RS VfGH Erkenntnis 2013/03/01 G 106/2012

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Veröffentlicht am 01.03.2013
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Leitsatz
Verstoß der Bestimmungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 über die Sicherung des Lebensunterhaltes als Voraussetzung für die Verleihung der Staatsbürgerschaft gegen das Diskriminierungsverbot behinderter Menschen und gegen das Sachlichkeitsgebot des BVG gegen alle Formen rassischer Diskriminierung Rechtssatz

Aufhebung des § 10 Abs 1 Z 7 StbG 1985 idF BGBl I 37/2006 sowie Abs 5 leg cit idF BGBl I 122/2009.

 

Der Verfassungsgesetzgeber hat mit der Aufnahme eines ausdrücklichen Verbots der Diskriminierung von Behinderten betont, dass staatliche Regelungen, die zu einer Benachteiligung behinderter Menschen führen, einer besonderen sachlichen Rechtfertigung bedürfen.

Das Erfordernis der Selbsterhaltungsfähigkeit für die Erlangung der Staatsbürgerschaft benachteiligt behinderte gegenüber nichtbehinderten Menschen bei der Erlangung dieses Rechts. Denn in einer Reihe von Fällen (und jedenfalls nicht nur in atypischen Härtefällen) führt die Behinderung von Menschen dazu, dass diese wegen des Grades ihrer Behinderung nur erschwerten oder gar keinen Zugang zum Arbeitsmarkt haben. In diesen Fällen sind Menschen mit einer entsprechenden Behinderung aber nach § 10 Abs 1 Z 7 iVm Abs 5 StbG 1985 anders als Menschen ohne Behinderung von vornherein von der Verleihung der Staatsbürgerschaft ausgeschlossen, ohne Rücksicht darauf, ob sie die sonstigen Voraussetzungen zur Verleihung der Staatsbürgerschaft erfüllen, und ohne dass diese Menschen mit Behinderung eine Möglichkeit hätten, diese Benachteiligung gegenüber anderen Menschen aus Eigenem auszugleichen.

§ 10 Abs 1 Z 7 iVm Abs 5 StbG 1985 normiert ausnahmslos die Voraussetzung der Selbsterhaltungsfähigkeit für die Erlangung der Staatsbürgerschaft und behandelt damit Menschen mit Behinderung und nichtbehinderte Menschen gleich. Dies verstößt gegen Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG, weil damit Menschen mit Behinderung, deren Behinderung gerade wesentlich dafür sein kann, dass diese Menschen diese Voraussetzung von vornherein nicht erfüllen können, benachteiligt und damit diskriminiert werden.

Mit dem aus dem BVG gegen alle Formen rassischer Diskriminierung abzuleitenden Sachlichkeitsgebot ist es unvereinbar, wenn der Gesetzgeber die Erlangung der Staatsbürgerschaft - was grundsätzlich unter Sachlichkeitsaspekten nicht zu beanstanden ist (siehe VfSlg 19516/2011, S 398 f) - von der Selbsterhaltungsfähigkeit der diese beantragenden Personen abhängig macht, dann aber keine Vorsorge dafür trifft, dass besondere Ausnahmesituationen unverschuldeter Notlage berücksichtigt werden können. Wie allein schon der Fall dauernd aufenthaltsberechtigter Menschen mit Behinderung zeigt, erweist sich ein ausnahmslos zur Anwendung gelangendes Erfordernis der Selbsterhaltungsfähigkeit als Voraussetzung für die Verleihung der Staatsbürgerschaft als unverhältnismäßig. Auch sonst ist kein Grund ersichtlich, der die generelle Festlegung rechtfertigen könnte, den Anspruch auf Verleihung der Staatsbürgerschaft bei mangelnder Selbsterhaltungsfähigkeit in jedem Fall zu verwehren und damit besondere Ausnahmesituationen unverschuldeter Notlage grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen. Solche Gründe, die jedenfalls so schwer wiegen, dass auch unverschuldet in Notlage geratene Menschen, die alle sonstigen Voraussetzungen für die Verleihung der Staatsbürgerschaft erfüllen würden, es hinnehmen müssten, von dieser wegen ihrer Notlage ausgeschlossen zu sein, sind dem Verfassungsgerichtshof nicht erkennbar.

Dem Gesetzgeber kommt ohne Zweifel ein weiter Gestaltungsspielraum zu festzulegen, wem er den Status eines dauerhaft in Österreich Aufenthaltsberechtigten zuerkennt. Soweit dies aber der Fall ist, haben diese Personen in der Regel unabhängig von der Verleihung der Staatsbürgerschaft gesetzlich geregelten Zugang zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung. Daher kann die in Prüfung gezogene Regelung auch nicht, selbst wenn man auf eine solche Zielsetzung abstellt, mit Hinweis auf die Vermeidung finanzieller Belastungen von Gebietskörperschaften gerechtfertigt werden. Auch sonst ist kein Grund ersichtlich, der eine Rechtfertigung zu begründen vermag.

Zur Beseitigung der Verfassungswidrigkeit reicht es nicht aus, allein die Wortfolge "die ihm eine Lebensführung ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften ermöglichen und" in § 10 Abs 5 StbG 1985 aufzuheben. Denn dann stünde § 10 Abs 1 Z 7 StbG 1985 weiterhin der Verleihung der Staatsbürgerschaft an Personen, deren Lebensunterhalt nicht hinreichend - das heißt gemäß § 10 Abs 5 StbG 1985 nicht durch feste und regelmäßige eigene Einkünfte aus Erwerb, Einkommen, gesetzlichen Unterhaltsansprüchen oder Versicherungsleistungen in ausreichender Weise - gesichert ist, entgegen. Es ist auch - schon wegen Vorschriften wie § 11 Abs 5 NAG - nicht möglich, Sozialhilfeleistungen der Gebietskörperschaften als "eigene Einkünfte" iSd § 10 Abs 5 StbG 1985 zu verstehen.

Ausdehnung der Anlassfallwirkung auf die zum Zeitpunkt des Beginns der Beratungen des VfGH beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Fälle.

 

Anlassfälle B1474/2011, E v 01.03.2013, und B1079/2012, E v 13.03.2013, Aufhebung der angefochtenen Bescheide; Quasi-Anlassfall B1325/2012, E v 13.03.2013.

-GRS-

JFT_20130301_13G00106_00

Schlagworte
Staatsbürgerschaftsrecht, Behinderte, VfGH / Aufhebung Wirkung, VfGH / Anlassverfahren, VfGH / Verwerfungsumfang
Zuletzt aktualisiert am
12.04.2013
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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