TE OGH 2009/9/30 9ObA91/08k

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Veröffentlicht am 30.09.2009
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Rohrer als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Spenling und Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Peter Zeitler und Mag. Michael Zawodsky als weitere Richter in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei E***** AG, *****, vertreten durch Ramsauer Rechtsanwälte GmbH in Salzburg, gegen die beklagte Partei Manuel G*****, vertreten durch Mag. Stefan Guggenberger, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen 6.660,83 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 4. März 2008, GZ 11 Ra 102/07k-32, womit über Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Arbeits- und Sozialgericht vom 12. Juli 2007, GZ 20 Cga 160/06s-28, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die Klägerin vermittelt in Form eines Strukturvertriebs verschiedene Versicherungsprodukte. Der Beklagte war seit 2. 8. 2002 Vertriebspartner der Klägerin. Nach dem Vertriebspartnervertrag definiert sich die Klägerin als ein Wertpapier-Dienstleistungsunternehmen, das sich mit der Vermittlung von Finanzdienstleistungen gemäß § 19 Wertpapieraufsichtsgesetz (WAG) befasst. Zur Durchführung ihrer Dienstleistungen bedient sich die Klägerin einer eigenen Außendienstorganisation von freien Mitarbeitern und Vertriebspartnern.

Zu den Provisionsansprüchen des Beklagten regelt der schriftliche Vertrag unter anderem:

„4.4 Anspruch auf Gutschrift von Provision:

Grundsätzlich besteht nur dann Anspruch auf Gutschrift von Provisionen und Einheiten, wenn der Antrag durch den Vertriebspartner selbst vermittelt worden ist und der Vertriebspartner den Vertrag selbst unterzeichnet hat. Weitere Voraussetzung ist die Annahme des Antrags durch die Gesellschaft. Ist der grundsätzlich einmalige Anspruch auf Provision aus einem Vertrag an Stornohaftungszeiten gebunden, so ist die Gutschrift und eine allfällige Auszahlung ein Akonto.

[...]

4.9 Provisionsabrechnung:

Aus der Provisionsabrechnung kann der Vertriebspartner sämtliche maßgeblichen Daten des vermittelten Geschäftes entnehmen.

4.9.1 Die Gesellschaft erstellt über die einzelnen Ansprüche und Verbindlichkeiten eine entsprechende Aufstellung, aus der Grund und Höhe von Haben- und Sollsalden zu ersehen sind (Provisionsabrechnung).

[...]

4.11 Verrechnung von Sollsalden und Habensalden:

4.11.1 Die Gesellschaft ist berechtigt, Soll- und Habensalden gegenseitig aufzurechnen. Das sich aus Abrechnung und Verrechnung ergebende Guthaben wird an den Vertriebspartner ausbezahlt.

4.11.2 Sollten zu einem Abrechnungsdatum die Habensalden des Vertriebspartners aus Provisionen u.ä. nicht ausreichen, um den Sollsaldo auszugleichen, wird der jeweilige Sollsaldo in die Abrechnung der Folgemonate einbezogen. Diese kontokorrentmäßige Verrechnung ist ausdrücklich zwischen den Vertragsteilen vereinbart. Unabhängig vom aufrechten Vertragsverhältnis ist der Vertriebspartner verpflichtet, im Falle einer Unterdeckung des Provisionskontos den Ausgleichsbetrag binnen Monatsfrist an die Gesellschaft über deren Verlangen zu leisten. Für die Beurteilung einer Unterdeckung ist ein allfälliges Guthaben auf dem Stornoreservekonto unbeachtlich.

4.12 Rückforderungsanspruch

4.12.1 Die Zahlung eines verbleibenden Guthabens durch die Gesellschaft an den Vertriebspartner erfolgt unter dem Vorbehalt der Rückforderung für den Fall, dass sich herausstellen sollte, dass die gemeldeten Salden des Vertriebspartners nicht oder nicht in dieser Höhe bestehen.

4.12.2 Eine Aufrechnungseinrede ist ausgeschlossen. Nach Beendigung des Vertragsverhältnisses wird das Provisionskonto des Vertriebspartners weitergeführt, bis alle Provisionen für Anträge und Verträge, die der Vertriebspartner während der Dauer seiner Tätigkeit vermittelt hat, zur Gänze verdient sind (nach Ablauf der vereinbarten Provisionshaftungszeiten). Ein allfälliges Provisionsguthaben bzw das vereinbarte Stornoreserveguthaben wird erst ausbezahlt, wenn alle Provisionen, die dem Vertriebspartner akontiert wurden, zur Gänze verdient sind. Das Stornoreserveguthaben ist frühestens nach Beendigung des Vertragsverhältnisses zur Auszahlung fällig, sofern für den zuletzt vermittelten Vertrag die Stornohaftungszeit abgelaufen ist.

4.13 Gemeinsame Bestimmungen für alle Provisionsansprüche

4.13.1 Die Gesellschaft ist berechtigt, mindestens 15 % der Provisionsansprüche als Stornoreserve des Vertriebspartners einzubehalten.

[...]

4.13.2 Die Stornoreserve wird nicht verzinst.

[...]

4.15 Stornohaftungszeiten:

In der Assekuranz gilt der Grundsatz 'die Provision teilt das Schicksal der Prämie'."

Nach Unterzeichnung des Vertrags Anfang August 2002 war es Aufgabe des Beklagten, Kunden zu akquirieren, sie zu betreuen und mögliche Kunden zu Anträgen zu bewegen. Solche Neuanträge wurden vorgelegt, eingereicht und nach der Polizzierung auch verprovisioniert. Dem Beklagten wurde für jedes vermittelte Geschäft, das vom Drittpartner, einem Versicherungsunternehmen, angenommen wird, eine Provision bezahlt. Er erhielt in 14-tägigen Abständen Provisionsabrechnungen, aus denen ganz genau ersichtlich war, welcher Vertrag provisioniert wurde, wie hoch die Provision ist und wie lange der Haftungszeitraum läuft, oder ob überhaupt Haftungszeiten einzuhalten waren. Dies wurde je nach Produkt unterschiedlich gehandhabt. Aus weiteren Anhängen war ersichtlich, welche Verträge zur Bearbeitung vorgelegt, aber noch nicht polizziert waren. Schließlich wurde auch eine Stornowarnungsliste angeschlossen, in der jene Verträge genannt wurden, bei denen die Gefahr eines Stornos bestand. Wurde ein Vertrag storniert, so wurde die entsprechende Provision rückverrechnet, dies wurde dem Beklagten bekannt gegeben.

Der Beklagte mietete ein Büro von seinem in der Hierarchie Vorgesetzten, dem er dafür auch - teilweise im Weg der Verrechnung über die Klägerin - Bürokosten anteilig zahlte. Der Beklagte arbeitete mit einem eigenen PC, er zahlte die Telefonkosten für die Benutzung des im Büro vorhandenen Telefons selbst. Teils arbeitete er mit eigenen Betriebsmitteln, teils mit solchen der Klägerin, die Bilanzanalysen, Werbematerial und Prospekte zur Verfügung gestellt hatte. Schreibblöcke und Werbemittel bezog der Beklagte von der Klägerin, musste sie ihr jedoch bezahlen. Eine Anwesenheitspflicht bestand für den Beklagten, wenn Seminare und Schulungsveranstaltungen für Mitarbeiter abgehalten wurden. Es wurde ihm nahe gelegt, spätestens ab 10 Uhr vormittags im Büro anwesend zu sein, darüber hinaus gab es keine konkreten Arbeitszeitvorgaben. Urlaubsvereinbarungen traf der Beklagte nicht, er teilte lediglich den Urlaubsantritt mit. Dies wurde auch im Fall einer Erkrankung so gehandhabt, wobei während der Zeit eines Krankenstands keine Entgeltfortzahlung geleistet wurde. Es gab keine Vorgaben für den Beklagten, welche Kunden er zu besuchen hatte. Der Beklagte war einkommensteuerpflichtig und musste selbst für seine Sozialversicherung Sorge treffen. Während der Zeit seiner Tätigkeit für die Klägerin bezog er sein Einkommen ausschließlich aus deren Provisionszahlungen, er hatte keinen anderen Verdienst. Wöchentlich hatte der Beklagte Pläne und Arbeitsberichte vorzulegen, aus denen eine detaillierte Darstellung seiner Aktivitäten ersichtlich war. Im Fall der Nichteinhaltung der Vorgaben der Klägerin waren zwar keine disziplinären Konsequenzen angedroht, dem Beklagten wurde jedoch bedeutet, dass allenfalls eine Vertragsauflösung durch die Klägerin vorgenommen werden könnte.

Zwischen der Einreichung, Bearbeitung und Polizzierung eines Antrags vergehen oft mehrere Wochen bis zu drei Monaten. Um eine gewisse finanzielle Erleichterung für den Beklagten zu schaffen, leistete die Klägerin Provisionsvorschusszahlungen auf sein Provisionskonto, die dort als Belastungen verbucht wurden. Nach der Verpolizzierung wurden Provisionen als Guthaben rückgebucht.

Zwischen Dezember 2004 und August 2005 leistete der Beklagte seinen Präsenzdienst beim Österreichischen Bundesheer und konnte in dieser Zeit nicht für die Klägerin arbeiten. Nach Beendigung des Präsenzdienstes wies das Provisionsverrechnungskonto des Beklagten einen Negativsaldo von 7.510,16 EUR aus. Der Beklagte teilte, weil er befürchtete, seinen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten zu können, seine Absicht mit, das Vertragsverhältnis aufzulösen. Seine Vorgesetzten schlugen ihm darauf vor, die Provisionsverrechnung „auf Null" zu stellen, der Negativsaldo solle auf einem neuen Konto als Belastung angeschrieben werden. Die Streitteile trafen eine Ratenzahlungsvereinbarung über diesen Negativsaldo von 7.510,16 EUR am 29. 8. 2005, nach der sich der Beklagte verpflichtete, diesen Saldo in monatlichen Raten von mindestens 500 EUR zurückzuzahlen, weiters wurden 7 % Zinsen seit 5. 8. 2005 vereinbart.

Der Beklagte leistete zwei Ratenzahlungen. Vom Provisionsverrechnungskonto erhielt er in weiterer Folge Provisionsvorschüsse ausbezahlt. Das Provisionsverrechnungskonto wurde bis Dezember 2005 neuerlich „auf Null" gestellt, ab Ende Dezember 2005 wurden dem Beklagten vorläufig keine Zahlungen mehr geleistet. Der Beklagte war der Ansicht, dass er zu Ende Dezember 2005 etwa 1.600 EUR verdient habe, es erfolgte jedoch keine Überweisung dieses Betrags durch die Klägerin.

Der Beklagte urgierte und ihm wurde mitgeteilt, dass der Negativsaldo auf seinem Provisionsverrechnungskonto bereits derartig hoch sei, dass ihm kein Provisionsakonto mehr ausbezahlt werden könne, weil die verdienten Provisionen zum Abbau des Negativsaldos auf dem Provisionsverrechnungskonto zugeführt würden.

Am 14. 1. 2006 kündigte der Beklagte den Vertriebspartnervertrag zur Klägerin zum Schluss des Kalenderquartals mit 31. 3. 2006 auf und ersuchte, noch ausständige Provisionen auf ein von ihm genanntes Konto zu überweisen. Der Beklagte hatte sich außer Stande gesehen, durch eine weitere Tätigkeit bei der Klägerin sein notwendiges Einkommen zu erzielen.

Ende Jänner 2006 wurden aufgrund der Kündigung des Beklagten und nach Urgenzen die um die Weihnachtszeit 2005 verdienten Provisionen an ihn bzw auf ein von ihm angegebenes Konto überwiesen. Der Beklagte wurde von der Klägerin informiert, dass bisher die Raten aufgrund der Ratenzahlungsvereinbarung zu Lasten des Provisionskontos gebucht worden waren, was nach Beendigung seines Vertragsverhältnisses zur Klägerin nicht mehr möglich sei, sodass er ab dem 1. 2. 2006 seinen monatlichen Ratenzahlungsverpflichtungen durch Überweisung nachkommen solle. Aus der Ratenzahlungsvereinbarung bestand mit 17. 3. 2006 unter Berücksichtigung von Zinsen ein Minusstand von 6.660,83 EUR.

Auch nach seinem Ausscheiden bei der Klägerin wird der Beklagte weiterhin über den Stornoreservenstand informiert, weil die Provisionskonten wegen der noch nicht abgelaufenen Haftungszeiträume für einzelne von ihm vermittelte Verträge weitergeführt werden. Soweit Stornohaftungszeiten abgelaufen sind, wurde der Provisionsanspruch des Beklagten endgültig verdient, einige Verträge wurden jedoch storniert, bei anderen ist die Stornohaftungszeit noch nicht abgelaufen. Per 21. 3. 2006 betrug die Stornoreserve zugunsten des Beklagten 3.287,40 EUR, diese Höhe hat sich jedoch zum Zeitpunkt des Schlusses der Verhandlung erster Instanz weiter verändert.

Mit der Klage begehrt die Klägerin aus dem Titel der Provisionsüberzahlung den Betrag von 6.660,83 EUR brutto. Diesen schulde der Beklagte vereinbarungsgemäß.

Der Beklagte wandte zusammengefasst ein, dass er die ihm vorgelegten Vereinbarungen unter Druck habe unterfertigen müssen. Wenn überhaupt, liege nur ein deklaratives Anerkenntnis vor. Ihm gegenüber sei der Anspruch auf Auszahlung der Stornoreserve nicht offen gelegt worden, sodass ein von der Klägerin veranlasster Irrtum vorliege. Die Vertragsklauseln seien im Sinn des § 879 Abs 3 ABGB gröblich benachteiligend, insbesondere jene über die sogenannte Stornoreserve. Aus dieser erfolge einerseits keine Verzinsung, sie sei andererseits erst dann zur Auszahlung fällig, wenn auch für den letzten vom Beklagten vermittelten Vertrag die Haftungszeit abgelaufen sei. Aufgrund der Arbeitnehmerähnlichkeit des Beklagten verstoße diese Art der Kautionsbestellung gegen das Kautionsschutzgesetz. Der Beklagte wandte daher den ihm zustehenden Anspruch auf Auszahlung aus der Stornoreserve in Höhe von 3.672,40 EUR im Wege der Aufrechnung gegen das Klagebegehren ein.

Die Klägerin habe ihre Provisionszahlungen eingestellt. Diese unberechtigte Vorgangsweise habe die Auflösung des Vertragsverhältnisses durch den Beklagten begründet. Diesem stehe, weil die Klägerin weiterhin aus den ihr von ihm zugeführten Kunden Vorteile ziehe, ein Ausgleichsanspruch in Höhe eines durchschnittlichen Jahresverdienstes von 10.719,07 EUR zu, der ebenfalls im Weg der Aufrechnung gegen das Klagebegehren eingewandt wurde.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren zusammengefasst in der Hauptsache statt und wies einen Teil des Zinsenbegehrens unangefochten ab. Es sprach aus, dass die Gegenforderungen des Beklagten nicht zu Recht bestehen. Rechtlich führte es aus, dass der Provisionsvorschuss ein zinsenloses Darlehen darstelle, der nur dann nicht mehr zurückgezahlt werden müsse, wenn die Provision tatsächlich verdient sei. Das Anlegen von Stornoreserven sei in der Versicherungssparte allgemein üblich. Die zwischen den Streitteilen getroffene Vereinbarung entspreche inhaltlich den Regelungen des § 10 Abs 3 AngG bzw § 6 Abs 2 HVertrG. Die Vertragsbestimmungen über den Provisionsanspruch des Beklagten seien daher nicht sittenwidrig. Auch könne sich der Kläger nicht auf gutgläubigen Verbrauch der ihm zunächst gutgeschriebenen Provisionsbeträge berufen.

Der Gegenforderung betreffend das Guthaben des Beklagten aus der Stornoreserve stehe entgegen, dass eine Aufrechnung vertraglich ausgeschlossen wurde und die Stornoreserve noch nicht fällig sei (§ 1439 ABGB). Ein Ausgleichsanspruch des Beklagten bestehe nicht, weil weder eine ungebührliche Schmälerung von Provisionsansprüchen noch sonst ein wichtiger Grund gemäß § 22 HVertrG vorliege und der Beklagte den Vertrag selbst gekündigt habe.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Beklagten keine Folge. Der auf das Kautionsschutzgesetz gestützte Einwand des Beklagten sei nicht berechtigt. Zwar gelte das Kautionsschutzgesetz auch für arbeitnehmerähnliche Personen, damit sei aber noch keine Aussage darüber getroffen, ob der Zweck dieses Gesetzes seine gänzliche Anwendung gebiete. In der Entscheidung 8 ObA 57/06z habe der Oberste Gerichtshof in einem vergleichbaren Sachverhalt entschieden, dass eine Sicherstellung für Ansprüche, deren sofortige Begleichung die Vertragspartner zulässigerweise hätten vereinbaren können, dem Kautionsschutzgesetz nicht widerspreche. Da schon eine analoge Anwendung des Kautionsschutzgesetzes nicht in Betracht komme, müsse auf die Frage der Arbeitnehmerähnlichkeit des Beklagten nicht mehr weiter eingegangen werden. Im Übrigen sei die Aufrechnung zwischen den Streitteilen vertraglich ausgeschlossen gewesen.

Die Vereinbarung betreffend die Stornoreserve verstoße nicht gegen § 879 ABGB. Das Vertragsverhältnis der Streitteile müsse über die gesamte Vertragsdauer hinweg betrachtet werden. In der Anfangsphase trage aber die Klägerin das überwiegende wirtschaftliche Risiko weil sie Vorschüsse leiste und das tatsächliche Ausfallsrisiko mit einer Stornoreserve von 15 % keinesfalls gedeckt sei. In der danach folgenden Phase der eigentlichen Geschäftsbeziehung seien die Risken auf beide Seiten gleich verteilt. In der Vertragsbeendigungsphase werde die Reserve zurückgehalten, was dem noch zu erwartenden Risiko entspreche. Im Hinblick auf den dem Beklagten gewährten Vorteil in der Anfangsphase - er habe etwa Zinsen aus den ihm gewährten Vorschüssen lukrieren können, obwohl er mit der jederzeitigen Rückbuchung von Provisionen habe rechnen müssen - sei jedoch insgesamt keine gröbliche Benachteiligung zu erkennen.

Der Ausgleichsanspruch des Beklagten bestehe nicht zu Recht, weil er ihn nicht innerhalb der Jahresfrist des § 24 Abs 5 HVertrG geltend gemacht habe, sondern erstmals mit dem am 6. 7. 2007 beim Erstgericht eingelangten Schriftsatz. Darüber hinaus sei der Anspruch des Beklagten verwirkt, weil er nicht innerhalb angemessener Zeit nach Kenntnis des dem Unternehmer zurechenbaren Umstands das Vertragsverhältnis aufgelöst habe. Die vom Beklagten nunmehr vorgebrachten strukturellen Probleme seien von ihm offensichtlich jahrelang hingenommen worden. Der Vorwurf der sittenwidrigen Vereinbarung betreffend die Stornoreserve sei nicht berechtigt. Ein anspruchswahrender begründeter Anlass zur Kündigung habe nicht bestanden.

Das Berufungsgericht erklärte die Revision für zulässig, weil der Frage der Sittenwidrigkeit der Vereinbarung zur Stornoreserve eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukomme und zur Frage der Verwirkung des Ausgleichsanspruchs keine höchstgerichtliche Judikatur vorgefunden werden konnte.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Beklagten aus den Revisionsgründen der Aktenwidrigkeit und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im klageabweisenden Sinn abzuändern, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil die vom Revisionswerber gerügte Aktenwidrigkeit des Berufungsverfahrens vorliegt, sie ist teilweise berechtigt.

1. Zur Gegenforderung des Beklagten im Zusammenhang mit der Zurückbehaltung der Stornoreserve:

Der Revisionswerber führt zusammengefasst aus, dass entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts Sittenwidrigkeit dieser Vereinbarung anzunehmen sei. Im Extremfall könne das Stornoreserveguthaben hinsichtlich eines Vertrags, den der Beklagte zum Beispiel im Alter von 20 Jahren abgeschlossen habe, erst nach Ablauf jenes Stornohaftungszeitraums eines Vertrags ausbezahlt werden, den er erst im Alter von 65 Jahren vermittelt habe. Das Vertragsverhältnis könne nicht in Phasen unterteilt werden. Die gröbliche Benachteiligung des Beklagten ergebe sich daraus, dass die Stornoreserve nicht verzinst werde, dass sie ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Haftungszeiträume einbehalten werde. Weiters werde die Stornoreserve aus sämtlichen Provisionen gebildet, auch wenn gar kein Stornorisiko bestehe, die Einbehaltung der Stornoreserve entspreche auch zeitlich nicht dem Risiko. Demgegenüber seien die nach der Vereinbarung zurückzuzahlenden Provisionen nach der hier konkreten Vertragslage jedoch sehr wohl zu verzinsen. Überdies würden auch Provisionen aus Eigengeschäften zur Gänze in die Stornoreserve eingerechnet. Die Sittenwidrigkeit der Vereinbarung ergebe sich auch daraus, dass das Vertragsverhältnis der Streitteile als arbeitnehmerähnlich zu qualifizieren sei.

Die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts kann sich nicht nur aus seinem Inhalt, sondern aus dem Gesamtcharakter der Vereinbarung - im Sinn einer zusammenfassenden Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck - ergeben, weshalb es insbesondere auch auf alle Umstände ankommt, unter denen das Rechtsgeschäft geschlossen wurde (RIS-Justiz RS0022884). Falls ein gesetzliches Verbot fehlt, kann Sittenwidrigkeit iSd § 879 ABGB nur dann angenommen werden, wenn die Interessenabwägung eine grobe Verletzung rechtlich geschützter Interessen oder bei Interessenkollision ein grobes Missverhältnis zwischen den durch die Handlung verletzten und den durch sie geförderten Interessen ergibt (RIS-Justiz RS0045886). Der Oberste Gerichtshof hat etwa in seiner Entscheidung 4 Ob 76/84 eine Vereinbarung, wonach der Provisionsanspruch in der vereinbarten Höhe erst nach Eingang der Prämie und nur unter der Bedingung erworben wird, dass die Versicherung durch die volle vereinbarte Dauer aufrecht bleibt, widrigenfalls der Differenzbetrag zwischen verrechneter und - entsprechend der tatsächlichen Vertragsdauer - geringerer Provision rückzuvergüten ist, als nicht sittenwidrig angesehen.

Nach den Feststellungen ist hier bei einigen Verträgen die Stornohaftungszeit noch nicht abgelaufen, andere aber sind schon aus der Stornohaftungszeit „herausgefallen". Ein näheres Vorbringen, ob oder welche konkreten Verträge ungewöhnlich lange Stornohaftungszeiten haben, erstattete der Beklagte nicht. Die Stornoreserve betrug am 21. 3. 2006 zugunsten des Beklagten 3.287,40 EUR, sie veränderte sich jedoch noch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz. Die Stornoreserve wird zwar nicht verzinst, umgekehrt konnte der Beklagte aber über Provisionsvorschusszahlungen schon geraume Zeit vor der Polizzierung der von ihm vermittelten Verträge verfügen. Der Beklagte brachte lediglich vor, dass der längste Haftungszeitraum „etwa im Bereich der Unfallversicherungen" 10 Jahre dauere (ON 17). Bis dahin hat der Beklagte aber bereits 85 % der Provision erhalten, ohne eine jährlich nur aliquote Auszahlung hinnehmen zu müssen. Vor diesem Hintergrund kann bei einer Gesamtbetrachtung im konkreten Fall - auch im Hinblick auf die Dauer des Vertragsverhältnisses und die in Relation dazu nicht übermäßige Höhe der Stornoreserve - auf die zutreffende Rechtsansicht des Berufungsgerichts verwiesen werden, wonach in der Vereinbarung der Streitteile über den Rückbehalt einer Stornoreserve kein grobes Missverhältnis iSd § 879 ABGB besteht (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO).

2. Zur weiteren Gegenforderung aus dem Titel der Ausgleichszulage:

Zu Recht macht der Revisionswerber in diesem Zusammenhang den Revisionsgrund der Aktenwidrigkeit (§ 503 Z 3 ZPO) geltend:

Der Beklagte brachte im Verfahren erster Instanz ausdrücklich vor, dass ihm ein Ausgleichsanspruch gemäß § 24 HVertrG zustehe, den er innerhalb eines Jahres nach Beendigung des Vertragsverhältnisses gegenüber der Klägerin erklärt habe (ON 26, Punkt 5 = AS 121). Zum Beweis dafür legte der Beklagte das Schreiben vom 29. 1. 2007 (Beilage ./6) vor. Er brachte weiters vor, dass er der Klägerin durch seine Tätigkeit neue Kunden zugeführt habe und zu erwarten sei, dass diese durch die Vermittlung von Dauerschuldverhältnissen auch weiterhin Vorteile daraus ziehe. Dieses Vorbringen wurde vom Erstgericht nicht erörtert.

Um den Ausgleichsanspruch zu wahren, hat ihn der Handelsvertreter gemäß § 24 Abs 5 HVertrG innerhalb eines Jahres nach dem rechtlichen Ende des Handelsvertretervertrags (dies ist im konkreten Fall der 31. 3. 2006) geltend zu machen. Dabei ist eine bestimmte Form nicht vorgeschrieben, eine gerichtliche Geltendmachung ist jedoch nicht erforderlich (Nocker, HVertrG § 24 Rz 758). Zur Wahrung des Anspruchs genügt die rechtzeitige Mitteilung an den Unternehmer, dass ein Ausgleichsanspruch geltend gemacht werde, eine Bezifferung dieses Anspruchs ist zu diesem Zeitpunkt nicht nötig. Sollte sich daher im fortzusetzenden Verfahren dieses Vorbringen des Beklagten als zutreffend herausstellen, kann von einer verspäteten Geltendmachung seines Ausgleichsanspruchs nicht ausgegangen werden.

Schließlich brachte der Beklagte auch vor, dass sich durch die plötzliche Einstellung der Provisionszahlungen entgegen der Zusage seines Vorgesetzten und die weitere (im Schriftsatz ON 26) dargestellte Vorgangsweise der Klägerin ergebe, dass die von ihm vorgenommene Auflösung des Vertrags zur Klägerin aus begründetem Anlass erfolgt sei. Das Erstgericht traf dazu Feststellungen, die der Beklagte als nicht ausreichend erachtete, sodass er deren Fehlen im Rahmen der Berufung als sekundäre Mangelhaftigkeit des Verfahrens rügte (Punkt 5. der Berufung).

Das Berufungsgericht führte in diesem Zusammenhang aus, dass der Beklagte den Ausgleichsanspruch nicht binnen Jahresfrist, sondern erstmals mit dem am 6. 7. 2007 beim Erstgericht eingelangten Schriftsatz geltend gemacht habe. Dies steht einerseits mit dem Vorbringen des Beklagten im Widerspruch, andererseits traf das Erstgericht dazu keine Feststellungen. Denn das Erstgericht ging in seiner rechtlichen Beurteilung davon aus, dass ein wichtiger Grund, der den Beklagten zur Auflösung des Vertrags berechtigt hätte, nicht vorliege.

Das Berufungsgericht führt weiter aus, dass der Ausgleichsanspruch des Beklagten verwirkt sei, weil er nicht geltend gemacht habe, dass ihm nunmehr neue, geänderte Umstände zur Vertragsauflösung veranlasst haben. Dem ist entgegen zu halten, dass sich aus den bisher getroffenen Feststellungen eine Verwirkung eines Ausgleichsanspruchs des Beklagten nicht ergibt: Das Erstgericht stellte fest, dass der Beklagte Ende Dezember 2005 Provisionen urgierte, die ihm jedoch nicht überwiesen wurden. Daraufhin kündigte der Beklagte am 14. 1. 2006 den Vertriebspartnervertrag zum 31. 3. 2006. Das Erstgericht hielt zwar in diesem Zusammenhang fest, dass sich der Beklagte außer Stande gesehen habe, durch eine weitere Tätigkeit bei der Klägerin sein notwendiges Einkommen zu verdienen. Es stellte jedoch ebenfalls fest, dass bereits Ende Jänner 2006 aufgrund der Kündigung des Beklagten und seiner Urgenzen die um die Weihnachtszeit 2005 verdienten Provisionen an ihn überwiesen wurden.

Dazu brachte der Beklagte wie ausgeführt nicht vor, dass ihn „strukturelle Probleme" zur Auflösung des Vertrags veranlasst hätten, die er „offensichtlich bereits jahrelang hingenommen" habe. Im Gegenteil stützte er sein Vorbringen ausdrücklich auf die plötzliche Einstellung der Provisionsvorauszahlungen durch die Klägerin.

Damit erweist sich aber die Rechtssache im Umfang der geltend gemachten Gegenforderung aus dem Titel des Ausgleichsanspruchs, die die Klageforderung übersteigt, als noch nicht entscheidungsreif.

Der Oberste Gerichtshof hat bereits ausgeführt, dass das HVertrG auf die Vermittlung von Versicherungsverträgen anwendbar ist (8 ObA 65/06a; RIS-Justiz RS0121659; RS0121660). Der Handelsvertreter muss bei der Kündigung des Vertrags nicht darauf hinweisen, dass er die Kündigung aus dem Unternehmer zurechenbaren Umständen erklärt hat, um seinen Ausgleichsanspruch zu wahren (RIS-Justiz RS0118824). Ein begründeter Anlass, der dem Handelsvertreter den Ausgleichsanspruch trotz Eigenkündigung wahrt, kann grundsätzlich in jedem Verhalten (Tun oder Unterlassen) des Unternehmers bestehen (9 ObA 18/09a mwN). Der Begriff des „begründeten Anlasses" ist weit auszulegen, auch eine aus dem betrieblichen Verhalten des Unternehmers entwickelte wirtschaftliche Lage kann einen begründeten Anlass darstellen. Entscheidend ist, dass das Verhalten des Unternehmers einen vernünftigen und billig denkenden Handelsvertreter zur Kündigung veranlassen kann, weil ihm die Fortsetzung des Vertragsverhältnisses nicht mehr zumutbar ist (9 ObA 18/09a).

Nach den bisherigen Feststellungen kann noch nicht beurteilt werden, ob eine ungebührliche Schmälerung oder ein Vorenthalten von Provisionsansprüchen des Beklagten ab Dezember 2005 durch die Klägerin gegeben war. Insbesondere stellte das Erstgericht fest, dass im zeitlichen Nahezusammenhang mit der Kündigung des Beklagten über seine Urgenzen (und wegen der Kündigung) die um die Weihnachtszeit 2005 verdienten Provisionen durch die Klägerin an den Beklagten überwiesen wurden. Weiters brachte der Beklagte wie ausgeführt vor, dass die plötzliche Einstellung der Provisionszahlungen entgegen der Zusage eines seiner Vorgesetzten erfolgt sei, womit sich aber das Erstgericht, das lediglich auf die Bestimmungen des schriftlichen Vertrags zwischen den Streitteilen Bezug nahm, nicht auseinandersetzte.

Zur Entscheidung über die Gegenforderung des Beklagten aus dem Titel des Ausgleichsanspruchs bedarf es daher einerseits einer ergänzenden Erörterung dieses Anspruchs, aber andererseits auch ergänzender Feststellungen durch das Erstgericht, sodass die Zurückverweisung der Rechtssache an dieses iSd § 510 Abs 1 ZPO geboten ist.

Der Revisionswerber bestritt in seinen Revisionsausführungen nicht die Entscheidungsgrundlagen über das Klagebegehren. Dennoch liegen die Voraussetzungen für die Fällung eines Teilurteils nicht vor: Nach den Feststellungen trafen die Streitteile neben dem eigentlichen Vertriebspartnervertrag am 29. 8. 2005 eine gesonderte Ratenzahlungsvereinbarung, in deren Rahmen der Beklagte den nunmehr geltend gemachten Negativsaldo zurückzahlen sollte. Forderung und Gegenforderung stammen daher zwar nicht aus einem einheitlichen Vertrag, es besteht zwischen beiden Ansprüchen jedoch ein inniger wirtschaftlicher Zusammenhang, der die Durchsetzung des Klageanspruchs ohne Rücksicht auf den Gegenanspruch als Treu und Glauben widersprechend erscheinen ließe (Deixler-Hübner in Fasching/Konecny² § 391 Rz 57; Klauser/Kodek, ZPO16 § 391 E 85).

Die aus diesem Titel geltend gemachte Gegenforderung übersteigt der Höhe nach das Klagebegehren. Der Revision war daher im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags Folge zu geben und die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Vorbehalt der Kostenentscheidung beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E91916

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:009OBA00091.08K.0930.000

Im RIS seit

30.10.2009

Zuletzt aktualisiert am

20.01.2014
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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