Index
10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AVG §13;Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):96/19/3213Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stoll und die Hofräte Dr. Zens, Dr. Bayjones, Dr. Schick und Dr. Hinterwirth als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Paal, über die Beschwerden 1. der geborenen N D, und 2. der 1993 geborenen A D, beide in W, beide vertreten durch Dr. W, Rechtsanwalt in Wien, gegen die Bescheide des Bundesministers für Inneres jeweils vom 21. Februar 1996,
1. Zl. 111.685/4-III/11/96, und 2. Zl. 111.685/5-III/11/96, jeweils betreffend Wiederaufnahme des Verfahrens i.A. Aufenthaltsbewilligung, zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den Beschwerdeführerinnen Aufwendungen in der Höhe von jeweils S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Erstbeschwerdeführerin ist die Mutter der Zweitbeschwerdeführerin. Die Beschwerdeführerinnen verfügten zuletzt über Aufenthaltsbewilligungen vom 15. Jänner 1995 bis 22. Mai 1995. Sie beantragten jeweils am 20. April 1995 (Einlangen beim Landeshauptmann von Wien) die Erteilung einer Bewilligung nach dem Aufenthaltsgesetz zum Zwecke der Ausübung einer unselbstständigen Tätigkeit (Erstbeschwerdeführerin) bzw. Familiengemeinschaft mit der namentlich angeführten Mutter (Zweitbeschwerdeführerin).
Der Landeshauptmann von Wien wies mit Bescheiden vom 17. Mai 1995 den Antrag der Erstbeschwerdeführerin mangels einer für Inländer ortsüblichen Unterkunft in Österreich gemäß § 5 Abs. 1 AufG, den Antrag der Zweitbeschwerdeführerin gemäß § 4 Abs. 4 AufG ab. Die Zustellung dieser Bescheide durch Hinterlegung erfolgte jeweils am 29. Mai 1995.
Mit am 16. Juni 1995 zur Post gegebenem Schriftsatz beantragte die Erstbeschwerdeführerin (auch in Vertretung der Zweitbeschwerdeführerin) die "Wiederaufnahme des Verfahrens der Erteilung der Aufenthaltsbewilligungen" und brachte vor, sie hätten sich für die Berufung gegen die ihre Anträge ablehnenden Bescheide an einen türkischen Dolmetsch gewendet, der sie leider über die Rechtsmittelfrist falsch informiert habe. Daher sei die Rechtsmittelfrist verstrichen, ohne dass sie Berufung hätten einlegen können. Sie wende sich nunmehr an die erstinstanzliche Behörde, um eine "Wiederaufnahme" der genannten Verfahren zu beantragen. Des Weiteren führte sie aus, warum die von der erstinstanzlichen Behörde in ihren Bescheiden vertretene Ansicht unzutreffend sei.
Mit gleich lautenden Bescheiden vom 1. August 1995 wies der Landeshauptmann von Wien diese Anträge "hinsichtlich der Wiederaufnahme des Verfahrens auf Erteilung einer Bewilligung gemäß § 1 Abs. 1 und § 6 Abs. 3 Aufenthaltsgesetz" gemäß § 69 Abs. 1 AVG ab. Begründend führte die erstinstanzliche Behörde nach Wiedergabe des § 69 Abs. 1 AVG aus, die Beschwerdeführerin habe vorgebracht, die Rechtsmittelfrist sei deshalb ungenützt verstrichen, weil sie sich an einen türkischen Dolmetsch gewendet habe, der sie leider über die Rechtsmittelfrist falsch informiert hätte. Dazu sei anzumerken, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes Rechtsunkundigkeit keinen Wiederaufnahmegrund nach § 69 Abs. 1 AVG bilde.
In ihren dagegen erhobenen Berufungen brachten die Beschwerdeführerinnen vor, die von ihnen gestellten Anträge, die eine Fristversäumung beseitigen sollten, seien von der Behörde erster Instanz in rechtlicher Hinsicht fälschlicherweise als Wiederaufnahmsanträge qualifiziert worden, obwohl den Ausführungen deutlich zu entnehmen gewesen sei, dass es sich um Wiedereinsetzungsanträge gehandelt habe.
Mit den angefochtenen insofern gleich lautenden Bescheiden vom 21. Februar 1996 traf der Bundesminister für Inneres nachstehende Erledigung:
"Spruch
Das Bundesministerium für Inneres weist ihren Antrag vom 16.6.1995 auf Wiederaufnahme des Verfahrens, Zl. MA 62-9/... gemäß § 69 Abs. 1 AVG zurück."
Begründend führte die belangte Behörde nach Wiedergabe des § 69 Abs. 1 AVG aus, dass die Anführung dieser Wiederaufnahmegründe taxativ sei, d.h., dass es nur aus diesen Gründen zu einer Wiederaufnahme kommen könne. Im konkreten Fall sei die Einbringung eines Rechtsmittels gegen die abweisenden Bescheide des Landeshauptmannes von Wien vom 17. Mai 1995 versäumt worden.
Ergänzend werde angemerkt, dass auch einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kein Erfolg beschieden gewesen wäre, da die behaupteten mangelnden Deutsch- und Rechtskenntnisse und die daraufhin erfolgte Fehlinformation einer dritten Person keinen Wiedereinsetzungsgrund bildeten und im Übrigen auch keine Berufung gegen die Bescheide des Landeshauptmannes von Wien vom 17. Mai 1995 eingebracht worden sei.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die wegen ihres persönlichen, sachlichen und rechtlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Beschwerden erwogen:
Eingangs ist festzuhalten, dass die angefochtenen verfahrensrechtlichen Bescheide nicht gemäß § 113 Abs. 6 oder 7 FrG außer Kraft getreten sind.
Die Beschwerden bringen u.a. vor, die belangte Behörde habe die Anträge der Beschwerdeführerinnen "trotz ausführlicher Berufung" nach wie vor als Wiederaufnahmeanträge behandelt. Es sei zwar richtig, dass "Wiederaufnahme" beantragt worden sei, vom Inhalt der Anträge her (Versäumung der Rechtsmittelfrist) bestehe an dem angestrebten Zweck, die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungsfrist und die Stattgebung der zugleich eingebrachten begründeten Berufung bewilligt zu erhalten, jedoch kein Zweifel. Übertriebener Formalismus sollte dem Verwaltungsverfahren fremd sein; eine unrichtige Bezeichnung eines unmissverständlich zum Ausdruck gebrachten Begehrens dürfe die inhaltliche Erledigung nicht verhindern. Bei richtiger Rechtsanwendung sei für die Behörde das Begehren der Beschwerdeführerinnen erkennbar gewesen. Selbst Zweifel an der Art des Begehrens hätte sie nicht zur Ab- oder Zurückweisung berechtigt, sondern vielmehr die Verpflichtung begründet, von Amts wegen "Nachforschungen" anzustellen.
Für die Beurteilung des Charakters eines Anbringens ist sein wesentlicher Inhalt, der sich aus dem gestellten Antrag erkennen lässt, und die Art des in diesem gestellten Begehrens maßgebend. Es kommt nicht auf Bezeichnungen und zufällige Verbalformen an, sondern auf den Inhalt des Abringens, das erkennbare oder zu erschließende Ziel eines Parteischrittes. Ist erkennbar, dass ein Antrag entgegen seinem Wortlaut auf etwas anderes abzielt, kommt es auf die erkennbare Absicht des Einschreiters an (vgl. das hg. Erkenntnis vom 27. Februar 1998, Zl. 97/19/0601).
Der in den als "Wiederaufnahme" bezeichneten Eingaben zum Ausdruck gebrachte erkennbare Wille der Beschwerdeführerinnen war eindeutig darauf gerichtet, einerseits den Grund für die Versäumung der Rechtsmittelfrist zu erklären (falsche Information über die Rechtsmittelfrist durch einen türkischen Dolmetsch) und andererseits darzulegen, aus welchen Gründen die Abweisung der Anträge durch den Landeshauptmann von Wien zu Unrecht erfolgt sei (die in Rede stehende Wohnung werde von der Erstbeschwerdeführerin und ihrer Familie seit über sechs Jahren bewohnt; die Größe dieser Wohnung sei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen nie entgegengestanden). Ihr Wille war daher keinesfalls auf die Beseitigung der erstinstanzlichen Bescheide im Wege der Wiederaufnahme gerichtet, zumal auch keine zur Wiederaufnahme eines Verfahrens gemäß § 69 Abs. 1 AVG taugliche Wiederaufnahmsgründe geltend gemacht wurden.
Der Landeshauptmann von Wien hat demnach bei den in Rede stehenden, nach dem Vorgesagten zweifelsfrei auf Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gerichteten Anträgen (denen auch unmissverständlich als Berufungsvorbringen zu wertende Ausführungen angeschlossen waren) zu Unrecht Anträge auf Bewilligung der Wiederaufnahme erblickt und, indem sie über diese (nicht gestellten) Anträge entschied, die Bescheide vom 1. August 1995 mit Rechtswidrigkeit belastet. Die belangte Behörde wäre verpflichtet gewesen, diese - in der Berufung aufgezeigte - Rechtswidrigkeit aufzugreifen und die Bescheide der Behörde erster Instanz ersatzlos aufzuheben. Anschließend wäre es Sache der Behörde erster Instanz gewesen, über die Wiedereinsetzungsanträge zu entscheiden. Indem die belangte Behörde als hiefür zuständige Berufungsbehörde die ersatzlose Aufhebung der erstinstanzlichen Bescheide unterließ, belastete sie ihre eigenen Bescheide mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes. Hiedurch verletzte sie auf einfach gesetzlicher Ebene das Recht der Beschwerdeführerinnen auf Einhaltung der Zuständigkeitsordnung. Diese Verletzung der Behördenzuständigkeit war vom Verwaltungsgerichtshof ungeachtet einer Möglichkeit der Verletzung sonstiger subjektiv-öffentlicher Rechte von Amts wegen wahrzunehmen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 26. Juni 1998, Zl. 97/19/1670).
Bei diesem Ergebnis kann es dahinstehen, ob die angefochtenen Bescheide auch aus anderen Gründen mit Rechtswidrigkeit behaftet sind (so ist - auch im Zusammenhalt zwischen Spruch und Begründung der angefochtenen Bescheide - nicht erkennbar, dass die belangte Behörde als Berufungsbehörde entschieden hat; weiters erfolgte eine Zurückweisung der Anträge, während die erstinstanzliche Behörde eine Abweisung der Anträge vornahm).
Aus diesen Erwägungen waren die angefochtenen Bescheide gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Wien, am 24. November 2000
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2000:1996193212.X00Im RIS seit
03.04.2001Zuletzt aktualisiert am
24.10.2010