sie gewandt haben, diese Dokumente an die Meldebehörden zu übergeben.
Die Registrierungsbehörden haben binnen 3 Tagen ab dem Zeitpunkt des Erhaltes der Dokumente, die Bürger gemäß der festgelegten Ordnung am Aufenthaltsort in Wohnräumlichkeit, anzumelden, die kein ständiger Wohnort ist und eine Bescheinigung der Registrierung für den Aufenthaltsort auszustellen.
Die Registrierung der Bürger am Aufenthaltsort erfolgt ohne, dass die Bürger am Wohnort abgemeldet werden.
Registrierung am Wohnort
Ein Bürger, der seinen Wohnort wechselt, ist verpflichtet, sich spätestens binnen 7 Tagen nach seiner Ankunft an dem neuen Wohnort an Amtspersonen zu wenden, die für die Registrierung zuständig sind.
Dabei sind folgende Dokumente vorzulegen:
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Identitätsdokument;
-
Antrag auf die Registrierung am Wohnort in einer festgelegten Form [auch im Sinne eines Formulars - Anmerkung der Übersetzerin];
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ein Dokument, das aufgrund der Wohngesetzgebung der Russischen Föderation eine Basis für die Einquartierung in die Wohnräumlichkeit bildet. Falls keine Wohnnutzungsorganisation bei der Einquartierung in die Wohnräumlichkeiten, die aufgrund des Eigentumsrechts Bürgern oder juristischen Personen gehören, involviert ist, werden die Dokumente diesen Bürgern oder dem Vertreter der juristischen Person vorgelegt, der für die Kontrolle der Nutzung der Wohnräumlichkeiten zuständig ist.
Die für die Registrierung zuständigen Amtspersonen und die Bürger und die juristischen Personen, die eine ihnen aufgrund des Eigentumsrechts gehörende Wohnräumlichkeit zur Verfügung stellen, übergeben binnen 3 Tagen nach der Meldung der Bürger diese Dokumente zusammen mit den Adressenblättern bezüglich der Ankunft und den Formularen für statistische Zwecke an die Meldebehörde.
Die Meldebehörden registrieren die Bürger am Wohnort binnen einer Frist von 3 Tagen ab dem Erhalt der Dokumente und führen einen entsprechenden Vermerk über die Registrierung über den Wohnort in den Pass ein. Den Bürgern, deren Registrierung aufgrund von anderen identitätsbestätigenden Dokumenten erfolgt ist, wird eine Bescheinigung bezüglich der Registrierung über den Wohnort ausgestellt.
Die Abmeldung eines Bürgers vom Melderegister am Wohnort erfolgt durch die Registrierungsbehörden in folgenden Fällen:
a) Änderung des Wohnortes aufgrund eines Antrages des Bürgers auf Registrierung am neuen Wohnort oder seines Antrages über seine Abmeldung vom Melderegister am Wohnort. Wenn sich der Bürger am vorherigen Wohnort nicht vom Melderegister abgemeldet hat, ist die Meldebehörde verpflichtet, bei der Registrierung am neuen Wohnort, binnen 3 Tagen eine entsprechende Benachrichtigung an die Meldebehörde am vorherigen Wohnort des Bürgers zu schicken, damit dieser vom Melderegister gelöscht wird;
b) Im Falle der Einberufung in die Armee - aufgrund der Mitteilung des Wehrkommandos;
c) Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe - aufgrund eines rechtskräftigen Gerichtsurteils;
d) Im Todesfall, oder im Falle einer Erklärung als tot durch ein Gericht - aufgrund der Sterbeurkunde, die in der durch das Gesetz festgelegten Ordnung, ausgestellt wurde.
e) Im Falle der Aussiedlung aus der bezogenen Wohnräumlichkeit oder wenn das Recht zur Benützung einer Räumlichkeit als erloschen erklärt wird - aufgrund eines rechtskräftigen Gerichtsurteils;
f) Wenn nicht übereinstimmende, ungültige Mitteilungen oder Dokumente entdeckt werden, die als Grundlage für die Registrierung gegolten haben und auch, wenn es zu unrechtsmäßigen Handlungen der Amtspersonen bei der Registrierung gekommen ist - aufgrund eines rechtskräftigen Gerichtsurteils.
(Regierung der Russischen Föderation: Beschluss vom 17. Juli 1995 N
713 - Über die Regelung der Registrierung und Abmeldung von Bürgern
der Russischen Föderation an ihrem Wohn- und Aufenthaltsort innerhalb der Russischen Föderation und die Auflistung der für die Registrierung zuständigen Ämter)
Mit dem Föderationsgesetz von 1993 wurde ein Registrierungssystem geschaffen, nach dem Bürger den örtlichen Stellen des Innenministeriums ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort und ihren Wohnsitz melden müssen. Voraussetzung für eine Registrierung ist die Vorlage des Inlandspasses (ein von russischen Auslandsvertretungen in Deutschland ausgestelltes Passersatzpapier reicht nicht aus) und nachweisbarer Wohnraum. Nur wer eine Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen. Kaukasier haben jedoch größere Probleme als Neuankömmlinge anderer Nationalität, überhaupt einen Vermieter zu finden.
Es ist grundsätzlich möglich, von und nach Tschetschenien ein- und auszureisen und sich innerhalb der Republik zu bewegen. An den Grenzen zu den russischen Nachbarrepubliken befinden sich jedoch nach wie vor Kontrollposten, die gewöhnlich eine nicht staatlich festgelegte "Ein- bzw. Ausreisegebühr" erheben.
(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Juni 2012, 6.7.2012)
RECHTSSCHUTZ
Justiz
Das Gesetz sieht die Unabhängigkeit der Justiz vor. Jedoch waren Richter dem Einfluss von Exekutive, Militär und anderen Sicherheitskräften ausgesetzt, vor allem in politisch sensiblen Fällen oder solchen mit großer Öffentlichkeitswirkung. Gesetzlich ist für Haftbefehle, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und Festnahmen ein richterlicher Beschluss nötig. Dies wurde meistens eingehalten, wenngleich dieser Vorgang gelegentlich von Bestechung oder politischer Druckausübung unterminiert wurde.
Der Ombudsmann für Menschenrechte gab an, dass etwas mehr als die Hälfte der bei ihm einlangenden Beschwerden in Zusammenhang mit Grund-/Persönlichkeitsrechten stehen, hiervon standen 64,9% in Zusammenhang mit der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren.
Verfahren werden üblicherweise vor einem Richter ohne Jury geführt. Der Angeklagte gilt als unschuldig. Das Gesetz sieht für einige Verbrechen in höheren regionalen Gerichten auch Geschworenengerichte vor. Bestimmte Verbrechen, darunter Terrorismus, Spionage und Geiselnahme, müssen von aus drei Richtern bestehenden Ausschüssen verhandelt werden. Nur ein kleiner Anteil aller Strafrechtsfälle wird vor Jurys verhandelt (600-700 pro Jahr). Während Richter rund 1% der Angeklagten freisprechen, erklären Jurys rund 20% der Angeklagten für unschuldig. Es besteht die Möglichkeit, gegen Freisprüche Einspruch zu erheben.
Während eines Verfahrens muss die Verteidigung keine Beweise vorlegen und kann Zeugen ins Kreuzverhör nehmen und Zeugen der Verteidigung aufrufen. Angeklagte haben das Recht, Beschwerde einzulegen. Vor der Verhandlung wird Angeklagten eine Kopie der Anklage zur Verfügung gestellt. Das Gesetz sieht die kostenlose Ernennung eines Anwalts vor, wenn sich der Verdächtige keinen leisten kann. Jedoch waren Angeklagte mit niedrigem Einkommen aufgrund der hohen Kosten fachkundiger Rechtsvertretung oft nicht kompetent vertreten, und in abgelegenen Teilen des Landes gibt es wenig qualifizierte Verteidiger. Verteidiger haben das Recht, ihre Klienten zu besuchen, aber einige gaben an, dass ihre Gespräche elektronisch überwacht wurden und die Gefängnisbehörden ihnen den Zugang manchmal nicht gewähren.
(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2011 - Russia, 24.5.2012)
Trotz anhaltender Bemühungen, die Effektivität und Unabhängigkeit der Justiz zu verbessern, gab es 2011 zahlreiche Berichte über unfaire Verfahren, in denen dem Vernehmen nach politische Einflussnahme und Korruption sowie Absprachen zwischen Richtern, Staatsanwälten und Polizei eine Rolle spielten.
(Amnesty International: Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights, 24.5.2012)
Als nach wie vor problematisch gelten die Defizite von Justiz und Gerichtswesen, die häufig der Einflussnahme durch politische Macht und Interessengruppen unterliegen. Nicht selten werden Kritiker oder anderweitig unliebsame Personen mit Gerichtsverfahren überzogen, wo sie nicht auf einen fairen Prozess vertrauen können.
Die Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis diskriminiert zunächst grundsätzlich nicht nach Merkmalen wie Rasse, Religion oder Nationalität. Die Strafen in der Russischen Föderation sind generell erheblich höher als für vergleichbare Delikte in Deutschland, besonders im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität; im März 2011 wurde aber bei 68 geringfügigen Delikten Freiheitsentzug als höchste Strafandrohung durch Geldstrafe oder gemeinnützige Arbeiten ersetzt. Auch wurde das Strafprozessrecht 2011 dahingehend geändert, dass Angeklagte für Wirtschaftsdelikte bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr in Untersuchungshaft genommen werden sollen. In der Praxis werden die neuen Regeln jedoch bisher nur begrenzt angewendet. Bemerkenswert ist die unverändert extrem hohe Verurteilungsquote im Strafprozess.
Immer wieder legen einzelne Strafprozesse in Russland den Schluss nahe, dass politische Gründe hinter der Verfolgung stehen.
Menschenrechtsorganisationen berichten glaubwürdig über Strafprozesse auf der Grundlage fingierten Materials gegen angebliche Terroristen aus dem Nordkaukasus, insbesondere Tschetschenen, die aufgrund von unter Folter erlangten Geständnissen oder gefälschter Beweise zu hohen Haftstrafen verurteilt worden seien.
Auffällig bleibt die geringe Zahl aufgeklärter Straftaten gegen Journalisten oder Kritiker bzw. der sehr schleppende Verlauf von Ermittlungen in solchen Fällen. Insgesamt ist die Unabhängigkeit von Ermittlungen und der Rechtsprechung nach wie vor nicht gewährleistet. Weiterhin mangelhaft ist die Umsetzung von Gerichtsurteilen. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte werden in Russland in der Sache häufig nicht umgesetzt, sondern nur in Bezug auf verhängte Entschädigungszahlungen.
(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Juni 2012, 6.7.2012)
Der Justiz mangelt es an Unabhängigkeit von der Exekutive, und berufliches Weiterkommen hängt faktisch von der Übereinstimmung mit den Einstellungen des Kremls ab. Das Justizsystem wurde durch politisch brisante Fälle beeinträchtigt, wie etwa den Fall von Mikhail Khodorkovsky. Die Strafprozessordnung ermöglicht Geschworenengerichte für schwere Verbrechen, diese werden in der Praxis aber nur selten eingesetzt. Jurys sprechen Angeklagte eher frei als Richter, diese werden aber oft von höheren Gerichten aufgehoben, die eine neuerliche Verhandlung verlangen können, bis das gewünschte Ergebnis erzielt wird. Seit 2008 gibt es bei Terrorismusfällen keine Geschworenengerichte mehr. Da russische Staatsbürger die heimischen Gerichte oft nicht als fair betrachten, wenden sie sich zunehmend an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Kritiker monieren, dass Russland bestehende Probleme im Strafjustizwesen nicht angehen, wie etwa die schlechten Haftbedingungen und die weit verbreitete Anwendung illegaler Festnahmen und Folter um Geständnisse zu erlangen. Im Oktober 2012 wurde ein Oppositionsaktivist scheinbar von russischen Behörden in der Ukraine entführt und nach Russland gebracht, wo er ein Geständnis zu unterzeichnen genötigt wurde. Russischen Behörden zufolge hatte er sich selbst gestellt.
50 bis 60 Personen kommen laut der Moscow Helsinki Group jährlich in Untersuchungsgewahrsam (SIZOs) ums Leben. In einigen Fällen wurde auch auf die aus Sowjetzeiten stammende Praxis der Bestrafung durch psychiatrische Behandlung zurückgegriffen.
(Freedom House: Freedom in the World 2013 - Russia, Jänner 2013)
Die russischen Gerichte sind laut Verfassung unabhängig; allerdings haben sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der russische Ombudsmann als auch russische NGOs wiederholt Missstände im russ