TE UVS Tirol 2013/02/25 2013/15/0204-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 25.02.2013
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Spruch

Der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol entscheidet durch sein Mitglied Mag. Gerold Dünser über die Berufung des F. H., geb am XY, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. R. K., XY-Straße 4, L., gegen das Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Lienz vom 12.12.2012, Zl SI-96-2012, wie folgt:

 

Gemäß § 66 Abs 4 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 (AVG) in Verbindung mit den §§ 24, 51, 51c und 51e Verwaltungsstrafgesetz 1991 (VStG) wird der Berufung Folge gegeben, das angefochtene Straferkenntnis behoben und das wider den Berufungswerber geführte Verwaltungsstrafverfahren gemäß § 45 Abs 1 Z 1 VStG eingestellt.

Text

Mit dem angefochtenen Straferkenntnis wurde dem Berufungswerber spruchgemäß Folgendes zur Last gelegt:

 

?Sie haben am 29.12.2011 um 07.05 Uhr im 2. Obergeschoß des allgemein zugänglichen Stiegenhauses des Mehrfamilienwohnhauses in T., XY-Straße 47a, M. S. lautstark mit ?verschwinde, du Wichser? beschimpft und haben durch dieses Verhalten, das einen groben Verstoß gegen die in der Öffentlichkeit zu beachtenden allgemein anerkannten Grundsätze der Schicklichkeit darstellt, den öffentlichen Anstand verletzt.

 

Verwaltungsübertretung nach:

§§ 11 Abs 1 und 13 Tiroler Landespolizeigesetz 1976?

 

Aus diesem Grund wurde über ihn auf Grundlage des § 13 Tiroler Landes-Polizeigesetz 1976 eine Geldstrafe in der Höhe von Euro 50,00, Ersatzfreiheitsstrafe 12 Stunden, verhängt. Außerdem wurde er zur Bezahlung eines Beitrages zu den Kosten des Verfahrens vor der Erstbehörde verpflichtet.

 

Dagegen wendet sich das fristgerecht erhobene Rechtsmittel, in welchem zusammenfassend ausgeführt wird, dass das erforderliche Kriterium der Öffentlichkeit nicht erfüllt werde. Unter Hinweis auf die Judikatur des VwGH (20.11.2008, 2005/09/0111, 18.12.1989, 89/10/0197) wurde ausgeführt, dass zur Erfüllung des Tatbildes nach § 11 Abs 2 TLPG nicht die theoretisch abstrakte, sondern die konkrete Möglichkeit der Kenntnisnahme gegeben sein müsse, welche auch im Spruch entsprechend zum Ausdruck zu kommen habe. Im konkreten Fall indiziere die Tatzeit 29.12. um 07.05 Uhr morgens geradezu, dass Wahrnehmungen für einen größeren Personenkreis nicht gegeben seien. Gegenteiliges sei dem Beschuldigten konkret vorzuwerfen.

 

Weiters wurde der Beweiswürdigung entgegengetreten und die Einvernahme von Zeugen beantragt.

 

Nachstehender entscheidungsrelevanter Sachverhalt steht für den Unabhängigen Verwaltungssenat in Tirol als erwiesen fest:

Am Morgen des 29.12.2011 um ca 07.05 Uhr ist es im Stiegenhaus des Mehrfamilienwohnhauses in T., XY-Straße 47a, zu einem Aufeinandertreffen des Berufungswerbers mit seinem Nachbarn gekommen. Aus dem Akt ergibt sich, dass beim nachfolgenden Gespräch außer dem Berufungswerber und dem Nachbarn keine weitere Person unmittelbar im Stiegenhaus anwesend gewesen ist. Die Ehegattin des Nachbarn als Beleidigtem hat vor der Erstbehörde zu Protokoll gegeben, dass sie selbst eine Beschimpfung dem Wort nach nicht wahrgenommen habe. Die Eltern des Berufungswerbers, welche sich zum Tatzeitpunkt ebenfalls in der Wohnung befunden haben, haben vor der Erstbehörde ausgeführt, dass das inkriminierte Wort ?Wichser? beim besagten Gespräch nicht gefallen sei.

 

Für das vorliegende Verfahren ist daher festzuhalten, dass unmittelbare Zeugen über den Kreis der Beteiligten, sohin des Berufungswerbers und des angeblich Beleidigten, nicht vorhanden sind. Die Auseinandersetzung fand in einem Stiegenhaus eines Mehrfamilienhauses statt; nach den im Akt nicht widerlegten Ausführungen des Berufungswerbers handelt es sich bei diesem Stiegenhaus um eines, welches mittels Schließanlage gegenüber dem Betreten durch externe Personen abgesichert ist. Dass sich am frühen Morgen des 29.12.2011 tatsächlich weitere Personen im Stiegenhaus befunden hätten, hat sich im Verfahren nicht ergeben.

 

In rechtlicher Hinsicht folgt:

Gemäß § 11 Abs 1 TLPG ist es verboten, den öffentlichen Anstand zu verletzen. Gemäß Abs 2 leg cit gilt als Verletzung des öffentlichen Anstandes jedes Verhalten, das einen groben Verstoß gegen die in der Öffentlichkeit zu beachtenden allgemein anerkannten Grundsätze der Schicklichkeit darstellt.

 

Die Erstbehörde stützt sich in der ausführlichen Begründung des angefochtenen Straferkenntnisses im Wesentlichen darauf, dass das Kriterium der Öffentlichkeit auch durch die ?Sukzessivöffentlichkeit? erfüllt werde und stützt sich dazu auch auf entsprechende Judikatur des VwGH. Demnach genüge es für die Öffentlichkeit der Anstandsverletzung, wenn die Möglichkeit besteht, dass die Handlung im Hinblick auf den mit der Tat verbundenen Belästigungseffekt auch einer anderen Person bekannt werden würde (vgl VwGH 29.04.1985, 85/10/0038).

 

Der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol ist allerdings der Auffassung, dass diese Sukzessivöffentlichkeit zur Verwirklichung des Tatbildes im vorliegenden Fall nicht ausreichend ist, dies aus folgenden Gründen:

 

Zunächst wird festgehalten, dass die angeführte ?Sukzessivöffentlichkeit? soweit ersichtlich vom VwGH in 4 älteren Entscheidungen releviert wurde, nämlich im Erkenntnis vom 27.09.1982, 81/10/0107 zum Kärntner Gesetz über die Anstandsverletzung und Lärmerregung, vom 18.06.1984, 84/10/0023 zum Oberösterreichischen Polizeistrafgesetz, vom 29.04.1985, 85/10/0038 zum Niederösterreichischen Polizeistrafgesetz und vom 30.09.1985, 85/10/0120 zu Art 8 EGVG betreffend einen Fall aus Wien. Diesbezügliche Judikatur zum Tiroler Landes-Polizeigesetz liegt hingegen genauso wenig vor wie Entscheidungen nach dem Jahr 1985.

 

Zum Tiroler Landes-Polizeigesetz sei daher festgehalten, dass dieses noch in der Stammfassung in § 11 Abs 2 TLPG als zusätzliches Kriterium gefordert hat, dass das ?Verhalten unmittelbar von einem größeren Personenkreis wahrgenommen werden kann?. Noch in den Erläuterungen wurde ausdrücklich festgehalten, dass die zur Verwirklichung des Tatbildes erforderliche Öffentlichkeit nicht gegeben ist, ?wenn Personen, welche die Wahrnehmung machen könnten, nicht vorhanden sind. Ebenso wenig etwa dann, wenn die Wahrnehmung durch einen größeren Personenkreis nicht unmittelbar erfolgt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Verletzung des Anstandes in einem geschlossenen Raum nur von wenigen Personen wahrgenommen wird (und wahrgenommen werden kann), durch deren Erzählung sie sodann einem größeren Personenkreis bekannt wird.?

 

Dieser letzte Halbsatz in § 11 Abs 2 TLPG, wonach das Verhalten unmittelbar von einem größeren Personenkreis wahrgenommen werden muss, damit eine strafbare Anstandsverletzung vorliegt, wurde durch die Novelle LGBl Nr 69/1987 gestrichen. Begründend wurde dazu in den Erläuterungen ausgeführt, dass damit nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (wozu auf das Erk Slg 9871 A/1978 verwiesen wurde) ?mindestens zehn Personen vorhanden sein müssen, die unmittelbar die Tat wahrnehmen können. Die Verwaltungspraxis zeigt aber, dass diese Voraussetzungen, insbesondere die Anwesenheit von zehn Personen, selten vorliegen?.

 

Weiters wird in den Erläuterungen festgehalten, dass der VwGH in diesem Erkenntnis darauf hingewiesen habe, ?dass bei einem Öffentlichkeitsbegriff etwa nach Art VIII Abs 1 lit a EGVG 1950 das Erfordernis der ?Öffentlichkeit? grundsätzlich dann gegeben sei, wenn der Raum, in dem sich der Vorgang abspielt, es zulässt, dass dieser Vorgang von einer unbestimmten Anzahl von Personen wahrgenommen werden kann. Das Merkmal der ?Öffentlichkeit? muss also zur Erfüllung des Tatbestandes der ?Verletzung des öffentlichen Anstandes? immer vorliegen. Nach der geltenden Rechtslage ist jedoch dieses Tatbestandselement an qualifizierte Voraussetzungen gebunden. Wie aber schon aus den Ausführungen unter I.2 hervorgeht, war vom Gesetzgeber nie eine inhaltliche Änderung der ?Verletzung des öffentlichen Anstandes?, sondern nur eine Konkretisierung beabsichtigt?.

 

Schließlich wird festgehalten, dass sich der Landesgesetzgeber bei der mit der Novelle LGBl Nr 69/1987 vorgenommenen Änderung zum Begriff der Öffentlichkeit in den Erläuterungen auch ausdrücklich auf die Entscheidung des VwGH vom 08.02.1965, VwSlg 6578/1965 stützt. Demnach ist es zur Erfüllung des Tatbestandes der Verletzung des öffentlichen Anstandes (nach Art VIII Abs 1 lit a zweiter Fall EGVG 1950) erforderlich, dass zumindest die konkrete Möglichkeit der Kenntnisnahme der Anstandsverletzung über den Kreis der Beteiligten hinaus gegeben ist.

 

Dazu hat der Verwaltungsgerichtshof wörtlich festgehalten: ?Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren und in der Beschwerde vorgebracht, dass sich mit Rücksicht auf die Tageszeit (etwa 5 Uhr früh) außer den beiden am Raufhandel beteiligten Personen niemand auf der Straße befunden habe. Die belangte Behörde hat Feststellungen in diese Richtung nicht getroffen, sondern die Rechtsansicht vertreten, dass eine Verletzung des öffentlichen Anstandes immer schon dann gegeben sei, wenn die Anstandsverletzung an einem öffentlichen Ort begangen worden sei, ohne Rücksicht darauf, ob im Einzelfall die konkrete Möglichkeit bestanden habe, dass dritte Personen das anstandsverletzende Verhalten wahrgenommen hätten. Da die belangte Behörde infolge ihrer unrichtigen Rechtsansicht die notwendigen Feststellungen unterlassen hat, ob im vorliegenden Fall die konkrete Möglichkeit bestanden habe, den Raufhandel wahrzunehmen, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs 2 lit a VwGG 1965 aufzuheben.?

Offenkundig ist der Landesgesetzgeber von diesem Verständnis des Begriffs der Öffentlichkeit ausgegangen, zumal er sich bei der Novellierung eben auf diesen Öffentlichkeitsbegriff bezogen hat und nicht auf jenen, welcher den oben zitierten Entscheidungen aus den Jahren 1982-1985 zu Grunde gelegen ist.

 

Bei der Frage, in wie weit die angeführte Sukzessivöffentlichkeit die Kriterien der Öffentlichkeit des in Rede stehenden Delikts erfüllt, ist sohin einerseits zu berücksichtigen, dass der Tiroler Gesetzgeber nach den wiedergegebenen Erläuterungen diese Sukzessivöffentlichkeit ursprünglich noch ausdrücklich ausschließen wollte. Aus der im Jahr 1987 vorgenommenen Änderung der Begriffsbestimmung kann noch kein gegenteiliger Schluss gezogen werden, da der Gesetzgeber dadurch insbesondere die Qualifikation des größeren Personenkreises, sohin dass die Anstandsverletzung von mehr als 10 Personen wahrgenommen werden muss, nicht weiter aufrecht erhalten wollte, nicht jedoch von vorn herein von der Voraussetzung, dass die Tathandlung unmittelbar in der Öffentlichkeit begangen und somit von mehr als dem unmittelbaren Opfer der Anstandsverletzung wahrgenommen wurde, abgehen wollte. Die gegenteilige Auffassung negiert den Umstand, dass sich der Gesetzgeber ausdrücklich auf die Entscheidung VwSlg 6578/1965 stützt. Den Materialien, welchen bei einer teleologischen Interpretation hervorragende Bedeutung zukommt, kann also insgesamt nicht entnommen werden, dass der Gesetzgeber das Vorliegen der Sukzessivöffentlichkeit in jedem Fall als ausreichend erachtet hat.

 

Auf der anderen Seite ist zu beachten, dass der VwGH die Sukzessivöffentlichkeit dann als ausreichend erachtet hat, wenn die Möglichkeit besteht, dass die Handlung durch einen Zeugen im Hinblick auf den mit der Tat verbundenen Belästigungseffekt auch einer anderen Person bekannt werden wird. Demnach ist zur Prüfung der Frage, ob diese Sukzessivöffentlichkeit nach der angeführten Judikatur des VwGH ausreichend ist, auf die konkrete Anstandsverletzung und deren Belästigungseffekt abzustellen: Soweit erkennbar wurde die Wahrnehmung der Tat lediglich durch einen Zeugen vom VwGH lediglich einmal im Zusammenhang mit dem Onanieren vor einem Friedhof unter Berufung auf die Sukzessivöffentlichkeit als ausreichend erachtet (vgl. VwGH 18.06.1984, 84/10/0023), einer Tat, die zweifelsohne geeignet ist, dass sich die Öffentlichkeit auch bei nicht unmittelbarer Wahrnehmung auf Grund der besonderen Verwerflichkeit der Handlung tatsächlich belästigt sieht. In den anderen Fällen, in welchen sich der VwGH auf die Sukzessivöffentlichkeit bezogen hat (VwGH 27.09.1982, 81/10/0107, 29.04.1985, 85/10/0038, und 30.09.1985, 85/10/0120), wurde die Anstandsverletzung jeweils von mehreren Personen wahrgenommen.

 

Zusammenfassend ist daher nach der aufgezeigten Judikatur des VwGH nicht jede Ordnungsstörung im Hinblick auf die zu fordernde Ausprägung der Öffentlichkeit gleich zu behandeln, sondern ist der in der konkreten Tat realisierte Belästigungseffekt ausschlaggebend dafür, ob bei einem Bericht über diese Tat derselbe Grad der Empörung erzeugt wird wie bei der unmittelbaren Wahrnehmung. Bei einer Beschimpfung wie der dem vorliegenden Verfahren zu Grunde liegenden Bezeichnung als ?Wichser? wird nach Ansicht des Unabhängigen Verwaltungssenates in Tirol noch kein derartiger Grad erreicht, dass mit dem Bericht, dass ein Nachbar einen anderen ebenso bezeichnet habe, bereits ein als öffentliche Anstandsverletzung zu ahnender Belästigungseffekt verbunden ist. Judikatur des VwGH zum Tiroler Landes-Polizeigesetz, die Gegenteiliges nahelegen würde, liegt nicht vor.

 

Bei einer derartigen Beschimpfung ist es somit erforderlich, dass diese tatsächlich von mehr als nur dem Beschimpften wahrgenommen wird, damit das Tatbild realisiert wird. Dies wird auch indirekt durch die neuere Judikatur des VwGH bestätigt, wenn in dieser beispielsweise festgehalten wird, dass einer Äußerung, die in einem Telefongespräch gegenüber einem auf einem Gendarmerieposten befindlichen Gendarmeriebeamten erfolgte, das für die Erfüllung des Tatbildes des § 11 Abs 2 TLPG 1976 erforderliche Merkmal der Öffentlichkeit fehlt (vgl VwGH 20.11.2008, 2005/09/0111). Diese Feststellung des VwGH steht im Widerspruch zur Annahme, dass alleine die Möglichkeit ausreicht, dass die Beschimpfung anderen Personen mitgeteilt und dadurch die geforderte Öffentlichkeit hergestellt wird.

Dazu sei auch auf die Ausführungen von Frühwirth, ?Öffentlicher Anstand, Der Versuch einer Annäherung an einen vagen Begriff?, juridikum 2011, 63, verwiesen, welcher davon ausgeht, dass eine Anstandsverletzung dann nicht vorliegt, wenn die inkriminierte Äußerung überhaupt kein Publikum erreicht; eine Verletzung des öffentlichen Anstandes liegt demnach dann nicht vor, wenn die konkrete Möglichkeit der Kenntnisnahme von der Äußerung über den Kreis der Beteiligten hinaus nicht ohne weiteres anzunehmen ist.

 

Insgesamt war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte
öffentliche Anstandsverletzung; Begriff der Öffentlichkeit fordert in der Regel Wahrnehmbarkeit durch Dritte; Sukzessivöffentlichkeit nicht ausreichend.
Zuletzt aktualisiert am
19.03.2013
Quelle: Unabhängige Verwaltungssenate UVS, http://www.wien.gv.at/uvs/index.html
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