Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. Nowotny als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj J***** S***** S*****, geboren am 30. September 1999, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter R***** S*****, vertreten durch Dr. Peter-Leo Kirste, Rechtsanwalt in Salzburg, als Verfahrenshelfer, gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 30. Juni 2010, AZ 21 R 71/10b, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen (§ 71 Abs 3 AußStrG).
Text
Begründung:
Die Rechtsmittelwerberin begründet die Zulässigkeit ihres außerordentlichen Revisionsrekurses damit, dass das Rekursgericht von der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 2 Ob 270/04a abgewichen sei.
Rechtliche Beurteilung
Eine iSd § 62 Abs 1 AußStrG erhebliche Rechtsfrage wird damit nicht aufgezeigt, hängt doch die Entscheidung nicht von der Lösung der bezeichneten Rechtsfrage ab.
Wird der Jugendwohlfahrtsträger im Rahmen seiner Interimskompetenz nach § 215 Abs 1 Satz 2 ABGB tätig, weil er eine offenkundige Gefährdung des Kindeswohls und die Notwendigkeit einer Änderung des bestehenden Zustands annimmt, so ist er berechtigt und verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst zu treffen, wenn er unverzüglich, jedenfalls aber binnen acht Tagen, diese Entscheidung beantragt. Im Umfang der getroffenen Maßnahmen ist er kraft Gesetzes mit der Obsorge betraut (§ 215 Abs 1 letzter Satz ABGB). Eine „Maßnahme der Übernahme der Obsorge“ trifft der Jugendwohlfahrtsträger nicht, sodass deren Unrechtmäßigkeit, wie von der Rechtsmittelwerberin angestrebt, auch nicht festgestellt werden kann.
Dem Gericht obliegt es dann, rasche Nachforschungen anzustellen, um entscheiden zu können, ob diese Maßnahmen bis zur endgültigen Entscheidung aufrecht bleiben, sofern es diese für gerechtfertigt hält (1 Ob 60/05p mwN). Nimmt das Pflegschaftsgericht aber keine Gefährdung oder keine Rechtfertigung der Maßnahme an, hat es die vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Maßnahmen durch gerichtliche Verfügung abzuändern. Für eine pflegschaftsgerichtliche Genehmigung der Maßnahmen des Jugendwohlfahrtsträgers oder deckungsgleiche eigene Maßnahmen nach § 176 ABGB ist hingegen kein Raum (RIS-Justiz RS0007018).
Der Oberste Gerichtshof hat in der Entscheidung 1 Ob 60/05p ausgesprochen, dass die Zulässigkeit eines Antrags auf Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Maßnahme dem Gesetz nicht entnommen werden könne. Es bestehe eine gerichtliche Kontrolle der vom Jugendwohlfahrtsträger getroffenen Maßnahmen. Das Gericht habe es jederzeit in der Hand, die Maßnahmen abzuändern oder zu beenden. Bis dahin bleibe die vorläufige Maßnahme aufrecht und wirksam. Sobald das Pflegschaftsgericht ausreichende Entscheidungsgrundlagen gewonnen habe, um beurteilen zu können, dass die Maßnahme unrichtig gewesen sei, habe es unverzüglich eine gegenteilige Verfügung zu treffen. Für eine feststellende Entscheidung, die im Übrigen nie früher ergehen könnte, bleibe weder Raum, noch sei ein Bedürfnis danach erkennbar. Diese Entscheidung betrifft den Fall, dass die vom Jugendwohlfahrtsträger getroffene Maßnahme noch nicht beendet wurde.
Der Oberste Gerichtshof hat für den Fall, dass die vorläufige Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers nicht mehr aufrecht ist, ausgesprochen (2 Ob 270/04a): In Fällen, in denen durch eine Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers das Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art 8 EMRK) berührt werde, habe der von der Maßnahme in seinen Rechten Beeinträchtigte auch nach Aufhebung der einschränkenden Maßnahme weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung, ob die Einschränkung zu Recht erfolgte. Die im Rechtssatz RIS-Justiz RS0007018 (T10), auf den das Rekursgericht seine Auffassung stützte, gemachte Einschränkung, dass nur über Antrag des Minderjährigen auszusprechen sei, ob die Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers rechtmäßig gewesen sei oder nicht, entspricht nicht dem Inhalt der Entscheidung 2 Ob 270/04a und der im ersten Rechtsgang des zugrunde liegenden Verfahrens ergangenen Entscheidung 2 Ob 13/04g. Für die Rechtsmittelwerberin ist daraus aber nichts zu gewinnen:
Sie beantragte in erster Instanz am 7. 12. 2009 die Feststellung, dass die vom Jugendwohlfahrtsträger am 9. 10. 2009 angeordnete Unterbringung im Kinderspital seit 20 .11. 2009 nicht mehr gerechtfertigt sei. Das Kind war seit 9. 11. 2009 nicht mehr in einer Krankenanstalt, sondern in einem Kinderkrisenzentrum untergebracht. Die Unterbringung im Kinderkrisenzentrum wurde - während des Rekursverfahrens - am 20. 2. 2010 beendet und der Minderjährige zu seiner allein obsorgeberechtigten Mutter zurückgeführt. Mit ihrem - für den Obersten Gerichtshof maßgeblichen (§ 70 Abs 1 AußStrG) - Revisionsrekursbegehren strebt sie an, die Fremdunterbringung des Minderjährigen ab 24. 11. 2009 für nicht rechtmäßig zu erklären. Diese Erweiterung des Antrags auf Feststellung der Rechtswidrigkeit auch einer anderen Unterbringung ist ein unzulässiger neuer Sachantrag (RIS-Justiz RS0006796; RS0006891 [T4]; RS0006897 [T2, T3]). Eine Feststellung wie in erster Instanz begehrt ist nicht möglich, weil sie einen Zeitraum betrifft, in dem der Minderjährige nicht mehr im Kinderspital untergebracht war.
Schlagworte
FamilienrechtTextnummer
E96145European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2011:0060OB00001.11G.0128.000Im RIS seit
08.02.2011Zuletzt aktualisiert am
23.03.2011