TE AsylGH Erkenntnis 2013/05/02 D20 300128-1/2011

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Veröffentlicht am 02.05.2013
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Spruch

D20 300128-1/2011/24E

 

D20 307779-1/2011/27E

 

D20 307778-1/2011/22E

 

D20 426616-1/2012/7E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

1.) Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Vorsitzende und den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX, Staatsangehörigkeit:

Russische Föderation, vom 20.03.2006 gegen Spruchpunkt III. des Bescheides des Bundesasylamtes vom 07.03.2006, Zl. 05 20.307-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.03.2013 zu Recht erkannt:

 

Die Ausweisung von XXXX aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ist gemäß § 10 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 in Verbindung mit § 10 Abs. 5 AsylG 2005 auf Dauer unzulässig.

 

2.) Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Vorsitzende und den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX, Staatsangehörigkeit:

Russische Föderation, vom 21.11.2006 gegen Spruchpunkt III. des Bescheides des Bundesasylamtes vom 09.11.2006, Zl. 06 08.953-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.03.2012 zu Recht erkannt:

 

Die Ausweisung von XXXX aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ist gemäß § 10 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 in Verbindung mit § 10 Abs. 5 AsylG 2005 auf Dauer unzulässig.

 

3.) Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Vorsitzende und den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX, Staatsangehörigkeit:

Russische Föderation, vom 21.11.2006 gegen Spruchpunkt III. des Bescheides des Bundesasylamtes vom 09.11.2006, Zl. 06 08.961-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.03.2013 zu Recht erkannt:

 

Die Ausweisung von XXXX aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ist gemäß § 10 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 in Verbindung mit § 10 Abs. 5 AsylG 2005 auf Dauer unzulässig.

 

4.) Der Asylgerichtshof hat durch die Richterin Mag. Natascha GRUBER als Vorsitzende und den Richter Mag. Michael SCHWARZGRUBER als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX, Staatsangehörigkeit:

Russische Föderation, vom 08.05.2012 gegen Spruchpunkt III. des Bescheides des Bundesasylamtes vom 23.04.2012, Zl. 12 02.963-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.03.2013 zu Recht erkannt:

 

Die Ausweisung von XXXX aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ist gemäß § 10 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 in Verbindung mit § 10 Abs. 5 AsylG 2005 auf Dauer unzulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

 

I. Verfahrensgang:

 

Der Erstbeschwerdeführer stellte am 22.11.2005 einen Antrag auf Gewährung von Asyl in Österreich. Dabei gab er an, Staatsangehöriger der Russischen Föderation zu sein, der tschetschenischen Volksgruppe moslemischen Glaubensbekenntnisses anzugehören und aus Tschetschenien zu stammen. Im Rahmen der Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 30.11.2005 gab der Erstbeschwerdeführer an, gemeinsam mit seiner Familie Tschetschenien in Richtung Weißrussland verlassen zu haben. Da er nicht genügend Geld gehabt habe, habe der Erstbeschwerdeführer seine Familie in Brest zurückgelassen und sei alleine schlepperunterstützt weiter- und am 21.11.2005 illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Erstbeschwerdeführer an, dass er von russischen Militärbehörden gezielt gesucht werde. Er sei am 29.12.2003 bei einer Säuberungsaktion von maskierten russischen Soldaten verschleppt und in ein Militärgefängnis gebracht worden. Nach 28 Tagen der Misshandlung sei er nicht weit von dem Gefängnis aus einem Wagen geworfen worden. Er habe immer noch Narben am Kopf und auf beiden Füßen. Im Rahmen seiner Einvernahme vom 28.02.2006 gab der Erstbeschwerdeführer an, dass sein Haus zerstört worden sei und er sich am Widerstand beteiligt habe. Er sei von Dezember 1999 bis März 2000 Kämpfer gewesen. Danach habe er bis Mitte November 2005 bei Verwandten gewohnt. Im Dezember 2003 sei der Erstbeschwerdeführer im Haus seiner Verwandten von russischen Soldaten festgenommen und an einen ihm unbekannten Ort gebracht worden, wo er etwa 29 bis 30 Tage geblieben sei. Man habe von ihm wissen wollen, wo die Kämpfer und Waffen versteckt seien. Im Zeitraum von Jänner 2004 bis November 2005 hätten sich keine Vorfälle mehr ereignet.

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 07.03.2006, Zl. 05 20.307-BAT, wurde der Asylantrag des Erstbeschwerdeführers gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen (Spruchpunkt I.), seine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 1997 für zulässig erklärt (Spruchpunkt II.) sowie der Erstbeschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 2 AsylG 1997 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt III.).

 

Die gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 07.03.2006 rechtzeitig erhobene Berufung vom 20.03.2006 wurde - nach Durchführung einer Berufungsverhandlung - mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 18.05.2006, Zl. 300.128-C1/E1-XV/52/06, gemäß § 7 und § 8 Abs. 1 und 2 AsylG abgewiesen. Begründend traf der Unabhängige Bundesasylsenat Feststellungen zur Lage in Tschetschenien sowie zur Situation ethnischer Tschetschenen in anderen Teilen der Russischen Föderation und führte im Wesentlichen aus, dass das individuelle Fluchtvorbringen des Erstbeschwerdeführers, wonach er von russischen Sicherheitskräften verschleppt, misshandelt und rund einen Monat lang festgehalten worden sei und sein Name sich auf einer Fahndungsliste des Sicherheitsdienstes FSB befinde, aufgrund näher dargestellter Widersprüche in seinen Angaben nicht glaubwürdig sei. Weiters lägen auch keine Umstände vor, welche ein Refoulement des Beschwerdeführers in seinen Herkunftsstaat als unzulässig erscheinen ließen. Der Unabhängige Bundesasylsenat verwies auch darauf, dass der Erstbeschwerdeführer zudem in anderen Teilen der Russischen Föderation Aufenthalt nehmen könne, in welchen er keinen relevanten Gefährdungen ausgesetzt sei, etwa in den Verwaltungsbezirken Rostow oder Pskow. So lebten Verwandte des Erstbeschwerdeführers seit dem Jahr 1991 - wie viele Tschetschenen - im Verwaltungsbezirk Pskow. Seine Ehefrau und seine Tochter hätten von 1999 bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2005 im Verwaltungsbezirk Rostow gelebt, wo seine Ehefrau als Lehrerin arbeiten und seine Tochter einen Kindergarten besuchen hätten können. In diesem Verwaltungsbezirk lebten etwa 40.000 Tschetschenen.

 

Gegen diesen Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates wurde Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof erhoben, welcher mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 01.07.2006 die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde.

 

In weiterer Folge reiste die Zweitbeschwerdeführerin gemeinsam mit der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin illegal in das österreichische Bundesgebiet ein, und stellte für sich und die Drittbeschwerdeführerin jeweils am 27.08.2006 einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen der am selben Tag stattgefundenen Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die Zweitbeschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen an, dass bei ihnen noch immer keine Ruhe und Kriegszustände herrschen würden. Vor dem Bundesasylamt gab die Zweitbeschwerdeführerin am 07.09.2006 und am 18.10.2006 an, dass sie nach Österreich gekommen sei, um bei ihrem Ehemann zu leben, sie habe keine eigenen Asylgründe. Im Falle einer Rückkehr könnte sie von den Verfolgern ihres Ehemannes nach ihm gefragt werden. Ihr Ehemann sei Ende Dezember 2003 festgenommen und ca. einen Monat lang angehalten worden.

 

Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 09.11.2006, Zl. 06 08.953-BAT und 06 08.961-BAT, wurden auch die Anträge der Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkte I.), ihnen gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt (Spruchpunkte II.) sowie die Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Russland ausgewiesen (Spruchpunkte III.).

 

Die gegen die Bescheide des Bundesasylamtes vom 09.11.2006 rechtzeitig erhobenen Berufungen vom 21.11.2006 wurden - nach Durchführung einer Berufungsverhandlung - mit Bescheiden des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 01.10.2007, Zl. 307.779-C1/8E-XV/52/06 und 307.778-C1/7E-XV/52/06, gemäß §§ 3, 8, 10 AsylG 2005 abgewiesen. Auch gegen diese Bescheide des Unabhängigen Bundesasylsenates wurden Beschwerden an den Verwaltungsgerichtshof erhoben, welchen jeweils mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 06.12.2007 die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde.

 

Mit den Erstbeschwerdeführer betreffenden Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 13.12.2010, Zl. 2008/23/0976-10, wurde der Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 18.05.2006 insoweit, als damit die Berufung des Erstbeschwerdeführers gegen den erstinstanzlichen Bescheid gemäß § 8 Abs. 1 und 2 AsylG 1997 (Refoulemententscheidung und Ausweisung) abgewiesen wurde, wegen Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben. Weiters wurde der Beschluss gefasst, im Übrigen (Abweisung der Berufung im Asylteil gemäß § 7 AsylG 1997) die Behandlung der Beschwerde abzulehnen.

 

Der Verwaltungsgerichtshof führte zur Frage der Zulässigerklärung der Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Tschetschenien in seinen Entscheidungsgründen aus, dass sich der Unabhängige Bundesasylsenat ins seinem Bescheid darauf beschränkt habe, anzumerken, es lägen keine Umstände vor, welche ein Refoulement in den Herkunftsstaat (und damit auch nach Tschetschenien) unzulässig erscheinen ließen. Wie der Unabhängige Bundesasylsenat angesichts der im Erkenntnis wiedergegebenen Feststellungen, wonach in Tschetschenien die Sicherheit der Zivilbevölkerung nicht gewährleistet, ein Ende der Gewalt nicht absehbar, die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln äußerst mangelhaft, das Gesundheitssystem nahezu vollständig zusammengebrochen und die medizinische Versorgung völlig unzureichend sei, annehmen habe können, damit die Vereinbarkeit einer Abschiebung des Erstbeschwerdeführers nach Tschetschenien mit Art. 3 EMRK begründet zu haben, sei nicht nachvollziehbar.

 

Der Unabhängige Bundesasylsenat sei auch vom Bestehen einer innerstaatlichen Ausweichmöglichkeit für den Erstbeschwerdeführer in andere Teile der Russischen Föderation ausgegangen und habe seine Schlussfolgerung, der Erstbeschwerdeführer könne in anderen Teilen der Russischen Föderation Aufenthalt nehmen ausschließlich darauf gestützt, dass ein solcher Aufenthalt der Ehefrau und der Tochter des Erstbeschwerdeführers von 1999 bis 2005 im Verwaltungsbezirk Rostow sowie anderen Verwandten seit 1991 im Verwaltungsbezirk Pskow möglich (gewesen) sei, und dass in diesen Gebieten der Russischen Föderation jeweils zahlreiche Tschetschenen lebten. Daraus hätte aber für sich genommen auf das Bestehen eines ausreichenden familiären Netzes nicht fehlerfrei geschlossen werden können, weil die Ehefrau und Tochter des Erstbeschwerdeführers sich zum Zeitpunkt der Entscheidung der belangten Behörde ebenfalls bereits außerhalb der Russischen Föderation befunden hätten - er in Rostow also über keine familiären Anknüpfungspunkte (mehr) verfüge - und zu weiteren, noch in der Russischen Föderation wohnhaften Verwandten des Erstbeschwerdeführers nähere Feststellungen zur Gänze fehlen würden. Der Erstbeschwerdeführer habe auf diese im Asylverfahren nur insofern Bezug genommen, als er vor dem Bundesasylamt angab, in Tschetschenien eine Zeit lang im Haus von Verwandten gelebt zu haben, die seit dem Jahr 1991 im Gebiet Pskow in Russland wohnten. Allein daraus könne nicht abgeleitet werden, dass der Erstbeschwerdeführer aufgrund dieser - nicht näher dargestellten - verwandtschaftlichen Beziehungen nunmehr im Verwaltungsbezirk Pskow über ein ausreichendes soziales Netz verfüge.

 

Mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 18.02.2011, Zl. 2011/01/0051 bis 0052-8, wurden die Bescheide des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 01.10.2007 insoweit, als damit die Berufungen der Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen gegen die erstinstanzlichen Bescheide gemäß §§ 8 und 10 AsylG 2005 (Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und Ausweisung) abgewiesen wurden, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben. Weiters wurde der Beschluss gefasst, im Übrigen (Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz gemäß § 3 AsylG 2005) die Behandlung der Beschwerden abzulehnen.

 

In seinen Entscheidungsgründen führt der Verwaltungsgerichtshof aus, dass mit Erkenntnis vom 13. Dezember 2010, Zl. 2008/23/0976, der Bescheid der belangten Behörde vom 18. Mai 2006 betreffend den Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin bzw. Vater der Drittbeschwerdeführerin insoweit, als damit dessen Berufung gegen den erstinstanzlichen Bescheid gemäß § 8 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 1997 (Refoulemententscheidung und Ausweisung) abgewiesen worden sei, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben worden sei. Dieser Umstand schlage im Familienverfahren nach § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auf die Verfahren der Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen durch.

 

Am 08.03.2011 langte ein Schreiben des Erstbeschwerdeführers vom 12.01.2011 beim Asylgerichtshof ein, in welchem der Erstbeschwerdeführer ausführt, dass er 2005 gezwungen gewesen sei, seine Heimat wegen der Gefahr für sein Leben und seine Freiheit zu verlassen. Ebenso hätten seine Ehefrau und seine Tochter die Heimat wegen permanenter Angst sowie Verfolgungen verlassen müssen. Bei jeder Säuberungsaktion durch russische Spezialeinheiten sei auf sie - sogar auf seine kleine Tochter - psychischer Druck ausgeübt worden. Nach fünf Jahren Aufenthalt in Österreich sei der Flüchtlingsstatus der Familie des Erstbeschwerdeführers noch immer ungeklärt. Bis jetzt seien sie beunruhigt und besorgt. All das füge seiner Familie und ihm Leiden und psychische Traumata zu. Besonders leide seine Tochter, die in Österreich zur Schule gehe und verletzlicher sei, obwohl der Erstbeschwerdeführer und seine Ehefrau als Eltern versuchen würden, all das vor ihr zu verbergen. Die Beschwerdeführer hätten große Angst vor einer negativen Entscheidung und wäre die Rückführung in die Russische Föderation gleichbedeutend mit dem Tod. Die Beschwerdeführer würden sich mit aller Kraft anstrengen, ihre Familie zum Wohle der europäischen Gesellschaft in diese zu integrieren.

 

Mit Urteil des XXXX, wurde der Erstbeschwerdeführer gemäß § 223 Abs. 2 StGB zu einer Freiheitsstrafe im Ausmaß von einem Monat, bedingt für eine Probezeit von drei Jahren nachgesehen, rechtskräftig verurteilt.

 

Am 01.09.2011 langte ein Konvolut an Unterlagen betreffend die Beschwerdeführer, darunter ein psychotherapeutischer Behandlungsbericht der Zweitbeschwerdeführerin, eine Einstellungszusage für den Erstbeschwerdeführer sowie fünf Unterstützungsschreiben aus dem privaten Umfeld der Beschwerdeführer, beim Asylgerichtshof ein.

 

Am XXXX wurde die Viertbeschwerdeführerin in Österreich geboren, welche vertreten durch die Zweitbeschwerdeführerin am 12.03.2012 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Die Zweitbeschwerdeführerin gab vor dem Bundesasylamt am 05.04.2012 an, dass die Viertbeschwerdeführerin keine eigenen Fluchtgründe habe, sie sei aber in Tschetschenien der gleichen Gefährdung wie die Zweitbeschwerdeführerin ausgesetzt.

 

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.04.2012, Zl. 12 02.963-BAT, wurde auch der Antrag der Viertbeschwerdeführerin auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.) und die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen (Spruchpunkt III.). Dagegen wurde mit Schreiben vom 08.05.2012 fristgerecht die ebenfalls verfahrensgegenständliche Beschwerde an den Asylgerichtshof erhoben.

 

Mit Schreiben vom 15.02.2013 wurden die Beschwerdeführer sowie das Bundesasylamt zu einer mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 22.03.2013 unter gleichzeitiger Übermittlung der aktuellen Länderberichte zur Lage in der Russischen Föderation, insbesondere Tschetschenien, geladen.

 

Am 22.03.2013 fand vor dem Asylgerichtshof unter Beisein aller vier Beschwerdeführer sowie der rechtlichen Vertreterin eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, bei welcher insbesondere die Integration der Familie, die sich bereits seit rund siebeneinhalb Jahren (im Fall des Erstbeschwerdeführers) bzw. seit sechseinhalb Jahren (im Fall der Zweit- und Drittbeschwerdeführerinnen) in Österreich aufhält, im Vordergrund stand. Das Bundesasylamt nahm an der Verhandlung nicht teil, sondern hatte mit Schreiben vom 19.02.2013 bekannt gegeben, dass aus dienstlichen und personellen Gründen kein Vertreter entsandt werde, und den Antrag gestellt, die Beschwerden abzuweisen.

 

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof zogen alle vier Beschwerdeführer nach erfolgter Rechtsbelehrung aus freien Stücken die Beschwerden gegen die Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide zurück.

 

Seitens der Beschwerdeführer wurde ein Konvolut an ärztlichen Unterlagen betreffend die Zweitbeschwerdeführerin sowie Unterlagen zum Nachweis der Integration der Beschwerdeführer in Österreich - Schulbesuchsbestätigungen, Schulzeugnisse und eine Stellungnahme des Klassenvorstandes betreffend die Drittbeschwerdeführerin, Sprachnachweise betreffend die Zweitbeschwerdeführerin und eine Stellungnahme des Unterkunftsgebers der Beschwerdeführer - sowie ein ergänzendes Vorbringen zu Spruchpunkt III. vorgelegt.

 

Mit Schreiben vom 30.04.2013 wurde in weiterer Folge die Beschwerde der Viertbeschwerdeführerin vom 08.05.2012 gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesasylamtes vom 23.04.2012, Zl. 12 02.963-BAT, zurückgezogen.

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

II.1. Festgestellt wird:

 

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des Antrages des Erstbeschwerdeführers auf Gewährung von Asyl vom 22.11.2005, der Anträge der Zweit- bis Viertbeschwerdeführer auf internationalen Schutz vom 26.08.2006 bzw. vom 12.03.2012, der Einvernahmen der Beschwerdeführer durch das Bundesasylamt, der Berufungen bzw. Beschwerden vom 20.03.2006, 21.11.2006 bzw. 08.05.2012 gegen die angefochtenen Bescheide des Bundesasylamtes, der vorgelegten Unterlagen betreffend die Integration der Familie, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten, der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, Ausländer- und Fremdeninformationssystem, Strafregister und Grundversorgungsinformationssystem sowie insbesondere auf Grundlage der vor dem Asylgerichtshof durchgeführten mündlichen Verhandlung vom 22.03.2013 sowie der Zurückziehungen der Beschwerden hinsichtlich Spruchpunkt I. (betreffend die Viertbeschwerdeführerin) und der Spruchpunkte II. der angefochtenen Bescheide werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zu Grunde gelegt:

 

II.1.1. Zur Lage in der Russischen Föderation unter Berücksichtigung der Lage in Tschetschenien wird festgestellt:

 

Allgemeine Sicherheitssituation

 

In Tschetschenien hat Oberhaupt Ramzan Kadyrow ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert, was die Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft auf ein Minimum reduziert. Trotz deutlicher Wiederaufbauerfolge ist die ökonomische Lage in Tschetschenien desolat, es gibt kaum Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des staatlichen Sektors. Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle ging nach einem relativen Höchststand 2009 wieder zurück. Dennoch kam es 2010 und 2011 zu einigen ernsthaften Vorfällen. Im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 21, Council of Europe - Commissioner for Human Rights: Report by Thomas Hammarberg Commissioner for Human Rights of the Council of Europe Following his visit to the Russian Federation from 12 to 21 May 2011, 6.9.2011)

 

Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen.

 

Die Gewalt im Nordkaukasus, angefacht von Separatismus, interethnischen Konflikten, dschihadistischen Bewegungen, Blutfehden, Kriminalität und Exzessen durch Sicherheitskräfte geht weiter. Die Gewalt in Tschetschenien ging jedoch 2011 im Vergleich zu 2010 zurück.

 

(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2011 - Russia, 24.5.2012)

 

Anders als im übrigen Nordkaukasus gingen die Angriffe bewaffneter Gruppen in Tschetschenien zurück.

 

(Amnesty International: Jahresbericht 2012 [Beobachtungszeitraum 2011], 24.5.2012)

 

In Tschetschenien ist es seit Jahresbeginn 2010 zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt (teilweise bewirkte dies ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien).

 

(ÖB Moskau: Asylländerbericht Russische Föderation, Stand September 2012)

 

Derzeit gibt es gemäß Angaben von Republiksoberhaupt Kadyrow in Tschetschenien noch 28 Polizeikontrollpunkte, die nicht unter der Kontrolle tschetschenischer Behörden sind. Diese seien von Personal aus russischen Regionen außerhalb des Nordkaukasus bemannt. 17 davon sollen nach Dagestan verlegt werden. Von den übrigen 11 größeren Kontrollpunkten seien einige an den administrativen Grenzen, einige in Grosny und einige in der Gebirgsregion.

 

(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 206, 9.11.2012)

 

2011 gab es in Tschetschenien mindestens 201 Opfer des bewaffneten Konflikts, darunter 95 Tote und 106 Verwundete. 2010 waren es noch 250 Opfer gewesen (127 Tote, 123 Verletzte). Damit liegt Tschetschenien betreffend Opferzahlen hinter Dagestan an zweiter Stelle der nordkaukasischen Republiken. Gemäß Polizeiberichten wurden 2011 in Tschetschenien 62 Mitglieder des bewaffneten Untergrunds getötet (2010: 80), weitere 159 vermeintliche Kämpfer wurden festgenommen (2010: 166). 21 Sicherheitskräfte kamen bei Schießereien und Explosionen 2011 ums leben (2010: 44), 97 wurden verletzt (2010: 93). Des Weiteren wurden 2011 bei Terrorakten, Bombardierungen und Schießereien 12 Zivilisten getötet (2010: 3) und 9 verwundet (2010: 30).

 

2011 kam es in Tschetschenien zu mindestens 26 Explosionen und Terrorakten, 2010 waren es noch 37 gewesen. Unter den Explosionen und Terrorakten waren sieben Selbstmordanschläge.

 

(Caucasian Knot: In 2011, armed conflict in Northern Caucasus killed and wounded 1378 people, 12.1.2012, http://abhazia.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/19641/, Zugriff 3.12.2012)

 

Nach Angaben von Ramsan Kadyrow im Oktober 2012 seien noch rund 35 bis 40 Rebellen in Tschetschenien aktiv. Diese Zahl (bzw. bis maximal 70) wird von ihm seit rund sieben Jahren angegeben. Jedes Jahr wird jedoch ein drei bis viermal so hohe Anzahl an getöteten und festgenommenen Rebellen angegeben.

 

(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 196, 26.10.2012)

 

2012 wurden zwischen Jänner und Mitte Oktober nach Angaben des Innenministeriums der Republik Tschetschenien 35 Kämpfer des bewaffneten Untergrunds in Tschetschenien getötet und weitere 80 verhaftet. Im selben Zeitraum seien 9 gemeinsame große Sonderoperationen gegen die Kämpfer durchgeführt worden.

 

(Caucasian Knot: The Ministry of Interior Affairs: 35 gunmen killed in Chechnya since the beginning of the year, 17.10.2012, http://www.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/22579/, Zugriff 3.12.2012)

 

Gemäß Daten aus offenen Quellen wurden 2012 bei Sondereinsätzen zwischen Jänner und September 40 Soldaten getötet und 50 verletzt.

 

(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 176, 27.9.2012)

 

Wenngleich sich die Sicherheitslage im Sinne dessen, dass keine großflächigen Kampfhandlungen stattfinden und es zu keiner Vertreibung der Zivilbevölkerung kommt, stabilisiert hat, so zeigt sich also, dass dies nicht zuletzt auf die repressive Machtausübung Ramzan Kadyrows und seiner Sicherheitskräfte zurückzuführen ist. Das teilweise brutale und in einigen Fällen als menschenrechtswidrig zu bezeichnende Vorgehen der Sicherheitskräfte (für das diese kaum belangt werden) bringt zwar auch Resultate mit sich, da immer wieder auch führende Kämpfer "neutralisiert", also getötet oder verhaftet, werden und die Sicherheitslage in Tschetschenien dadurch weitgehend stabilisiert werden konnte, andererseits trägt dieses Vorgehen dazu bei, dass sich auch junge Menschen, die sich zunächst nicht mit radikal-islamischem Gedankengut identifizieren, der Widerstandsbewegung anschließen. Deshalb wird die Rebellenbewegung auch in nächster Zeit nicht an Schlagkraft verlieren. Eine nachhaltige Befriedung ist also weiterhin nicht absehbar, die in Zusammenhang mit Tschetschenien so oft zitierte Gewaltspirale dreht sich weiter.

 

Die Gewalt im Nordkaukasus, angefacht von Separatismus, interethnischen Konflikten, dschihadistischen Bewegungen, Blutfehden, Kriminalität und Exzessen durch Sicherheitskräfte geht weiter. Die Gewalt in Tschetschenien ging jedoch 2011 im Vergleich zu 2010 zurück.

 

(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2011 - Russia, 24.5.2012)

 

Den offiziellen Aussagen zufolge hat sich die Anzahl der Angriffe von Aufständischen im Nordkaukasus 2010 im Vergleich zu 2009 verdoppelt. 2011 war der islamistische Aufstand weiterhin im Anwachsen, insbesondere in der Teilrepublik Dagestan. Im Jänner 2011 tötete ein Selbstmordattentäter aus dem Nordkaukasus auf einem Moskauer Flughafen 37 Personen, mehr als 120 wurden verletzt. Der Tod von drei Touristen in Kabardino-Balkarien, vermutlich durch Aufständische, führte zur Schließung der dortigen Schiressorts.

 

Die Anwendung von Folter, Entführungen gleichkommenden Verhaftungen, erzwungenem "Verschwinden", und außergerichtlichen Tötungen durch Sicherheitskräfte im Rahmen ihrer Aufstandsbekämpfung, und damit einhergehend die Straffreiheit für diese Missbräuche, brachte die Bevölkerung des Nordkaukasus auf.

 

(Human Rights Watch: World Report 2012 - Russia, 22.01.2012)

 

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus war noch immer instabil. Bewaffnete Gruppen gingen weiter gezielt gegen Polizeibeamte und andere Staatsbedienstete vor. Dabei gerieten oft Zivilisten ins Kreuzfeuer oder wurden gezielt angegriffen. Sowohl bewaffnete Gruppen als auch die Sicherheitskräfte begingen gravierende Menschenrechtsverstöße. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte im gesamten Nordkaukasus ging oft mit schweren Menschenrechtsverletzungen einher. Es gingen Berichte über die Drangsalierung und Tötung von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern und Rechtsanwälten sowie über die Einschüchterung von Zeugen ein. Anders als im übrigen Nordkaukasus gingen die Angriffe bewaffneter Gruppen in Tschetschenien zurück. (Amnesty International: Amnesty International Report 2012 - The State of the World's Human Rights, 24.5.2012)

 

Rund 200 Terroristen wurden im ersten Halbjahr 2012 im Nordkaukasus "vernichtet", während die Verluste der bewaffneten Strukturen mehr als 100 Mann ausgemacht haben. Das teilte Sergej Tschentschik, Chef der Verwaltung des Innern im nordkaukasischen Föderationsbezirk mit. Zudem seien 235 Mitglieder von Terrorgruppen festgenommen worden. Als Folge von Aktionen der Terroristen seien 32 zivile Einwohner getötet und rund 130 weitere verletzt worden. Im ganzen Jahr 2011 seien 209 Terroristen getötet worden.

 

(Ria Novosti: Rund 200 Terroristen seit Jahresbeginn im Nordkaukasus getötet, 5.7.2012,

http://de.rian.ru/politics/20120705/263933440.html, Zugriff 1.8.2012)

 

Nach Schätzung des Bevollmächtigten für den Föderationskreis Nordkaukasus Alexander Chloponin, waren [mit Stand September 2011] rund 1.000 Rebellenkämpfer in diesem Föderationskreis aktiv.

 

(Ria Novosti: Some 1,000 militants 'still active' in North Caucasus, 30.9.2011, http://en.rian.ru/russia/20110930/167282370.html, Zugriff 1.8.2012)

 

Die Sicherheitslage im Nordkaukasus ist insgesamt weiterhin schlecht, auch wenn zwischen den einzelnen Entitäten z. T. zu differenzieren ist. Fast täglich gibt es Meldungen über gewaltsame Vorfälle mit Toten und Verletzten in der Region. Besonders betroffen ist weiterhin die Republik Dagestan. Aber auch in Kabardino-Balkarien, Tschetschenien und Inguschetien kommt es zu Zwischenfällen, so dass von einer Normalisierung nicht gesprochen werden kann. Nur vereinzelt ist bisher von Attentaten und anderen extremistischen Straftaten aus den übrigen Republiken des Förderalbezirks Nordkaukasus zu hören.

 

Auf Gewalt durch islamistische Aufständische oder im Zuge von Auseinandersetzungen zwischen Ethnien und Clans reagieren die regionalen und föderalen Behörden weiterhin vor allem mit harter Repression. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt dreht sich dadurch weiter.

 

(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, Stand Juni 2012, 6.7.2012)

 

Gemäß den Aufzeichnungen des Caucasian Knot gab es 2011 mindestens

1.378 Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus (2010: 1.710), darunter 750 Tote und 628 Verletzte (2010: 754 und 956). Unter den 750 Toten waren 384 als Mitglieder des bewaffneten Untergrunds bezeichnete Personen, 190 Sicherheitskräfte und 176 Zivilisten. Zudem gab es weiterhin Entführungen, Fälle von Verschwindenlassen und ungesetzliche Festnahmen; 2011 wurden insgesamt 70 solcher Fälle registriert (2010: 50). Weiters wurden 370 mutmaßliche Mitglieder "illegaler bewaffneter Formatierungen" verhaftet (2010: 254).

 

Die meisten der über 1.300 Opfer, nämlich 824, davon 413 Tote, waren in Dagestan zu beklagen (2010: 685, davon 378 Tote), gefolgt von Tschetschenien mit 201 Opfern, davon 95 Tote (2010: 250, davon 127 Tote). Auf Platz drei lag 2011 Kabardino-Balkarien mit 173 Opfern, davon 129 Tote (2010: 161, davon 79 Tote). In Inguschetien gab es 108 Opfer, davon 70 Tote (2010: 326, davon 134 Tote); in Karatschajewo-Tscherkessien 34 Opfer, davon 22 Tote (2010: 4, davon 2 Tote); in Stawropol 24 Opfer, davon 17 Tote (2010: 89, davon 10 Tote); und in Nordossetien 14 Opfer, davon 4 Tote (2010: 195, davon 24 Tote).

 

2011 gab es in den Regionen des Föderationskreises Nordkaukasus mindestens 167 Explosionen und Terrorakte, 86 in Dagestan, 29 in Inguschetien, 26 in Tschetschenien, 21 in Kabardino-Balkarien, jeweils zwei in Nordossetien und Stawropol und einen in Karatschajewo-Tscherkessien. Sieben der Vorfälle waren Selbstmordattentate. 2010 hatte es noch mindestens 239 solcher Vorfälle gegeben.

 

(Caucasian Knot: In 2011, armed conflict in Northern Caucasus killed and wounded 1378 people, 12.1.2012, http://abhazia.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/19641/, Zugriff 1.8.2012)

 

2010 waren 74% der Opfer im Nordkaukasus in Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan zu beklagen, 2011 waren es 82%. Beinahe 60% aller Opfer waren 2011 in Dagestan zu verzeichnen.

 

(The Jamestown Foundation: Eurasia Daily Monitor -- Volume 9, Issue 18, 26.1.2012)

 

Teile des Landes, vor allem im Nordkaukasus, sind von hohem Gewaltniveau betroffen. Der relative Erfolg des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow, bedeutende Rebellenaktivität in seinem Herrschaftsbereich einzuschränken, ging einher mit zahlreichen Berichten über außergerichtliche Tötungen und Kollektivbestrafung. Zudem breitete sich die Rebellenbewegung in den umliegenden russischen Republiken, wie Inguschetien, Dagestan und Kabardino-Balkarien aus. Hunderte Beamte, Aufständische und Zivilisten sterben jedes Jahr durch Bombenanschläge, Schießereien und Morde. Der Bombenanschlag am Flughafen Domodedovo, bei dem mindestens 37 Personen starben, machte deutlich, dass der Kreml die Gewalt noch eindämmen muss.

 

(Freedom House: Freedom in the World 2012 - Russia, März 2012)

 

In Russland existiert eine Vielzahl von Sicherheitsdiensten. Es wird unterschieden zwischen den föderalen Sicherheitskräften, welche der Russischen Föderation unterstehen, und lokalen Abteilungen, welche den Behörden der einzelnen Republiken unterstellt sind. Die föderalen Streitkräfte im Nordkaukasus bestehen einerseits aus der russischen Armee, welche dem russischen Verteidigungsministerium MO RF angehört (am Kampf gegen den bewaffneten Widerstand sind auch viele Sondereinheiten des Geheimdienstes der russischen Armee (GRU) beteiligt), andererseits sind auch Polizeieinheiten des Innenministeriums MVD RF aktiv, um die lokalen Sicherheitskräfte zu verstärken und zu kontrollieren. Diese lokalen Sicherheitskräfte unterstehen ihrerseits den Innenministerien (MVD) der einzelnen Republiken. Innerhalb der Polizei gibt es zahlreiche Sondereinheiten, wie beispielsweise die OMON (Abteilung zur Aufstandsbekämpfung). Die Truppen der MVD sind hauptsächlich für die Kontrolle der Städte und Dörfer zuständig, sie beaufsichtigen Checkpoints und führen Säuberungsaktionen durch. Ebenfalls präsent im Nordkaukasus ist der Inlandgeheimdienst der Russischen Föderation (FSB). Dabei handelt es sich sowohl um den föderalen FSB als auch um lokale Abteilungen. Dieses komplizierte Geflecht erschwert es oft, die Verantwortlichen für Rechtsverletzungen zu finden, und erlaubt es den Behörden, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben. Die (sowohl lokalen als auch föderalen) Sicherheitskräfte nehmen in der Regel weder Rücksicht auf die Zivilbevölkerung noch auf Gesetzmäßigkeit, zumal sie weder mit Untersuchungen noch mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen müssen. (Schweizerische Flüchtlingshilfe: Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage, 12.9.2011)

 

Verfolgungsgefahr

 

UNHCR sieht derzeit insbesondere (ehem.) Rebellen und deren Verwandte, politische Gegner Kadyrows, Personen, die eine offizielle Funktion in der Verwaltung Maschadows hatten, Menschenrechtsaktivisten und Personen, die Beschwerden bei regionalen und internationalen Menschenrechtseinrichtungen eingebracht haben und unter besonderen Umständen Frauen und Kinder, als besonders gefährdet an. Personen, die in Sicherheitseinrichtungen, z.B. unter Dudaev und Maschadov tätig gewesen sind oder früher an Rebellenaktivitäten teilgenommen haben, laufen nach wie vor Gefahr, bei einer Rückkehr in die Gefangenschaft zu geraten.

 

(Anfragebeantwortung von ACCORD vom 08.06.2010)

 

Von Menschenrechtsorganisationen wird kritisiert, dass Entschädigungszahlungen für zerstörte Liegenschaften nur in sehr beschränktem, unzureichendem Ausmaß bezahlt werden. Amnesty International weist darauf hin, dass viele der Entschädigten bis zu 50 Prozent der erhaltenen Gelder gleich als Bestechungsgelder bezahlen mussten. Hohe tschetschenische Beamte und auch Präsident Kadyrow selbst fielen immer wieder durch Drohungen gegenüber den Angehörigen von (mutmaßlichen) Widerstandskämpfern und Rechtfertigungen von kollektiver Bestrafung auf.

 

(Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 12.09.2011, )

 

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die tschetschenischen Behörden Unterstützer und Familienmitglieder einzelner Kämpfer auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation suchen und/oder finden würden, was aber bei einzelnen bekannten oder hochrangigen Kämpfern sehr wohl der Fall sein kann.

 

(BAA/Staatendokumentation: Analyse der Staatendokumentation - Russische Föderation - Unterstützer und Familienmitglieder (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer in Tschetschenien, 20.4.2011)

 

Zivilbevölkerung

 

Vertreter russischer und internationaler NROs (Memorial, Human Rights Watch, amnesty international, Danish Refugee Council) zeichnen ein insgesamt düsteres Lagebild für Tschetschenien. Es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 22)

 

Bei Sondereinsätzen der Anti-Terror-Organisation geraten gelegentlich auch Zivilisten ins Schussfeld, wie etwa ein Vorfall im inguschetisch-tschetschenischen Grenzgebiet im Februar 2010 zeigt:

Bei diesem Sondereinsatz kamen je nach Angaben zwischen vier und 14 Zivilisten ums Leben. Zudem steht der Vorwurf im Raum, dass Sicherheitskräfte getötete Zivilisten manchmal als Kämpfer bezeichnen würden, um die Statistik zu schönen. Die derzeit stattfindenden Kämpfe führen jedoch nicht zu einer Vertreibung der Zivilbevölkerung.

 

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) will sicherstellen, dass die Polizei und Truppen des Innenministeriums, welche Sicherheitsoperationen durchführen, die Gesetze kennen. Daher führte das Komitee zwischen Juni 2010 und Jänner 2011 Informationsveranstaltungen für Sicherheitskräfte durch. Zudem führt das IKRK regelmäßigen Dialog mit föderalen und lokalen Exekutivbehörden über Festnahmen, Inhaftierungen und Gewaltanwendung.

 

(ReliefWeb: Russian Federation/Northern Caucasus: ICRC maintains aid effort, 1.3.2011,

http://www.reliefweb.int/rw/rwb.nsf/db900SID/JARR-8EJHNK?OpenDocument&rc=4&emid=ACOS-635PN7)

 

In den letzten Jahren kehrten nicht nur tausende Binnenflüchtlinge in ihre Häuser zurück, sondern auch Tschetschenen, die nach Europa flüchteten. Das subjektive Unsicherheitsgefühl verhindert eine solche Rückkehr scheinbar nicht. Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in Tschetschenien weiterhin Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Verhaftungen oder unmenschliche Behandlung durch Sicherheitskräfte stattfinden und fragwürdige Maßnahmen wie die Kollektivbestrafung von Kadyrow und anderen tschetschenischen Amtsträgern gutgeheißen werden.

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 5)

 

Rebellen

 

Es kann von niemandem mit Sicherheit gesagt werden, wie viele Rebellen heutzutage in Tschetschenien aktiv sind. Rekrutierung findet konstant statt. Rebellen und jene die aktive Rebellen unterstützen sind Hauptziel der tschetschenischen Behörden, während ehemalige tschetschenische Rebellen für die Behörden von weniger Interesse sein dürften. Aktive Rebellen werden für gewöhnlich während Sonderoperationen getötet, während Unterstützer festgenommen werden. Bei der Befragung von Personen, die der Zusammenarbeit mit Rebellen bezichtigt werden, soll es zu Folter kommen. In einer Reihe von Fällen wurden Personen für verschiedenartige Unterstützung der Rebellen zu Haftstrafen verurteilt.

 

(Landinfo: Tsjetsjenia: Tsjetsjenske myndigheters reaksjoner mot opprørere og personer som bistår opprørere, 26.10.2012, http://www.landinfo.no/asset/2200/1/2200_1.pdf, Zugriff 3.12.2012)

 

Das Niederbrennen von Häusern vermeintlicher Rebellen, ein Mechanismus der Kollektivbestrafung, der seit 2008 angewandt wird, ging Berichten zufolge weiter. Im Juli 2011 berichtete Caucasian Knot über mehrere Häuser, die niedergebrannt wurden, die Familien junger Leute gehörten, die sich dem Widerstand angeschlossen hatten.

 

(U.S. Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2011 - Russia, 24.5.2012)

 

Tschetschenische Exekutiv- und Sicherheitsbehörden unter der de-facto Kontrolle von Ramsan Kadyrow wenden gegenüber Verwandten und mutmaßlichen Unterstützern vermeintlicher Rebellen Kollektivstrafen an.

 

(Human Rights Watch: World Report 2012, 22.1.2012)

 

Im April 2012 wurde Rechtsaktivisten von Bewohnern des Dorfes Komsomolskoye/Bezirk Gudermes berichtet, dass Personen in Uniform die Häuser von den Eltern und Großeltern eines wenige Tage zuvor getöteten Rebellen niedergebrannt hatten. Kadyrow und andere tschetschenische Beamten haben bei mehreren Gelegenheiten ausgesagt, dass Angehörige von Aufständischen für ihre Rebellen-Verwandten zur Verantwortung gezogen werden müssen.

 

(The Jamestown Foundation: North Caucasus Weekly -- Volume 13, Issue 10, 18.5.2012 / Caucasian Knot: Chechnya: houses of relatives of Bantaev, killed in special operation, burnt down, locals say, 5.5.2012, http://www.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/20948/, Zugriff 3.12.2012)

 

Die Verfolgung von Familienmitgliedern und Unterstützern von Widerstandskämpfern ist in der Russischen Föderation eine der Maßnahmen im Kampf gegen den Terrorismus im Nordkaukasus.

 

In deutsch- und englischsprachigen Medien und Berichten von russischen und anderen Menschenrechts- und Nichtregierungsorganisationen finden sich keine Hinweise, dass in den letzten Jahren oder derzeitig, Personen, die den Widerstand in den Jahren vor der letzten offiziellen Amnestie 2006 unterstützt oder selbst gekämpft und eine Amnestie in Anspruch genommen haben, oder die mit einer solchen Person verwandt sind, nunmehr allein deshalb verfolgt würden. Betroffen sind hauptsächlich Unterstützer und Familienmitglieder gegenwärtig aktiver Widerstandskämpfer. Um unbehelligt leben zu können müssen sich amnestierte Kämpfer und Unterstützer und deren Familien Ramsan Kadyrow gegenüber sicherlich weiterhin loyal zeigen. Ein Austritt aus den lokalen Sicherheitskräften, in denen viele der Amnestierten nunmehr arbeiten (müssen) wird nur bedingt möglich sein.

 

Obwohl eine strafrechtliche Verfolgung von Unterstützern des Widerstandskampfes möglich ist, greifen die tschetschenischen Sicherheitskräfte in ihrem Kampf gegen den Terrorismus weiterhin auf Mittel ohne rechtliche Grundlage zurück. Einerseits gibt es vereinzelte Berichte, dass Unterstützer ohne jegliches Verfahren für ihre vermeintliche Hilfeleistung "bestraft" werden. Andererseits finden sich zahlreiche Berichte über Formen der Kollektivbestrafung von Familienmitgliedern (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer. Betroffen ist vorwiegend der engere Familienkreis, also Eltern, Onkeln, Cousins und Ehefrauen. Die tschetschenischen Behörden gehen aufgrund der traditionell sehr engen Familienbande davon aus, dass Familien ihre im Wald lebenden Angehörigen unterstützen, vor allem aber davon, dass diese Familien im Stande sind ihre Angehörigen zu einer Rückkehr aus dem Wald zu bewegen. Die Verfolgung beginnt mit dem Einsatz von Druckmitteln wie der Streichung von Sozialbehilfen, und führt bis zur Niederbrennung der Wohnhäuser der betroffenen Familien. Offizielle Beschwerden oder Anzeigen hiergegen sind kaum möglich.

 

(BAA/Staatendokumentation: Analyse der Staatendokumentation - Russische Föderation - Unterstützer und Familienmitglieder (mutmaßlicher) Widerstandskämpfer in Tschetschenien, 20.4.2011)

 

Die tschetschenischen Sicherheitskräfte unterstehen fast allesamt dem tschetschenischen Innenministerium. Nach Auflösung der beiden Bataillons Sapad und Wostok, die direkt dem russischen Verteidigungsministerium unterstanden hatten, stehen in der Praxis alle Sicherheitskräfte in Tschetschenien unter der direkten Kontrolle Ramzan Kadyrows oder sind ihm loyal, da es Kadyrow im Laufe der Jahre gelungen war, nahezu das gesamte Innenministerium mit Vertrauenspersonen zu besetzen

 

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 9)

 

Die tschetschenische Polizei hat nach Angaben des tschetschenischen Innenministers Ruslan Alchanow seit dem Jahresbeginn (2011) 13 Extremisten vernichtet und 41 mutmaßliche Teilnehmer gesetzwidriger bewaffneter Gruppen festgenommen. Weitere zehn Mitglieder der bewaffneten Formationen stellten sich selbst, hieß es. "Die illegalen bewaffneten Gruppen in Tschetschenien sind in der letzten Zeit beträchtlich geschrumpft und bekommen praktisch keine personelle Auffüllung mehr", so der Minister. "Die unbedeutenden Reste dieser Gruppen sind nicht in der Lage, etwas zu ändern, geschweige denn die Lage in der Republik Tschetschenien zu destabilisieren."

 

(Ria Novosti: Empfindliche Verluste bei Extremisten, 24.4.2011, http://de.rian.ru/russia/20110424/258932158.html, Zugriff 1.6.2011)

 

Menschenrechte/Menschenrechtsaktivisten und Gegner Kadyrows:

 

Die Regierung von Ramsan Kadyrow in Tschetschenien verletzt weiterhin Grundfreiheiten, ist in Kollektivbestrafungen von Familien vermeintlicher Rebellen involviert und fördert insgesamt eine Atmosphäre der Angst und Einschüchterung.

 

Der tschetschenische Ombudsmann Nurdi Nukhazhiyev zeigte sich der in der Region führenden NRO Memorial gegenüber unkooperativ. Die Behörden weigerten sich gelegentlich mit NRO zusammenzuarbeiten, die ihre Aktivitäten kritisierten. In Tschetschenien tätige Menschenrechts-NRO, darunter das Committee Against Torture, berichteten über Drohungen und Einschüchterungen durch Exekutivorgane.

 

Menschenrechtsgruppen warfen vor, dass Sicherheitskräfte unter dem Kommando Kadyrows eine bedeutende Rolle bei Entführungen spielten, entweder auf eigene Initiative oder in gemeinsamen Operationen mit föderalen Kräften. Darunter waren Entführungen von Familienmitgliedern von Rebellenkommandanten und -kämpfern. (U.S.

Department of State: Country Report on Human Rights Practices for 2011 - Russia, 24.5.2012)

 

Es werden weiterhin Menschenrechtsverletzungen in Zusammenhang mit den "anti-terroristischen" Operationen der Regierung berichtet. Anwälte, Journalisten und Menschenrechtsorganisationen berichten über Entführungen, willkürliche Verhaftungen, Folter, "Verschwindenlassen" und widerrechtliche Tötungen. Der russische Ombudsmann hat mehrfach über Verstöße im Nordkaukasus berichtet, ebenso wie der Menschenrechtskommissar des Europarates. Solche Berichte scheinen vor Ort aber wenige Auswirkungen zu haben.

 

(Council of Europe - Parliamentary Assembly: The situation of IDPs and returnees in the North Caucasus region, 5.3.2012)

 

Seit 2002 sind in Tschetschenien über 2.000 Personen entführt worden, von denen über die Hälfte bis zum heutigen Tage verschwunden bleibt. Auch heute noch wird von Fällen illegaler Festnahmen und Folter von Verdächtigen berichtet Menschenrechtsverletzungen durch föderale oder tschetschenische Sicherheitskräfte werden in den seltensten Fällen strafrechtlich verfolgt. In einigen Fällen wurden Opponenten und Kritiker Kadyrows in Tschetschenien und anderen Gebieten der Russischen Föderation, aber auch im Ausland durch Auftragsmörder getötet (darunter Mord an Umar Israilow in Wien im Jänner 2009). Keiner dieser Mordfälle konnte bislang vollständig aufgeklärt werden.

 

(ÖB Moskau: Asylländerbericht Russische Föderation, Stand September 2012)

 

Der relative Erfolg des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow bei der Unterdrückung größerer Rebellenaktivitäten in seinem Einflussbereich wird begleitet von zahlreichen Berichten über außergerichtliche Hinrichtungen und Kollektivbestrafungen.

 

(Freedom House: Freedom in the World 2012 - Russia, März 2012)

 

2011 wurden in Tschetschenien 20 Fälle registriert, in denen Personen entführt wurden, verschwanden oder gesetzwidrig verhaftet wurden (2010: 6).

 

(Caucasian Knot: In 2011, armed conflict in Northern Caucasus killed and wounded 1378 people, 12.1.2012, http://abhazia.eng.kavkaz-uzel.ru/articles/19641/, Zugriff 3.12.2012)

 

Memorial dokumentierte zwischen Jänner und September 2011 elf Fälle von Entführungen lokaler Einwohner durch Sicherheitskräfte. Fünf der Entführten "verschwanden". Opfer weigern sich aus Angst vor behördlicher Vergeltung zusehends über Verstöße zu sprechen. In einem Brief an eine russische NRO im März 2011 sagten die föderalen Behörden, dass die tschetschenische Polizei Untersuchungen von Entführungen sabotierten und manchmal die Täter deckten. Der Brief war die erste öffentliche Bekenntnis des Unvermögens der föderalen Untersuchungsbehörden, Missbräuche in Tschetschenien zu untersuchen.

 

(Human Rights Watch: World Report 2012, 22.1.2012)

 

Berichten zufolge verübten Beamte mit Polizeibefugnissen nach wie vor schwere Menschenrechtsverletzungen. In einem Schreiben an die NGO Interregionales Komitee gegen Folter bestätigte ein hochrangiger tschetschenischer Staatsanwalt, dass die Ermittlungen zu den Fällen von Verschwindenlassen in Tschetschenien ineffektiv seien. Für die Menschenrechtsverteidiger in Tschetschenien stellte der ungeklärte Mord an Natalja Estemirowa im Jahr 2009 nach wie vor eine schwere Belastung dar. Sie waren zudem weiterhin Einschüchterungsmaßnahmen und Schikanen ausgesetzt.

 

(Amnesty International: Jahresbericht 2012 [Beobachtungszeitraum 2011], 24.5.2012)

 

Im Nordkaukasus finden die schwersten Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation statt. Hierzu sind seit 2005 auch zahlreiche Urteile des EGMR gegen Russland ergangen, der insbesondere Verstöße gegen das Recht auf Leben festgestellt hat. Wiederholte Äußerungen von Präsident Medwedew und anderen Funktionsträgern deuten darauf hin, dass Recht und Gesetz hinreichend eingehalten und die Menschenrechte respektiert werden sollen. Es fehlt jedoch bislang an wirklich messbaren Fortschritten vor Ort. Die Urteile des EGMR werden von Russland nicht vollständig umgesetzt. Laut NRO "Kawkaski Usel" sind 2011 im Nordkaukasus 91 Personen entführt und verschleppt worden. Es wird vermutet, dass dafür in den meisten Fällen Sicherheitskräfte verantwortlich sind.

 

Vertreter russischer und internationaler NRO zeichnen ein insgesamt düsteres Lagebild. Gewalt und Menschenrechtsverletzungen bleiben dort an der Tagesordnung, es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung. Die strafrechtliche Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen ist völlig unzureichend.

 

(Auswärtiges Amt: Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation (Stand Juni 2012), 6.7.2012)

 

Kadyrow billigt oder leitet Massenverstöße gegen die Menschenrechte. Er wird beschuldigt, an Morden, Folter und Verschwinden von politischen Opponenten und Menschenrechtsaktivisten in Russland und im Ausland beteiligt zu sein. (U.S. Commission on International Religious Freedom: Annual Report of the United States Commission on International Religious Freedom, März 2012)

 

Versorgungslage

 

Die Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich nach Angaben von internationalen Hilfsorganisationen in den Jahren seit 2007 deutlich verbessert. Die Staatsausgaben in Tschetschenien pro Einwohner sind doppelt so hoch wie im Durchschnitt des südlichen Föderalen Bezirks. Durch die in den letzten zehn Jahren - großteils durch föderale Gelder - durchgeführten Programme und Projekte konnte der Wiederaufbau in der Tschetschenischen Republik vorangetrieben werden. Kadyrow möchte eine Art "Dubai des Kaukasus"(Uwe Halbach) aus Tschetschenien machen. Sowohl in die soziale, als auch in die technische Infrastruktur wurde investiert: In den Bau und die Renovierung von Wohnungen, medizinischen Einrichtungen, Schulen, Kaufhäusern, Straßen, Kanalisation, Stromversorgung u. ä. Die ehemals zerstörte Hauptstadt Tschetscheniens Grosny ist inzwischen fast vollständig wieder aufgebaut - dort gibt es mittlerweile auch wieder einen Flughafen. Nach Angaben der EU-Kommission findet der Wiederaufbau überall in der Republik, insbesondere in Gudermes, Argun und Schali, statt. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen melden, dass selbst in kleinen Dörfern Schulen und Krankenhäuser aufgebaut werden. Die Infrastruktur (Strom, Heizung, fließendes Wasser, etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die Kompensationszahlungen Erfolge. Der Wiederaufbau geht unter hohem Einsatz staatlicher Mittel rasch voran, die Arbeitslosigkeit bleibt aber nach wie vor ein schweres Problem. Missmanagement, Kompetenzgemenge und Korruption verhindern in vielen Fällen, dass die Gelder für den Wiederaufbau sachgerecht verwendet werden. Die humanitären Organisationen reduzieren langsam ihre Hilfstätigkeiten; sie konstatieren keine humanitäre Notlage, immer noch aber erhebliche Entwicklungsprobleme. Der Schulbesuch ist grundsätzlich möglich und findet unter zunehmend günstigen Bedingungen statt.

 

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 07.03.2011, Seite 23, Bericht der Staatendokumentation zum Forschungsaufenthalt, Russische Föderation - Republik Tschetschenien, Dezember 2011, Seite 5; Amnesty International, Annual Report 2012)

 

Wohnsituation

 

Laut Beurteilung des tschetschenischen Eigentumsministeriums sowie des Wohnungsministeriums ist das Privateigentum anderer für Tschetschenen unantastbar. Aus diesem Grunde werden Häuser von Tschetschenen, die ausgereist sind, nicht von anderen Personen oder vom Staat in Besitz genommen. Es wurde in den diesbezüglichen Stellungnahmen sogar soweit ausgeholt, dass Häuser so lange leer stehen würden, bis der Besitzer zurückkäme.

 

(Bericht der Staatendokumentation zum Forschungsaufenthalt, Russische Föderation - Republik Tschetschenien, Dezember 2011, Seite 23-24)

 

Im Juli 2003 führte die Regierung Kompensationszahlungen ein. Im Rahmen dessen sollten Personen, deren gesamtes Eigentum zerstört worden war, 350.000 Rubel bekommen. Der föderalen Regierung zufolge hatten bis Ende 2004 39.000 Personen solche Kompensationszahlungen erhalten. Zusätzlich zu Regierungsprogrammen unterhalten humanitäre Organisationen Programme zur Beschaffung von Unterkünften. Zwischen 2000 und 2007 wurden in Tschetschenien rund 20.000 Häuser mit der Hilfe humanitärer Organisationen repariert oder aufgebaut.

 

(BAA - ÖIF, Soziale Infrastruktur in Tschetschenien; August 2009, Seite 9)

 

Wohnraum bleibt ein großes Problem. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden während der kriegerischen Auseinandersetzungen seit 1994 über 150.000 private Häuser sowie ca. 73.000 Wohnungen zerstört. Die Auszahlung von Kompensationsleistungen für kriegszerstörtes Eigentum ist noch nicht abgeschlossen. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass nur rund ein Drittel der Vertriebenen eine Bestätigung der Kompensationsber

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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