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82 GESUNDHEITSRECHTNorm
B-VG Art140 Abs1 / IndividualantragLeitsatz
Zurückweisung des Individualantrags auf Aufhebung einer Bestimmung des Patientenverfügungs-Gesetzes als zu engSpruch
Der Antrag wird zurückgewiesen.
Begründung
Begründung:
I. Vorbringen
1. Mit dem vorliegenden, auf Art140 B-VG gestützten Antrag wird begehrt, der Verfassungsgerichtshof möge
"§9 Patientenverfügungs-Gesetz, BGBl I Nr. 55/2006, zur Gänze als verfassungswidrig aufheben und den Bund zum Ersatz der Kosten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens [...] verpflichten."
2. Der Antragsteller errichtete eine Patientenverfügung mit folgendem Inhalt:
"Ich [...] lege Wert auf ein selbstbestimmtes Leben und ein selbstbestimmtes Sterben und ordne, nach reiflicher Überlegung und intensiver Auseinandersetzung mit den folgenden Inhalten, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte an:
I.
Wenn ich nach dem Stand der medizinischen
Wissenschaft und Erfahrung das Bewusstsein irreversibel eingebüßt habe oder wenn mein Gehirn irreversibel so schwer geschädigt ist, dass ich auf Reize nicht oder kaum mehr reagiere und daher nicht mehr in der Lage bin, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, dann will ich,
-
dass alle lebenserhaltenden therapeutischen
Maßnahmen unterlassen werden;
-
dass mir keine künstliche Ernährung verabreicht
wird, und zwar unabhängig von ihrer form (zB Magensonde durch den Mund, die Nase, die Bauchdecke oder venöse Zugänge);
-
dass die künstliche Flüssigkeitszufuhr nach
ärztlichem Ermessen reduziert wird;
-
dass keine künstliche Beatmung durchgeführt wird;
-
dass ich im Fall eines Herz-Kreislauf-Stillstandes nicht wiederbelebt werde;
-
dass mein Körper bis zu meinem Ableben fachgerecht gepflegt wird und ich menschenwürdig untergebracht werde.
II.
Liegen Krankheitsbilder vor, die sich von der
unter I. dieser Patientenverfügung geschilderten Krankheitsbildern unterscheiden, dann wünsche ich mir, dass mein natürlicher Wille und meine individuellen Bedürfnisse auch nach irreversiblem Verlust der Einwilligungsfähigkeit seitens der Ärzte und des Pflegepersonals angemessen Berücksichtigung finden. Daher sollen beispielsweise alle medizinischen Möglichkeiten zur Schmerz- und Symptomkontrolle ausgeschöpft werden. Erzielen die Mittel der Schmerz- und Symptomkontrolle dennoch nicht den erwünschten Erfolg, dann sollen mir Anästhetika verabreicht werden. Ich nehme eine durch die Verabreichung von Analgetika oder Anästhetika unter Umständen verursachte Verkürzung meiner Lebenszeit ausdrücklich in Kauf."
3. Zur Begründung seiner Antragslegitimation führt der Antragsteller im Wesentlichen Folgendes aus:
3.1. Der Antragsteller habe - mangels Erfüllung der für die Errichtung einer verbindlichen Patientenverfügung im Patientenverfügungs-Gesetz (PatVG), BGBl. I 55/2006, geforderten Formvorschriften - eine beachtliche Patientenverfügung errichtet, deren inhaltliche und formale Voraussetzungen insbesondere auch in §9 PatVG geregelt seien. In diesem Sinne sei er Normadressat der Bestimmung. Da es sich bei der Patientenverfügung des Antragstellers - mangels Erfüllung der Erfordernisse einer verbindlichen Patientenverfügung - lediglich um eine beachtliche Patientenverfügung handle, sei es nicht gesichert, dass der Antragsteller gegen seinen Willen keinen medizinischen Eingriffen unterzogen werde, weshalb die bekämpfte Bestimmung einen Eingriff in sein durch Art8 Abs1 EMRK garantiertes Recht auf Selbstbestimmung darstelle.
3.2. Die bekämpfte Bestimmung sei auch unmittelbar auf den Normadressaten als Verfasser einer beachtlichen Patientenverfügung anwendbar.
3.3. Da der Antragsteller eine Patientenverfügung errichtet habe, sei der Eingriff in seine Rechtssphäre aktueller Natur. Es könne jederzeit eine Situation eintreten, in welcher der Patientenverfügung ihrer Funktion nach Relevanz zukommen solle. Es sei für den Antragsteller aber nicht gesichert, dass die Patientenverfügung in dieser Situation tatsächlich beachtet werde.
3.4. Es bestehe auch keine Möglichkeit, ein Verfahren zu provozieren, in dem die bekämpfte Norm präjudiziell sei. Fallkonstellationen, in denen das Pflegschaftsgericht zur Entscheidung über die Beachtlichkeit einer Patientenverfügung angerufen werden könne, wären erst dann denkbar, wenn der Antragsteller nicht mehr äußerungsfähig wäre.
3.5. Der Antragsteller bekämpft die Bestimmung des §9 PatVG in ihrer Gesamtheit, da sich die geltend gemachten Bedenken auf die gesamte Norm bezögen und eine Trennung verfassungskonformer und verfassungswidriger Inhalte nicht möglich sei. Mit der Aufhebung der Norm könne die angestrebte Bereinigungswirkung erzielt werden, da die Bestimmung des §8 PatVG dann in Geltung bliebe, die dann auch jenen Patientenverfügungen, welche die formalen Kriterien der §§4 bis 7 PatVG nicht erfüllten, Beachtlichkeit beimesse, ohne dass diese Beachtlichkeit - wie das derzeit durch §9 PatVG der Fall ist - eingeschränkt werde.
4. In der Sache hegt der Antragsteller gegen die angefochtene Bestimmung Bedenken insbesondere im Hinblick auf das Recht auf Privat- und Familienleben des Art8 EMRK, das Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und das Bestimmtheitsgebot des Art18 B-VG.
5. Die Bundesregierung hat fristgerecht Äußerungen zum Antrag erstattet.
5.1. Die Bundesregierung bestreitet zunächst das Vorliegen der Prozessvoraussetzungen und beantragt, den Antrag als unzulässig zurückzuweisen. Im Einzelnen begründet sie ihre Bedenken zur Zulässigkeit des Antrags wie folgt:
5.1.1. Die Bundesregierung bringt vor, dass der Anfechtungsumfang vom Antragsteller nicht richtig abgegrenzt sei. Die vom Antragsteller angenommene Rechtswidrigkeit würde durch die Aufhebung des §9 PatVG nicht nur nicht beseitigt, sondern sogar verstärkt werden; es bliebe dann nämlich nur §8 PatVG als Vorschrift über die "beachtliche Patientenverfügung" in Geltung. Aus der Differenzierung von "verbindlichen" und "beachtlichen" Verfügungen sei noch nicht zu schließen, dass der beachtlichen Patientenverfügung zwingend eine geringere Bindungskraft zukäme. Der Grad der bloßen "Beachtlichkeit" einer Patientenverfügung könne so stark werden, dass ihre Bindungswirkung jener einer verbindlichen Verfügung überhaupt nicht nachstehe. Sobald der "hypothetische Wille", zu dessen Ermittlung die beachtliche Verfügung diene, einmal festgestellt sei, binde er den Arzt rechtlich ebenso wie ein aktuell erklärter Wille oder der in eine verbindliche Verfügung gekleidete Wille. Diese Auslegung des Begriffes "Beachtlichkeit" ergebe sich aus §9 PatVG. Würde diese Bestimmung aufgehoben, würde damit auch der "beweglichen" Einordnung der beachtlichen Patientenverfügung der Boden entzogen und die behauptete Verfassungswidrigkeit, nämlich die Nichtbeachtung oder die nicht korrekte Beachtung eines Patientenwillens, würde nicht beseitigt werden.
5.1.2. Soweit der Antrag eine Verletzung des Verbots der eigenmächtigen Heilbehandlung unter Verweis auf die einfachgesetzliche Bestimmung des §110 StGB behaupte, werde damit keine im Verfahren nach Art140 B-VG relevierbare Rechtsverletzung geltend gemacht.
5.2. Die Bundesregierung tritt ferner dem Antragsvorbringen in der Sache entgegen und beantragt in eventu, den Antrag abzuweisen.
II. Rechtslage
Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes über Patientenverfügungen (Patientenverfügungs-Gesetz - PatVG), BGBl. I 55/2006, lauten wie folgt:
"1. Abschnitt
Allgemeine Bestimmungen
Anwendungsbereich
§1. (1) Dieses Bundesgesetz regelt die Voraussetzungen und die Wirksamkeit von Patientenverfügungen.
(2) Eine Patientenverfügung kann verbindlich oder für die Ermittlung des Patientenwillens beachtlich sein.
Begriffe
§2. (1) Eine Patientenverfügung im Sinn dieses Bundesgesetzes ist eine Willenserklärung, mit der ein Patient eine medizinische Behandlung ablehnt und die dann wirksam werden soll, wenn er im Zeitpunkt der Behandlung nicht einsichts-, urteils- oder äußerungsfähig ist.
(2) Ein Patient im Sinn dieses Bundesgesetzes ist
eine Person, die eine Patientenverfügung errichtet, gleichgültig, ob sie im Zeitpunkt der Errichtung erkrankt ist oder nicht.
Höchstpersönliches Recht, Fähigkeit der Person
§3. Eine Patientenverfügung kann nur höchstpersönlich errichtet werden. Der Patient muss bei Errichtung einer Patientenverfügung einsichts- und urteilsfähig sein.
2. Abschnitt
Verbindliche Patientenverfügung
Inhalt
§4. In einer verbindlichen Patientenverfügung müssen die medizinischen Behandlungen, die Gegenstand der Ablehnung sind, konkret beschrieben sein oder eindeutig aus dem Gesamtzusammenhang der Verfügung hervorgehen. Aus der Patientenverfügung muss zudem hervorgehen, dass der Patient die Folgen der Patientenverfügung zutreffend einschätzt.
Aufklärung
§5. Der Errichtung einer verbindlichen Patientenverfügung muss eine umfassende ärztliche Aufklärung einschließlich einer Information über Wesen und Folgen der Patientenverfügung für die medizinische Behandlung vorangehen. Der aufklärende Arzt hat die Vornahme der Aufklärung und das Vorliegen der Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Patienten unter Angabe seines Namens und seiner Anschrift durch eigenhändige Unterschrift zu dokumentieren und dabei auch darzulegen, dass und aus welchen Gründen der Patient die Folgen der Patientenverfügung zutreffend einschätzt, etwa weil sie sich auf eine Behandlung bezieht, die mit einer früheren oder aktuellen Krankheit des Patienten oder eines nahen Angehörigen zusammenhängt.
Errichtung
§6. (1) Eine Patientenverfügung ist verbindlich, wenn sie schriftlich unter Angabe des Datums vor einem Rechtsanwalt, einem Notar oder einem rechtskundigen Mitarbeiter der Patientenvertretungen (§11e Kranken- und Kuranstaltengesetz, BGBl. Nr. 1/1957) errichtet worden ist und der Patient über die Folgen der Patientenverfügung sowie die Möglichkeit des jederzeitigen Widerrufs belehrt worden ist.
(2) Der Rechtsanwalt, Notar oder rechtskundige Mitarbeiter der Patientenvertretungen hat die Vornahme dieser Belehrung in der Patientenverfügung unter Angabe seines Namens und seiner Anschrift durch eigenhändige Unterschrift zu dokumentieren.
Erneuerung
§7. (1) Eine Patientenverfügung verliert nach Ablauf von fünf Jahren ab der Errichtung ihre Verbindlichkeit, sofern der Patient nicht eine kürzere Frist bestimmt hat. Sie kann unter Einhaltung der Formerfordernisse des §6 nach entsprechender ärztlicher Aufklärung erneuert werden; damit beginnt die Frist von fünf Jahren neu zu laufen.
(2) Einer Erneuerung ist es gleichzuhalten, wenn
einzelne Inhalte der Patientenverfügung nachträglich geändert werden. Dabei sind die Bestimmungen über die Errichtung einer verbindlichen Patientenverfügung entsprechend anzuwenden. Mit jeder nachträglichen Änderung beginnt die in Abs1 genannte Frist für die gesamte Patientenverfügung neu zu laufen.
(3) Eine Patientenverfügung verliert nicht ihre Verbindlichkeit, solange sie der Patient mangels Einsichts-, Urteils- oder Äußerungsfähigkeit nicht erneuern kann.
3. Abschnitt
Beachtliche Patientenverfügung
Voraussetzungen
§8. Eine Patientenverfügung, die nicht alle Voraussetzungen der §§4 bis 7 erfüllt, ist dennoch für die Ermittlung des Willens des Patienten beachtlich.
Beachtung der Patientenverfügung
§9. Eine beachtliche Patientenverfügung ist bei der Ermittlung des Patientenwillens umso mehr zu beachten, je eher sie die Voraussetzungen einer verbindlichen Patientenverfügung erfüllt. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, inwieweit der Patient die Krankheitssituation, auf die sich die Patientenverfügung bezieht, sowie deren Folgen im Errichtungszeitpunkt einschätzen konnte, wie konkret die medizinischen Behandlungen, die Gegenstand der Ablehnung sind, beschrieben sind, wie umfassend eine der Errichtung vorangegangene ärztliche Aufklärung war, inwieweit die Verfügung von den Formvorschriften für eine verbindliche Patientenverfügung abweicht, wie häufig die Patientenverfügung erneuert wurde und wie lange die letzte Erneuerung zurückliegt.
4. Abschnitt
Gemeinsame Bestimmungen
Unwirksamkeit
§10. (1) Eine Patientenverfügung ist unwirksam, wenn
1. sie nicht frei und ernstlich erklärt oder durch Irrtum, List, Täuschung oder physischen oder psychischen Zwang veranlasst wurde,
2. ihr Inhalt strafrechtlich nicht zulässig ist oder
3. der Stand der medizinischen Wissenschaft sich im Hinblick auf den Inhalt der
Patientenverfügung seit ihrer Errichtung wesentlich geändert hat.
(2) Eine Patientenverfügung verliert ihre
Wirksamkeit, wenn sie der Patient selbst widerruft oder zu erkennen gibt, dass sie nicht mehr wirksam sein soll.
[...]
Notfälle
§12. Dieses Bundesgesetz lässt medizinische Notfallversorgung unberührt, sofern der mit der Suche nach einer Patientenverfügung verbundene Zeitaufwand das Leben oder die Gesundheit des Patienten ernstlich gefährdet."
III. Zulässigkeit
Der Antrag erweist sich aus folgendem Grund als unzulässig:
1. Der Umfang der zu prüfenden und im Falle ihrer Rechtswidrigkeit aufzuhebenden Bestimmung ist derart abzugrenzen, dass einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden wird, als Voraussetzung für den Anlassfall ist, andererseits aber der verbleibende Teil keine Veränderung seiner Bedeutung erfahren soll (vgl. VfSlg. 8155/1977). Es ist dabei in jedem Einzelfall abzuwägen, welchem dieser Ziele der Vorrang gebührt (VfSlg. 7376/1974, 7786/1976, 13.701/1994). Die Grenzen einer (möglichen) Aufhebung müssen so gezogen werden, dass der verbleibende Gesetzesteil keinen völlig veränderten Inhalt bekommt, aber auch die mit der aufzuhebenden Gesetzesbestimmung in einem untrennbaren Zusammenhang stehenden Bestimmungen erfasst werden
(VfSlg. 13.965/1994 mwN, 16.542/2002, 16.911/2003).
2. Auf dieser Grundlage geht der Verfassungsgerichtshof davon aus, dass im Gesetzesprüfungsverfahren der Anfechtungsumfang der in Prüfung gezogenen Regelung bei sonstiger Unzulässigkeit des Prüfungsantrages nicht zu eng gewählt werden darf (vgl. zB VfSlg. 8155/1977, 12.235/1989, 13.915/1994, 14.131/1995, 14.1498/1996, 14.890/1997, 16.212/2002, 16.869/2003).
3. Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung erweist sich der auf Aufhebung der Bestimmung des §9 PatVG gerichtete Antrag als zu eng: §9 PatVG regelt nur die Voraussetzungen einer beachtlichen Patientenverfügung. Der Antragsteller macht jedoch geltend, dass die rechtlichen Voraussetzungen für eine verbindliche Patientenverfügung in verfassungswidriger Weise zu streng gefasst seien. Damit aber richten sich seine Bedenken nicht gegen §9 PatVG, sondern vielmehr gegen die Regelungen der §§4 bis 7 PatVG.
4. Das Ziel des Antragstellers, nämlich dass die von ihm errichtete Patientenverfügung verbindlich sein soll, würde selbst im Fall einer Aufhebung des §9 PatVG nicht erreicht. Vielmehr bliebe die Rechtslage für ihn im Wesentlichen unverändert, weil seine Patientenverfügung gemäß der ausdrücklichen Anordnung des §8 PatVG weiterhin (bloß) beachtlich wäre.
IV. Ergebnis
1. Der Antrag ist daher zurückzuweisen, ohne dass
darauf einzugehen ist, ob die übrigen Prozessvoraussetzungen vorliegen.
2. Der vom Antragsteller begehrte Kostenersatz ist nicht zuzusprechen, da Prozesskostenersatzansprüche in Verfahren gemäß Art140 B-VG nur für obsiegende Antragsteller vorgesehen sind (§61a VfGG; vgl. zu Verfahren nach Art139 B-VG zB VfSlg. 16.017/2000, 16.397/2001, 16.567/2002).
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
VfGH / Individualantrag, Gesundheitswesen, Patientenverfügung, VfGH / PrüfungsumfangEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2013:G45.2012Zuletzt aktualisiert am
28.03.2013