Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Michael Maschl LL.M. (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AR Angelika Neuhauser (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Stephanie W*****, vertreten durch Dr. Sebastian Mairhofer und Mag. Martha Gradl, Rechtsanwälte in Linz, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert Stifter-Straße 65, 1201 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtenrente, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 4. September 2008, GZ 11 Rs 82/08w-24, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Linz als Arbeits- und Sozialgericht vom 14. April 2008, GZ 7 Cgs 110/06m-20, aufgehoben wurde, den Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Rekurs der beklagten Partei wird zurückgewiesen. Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 371,52 EUR (darin enthalten 61,92 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung zu ersetzen.
Text
Begründung:
Die am 18. 6. 1984 geborene Klägerin absolvierte eine Ausbildung zur Tierpflegerin und war im Jahr 2004 bis 7. 7. nicht berufstätig. Mit 8. 7. 2004 nahm sie neben ihrer Ausbildung eine geringfügige Beschäftigung bei einem Tierarzt an. Ab 1. 12. 2004 war sie beim OÖ L*****verein als Arbeiterin „voll" versichert. Daneben ging sie auch im Dezember 2004 noch ihrer geringfügigen Beschäftigung beim Tierarzt nach.
Aus ihrer geringfügigen Beschäftigung bezog die Klägerin im Jahr 2004 einen Monatslohn von 316,90 EUR. Der Lohn beim OÖ L*****verein betrug im Dezember 2004 1.085,50 EUR.
Am 10. 8. 2005 erlitt die Klägerin während ihrer Tätigkeit als Tierpflegerin beim OÖ L*****verein einen Arbeitsunfall. Zu diesem Zeitpunkt war sie immer noch in geringem Ausmaß beim Tierarzt beschäftigt.
Die Klägerin war nach ihrem Arbeitsunfall ab 19. 12. 2005 wieder arbeitsfähig. Ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) beträgt ab 19. 12. 2005 bis zur Gewährung der Dauerrente, also bis 31. 5. 2007, 55 vH. Seit 1. 6. 2007 beträgt ihre MdE insgesamt 45 vH. Mit Bescheid vom 22. 3. 2006 hat die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt den Unfall der Klägerin vom 10. 8. 2005 als Arbeitsunfall anerkannt und ihr ab 19. 12. 2005 eine vorläufige Versehrtenrente von 45 vH der Vollrente in Höhe von 112,57 EUR zuerkannt. Mit weiterem Bescheid vom 16. 5. 2007 stellte die beklagte Partei ab 1. 6. 2007 eine Dauerrente von 45 vH in Höhe von monatlich 114,37 EUR fest.
Gegen beide Bescheide erhob die Klägerin Klage mit dem Begehren auf Gewährung einer vorläufigen Versehrtenrente und Dauerrente im gesetzlichen Ausmaß auf der Grundlage einer MdE von mindestens 50 vH. Da sich der Arbeitsunfall im Zuge der Vollzeitbeschäftigung ereignet habe, sei eine Heranziehung der geringfügigen Beschäftigung für die Bemessung unbillig; vielmehr sei nach § 182 ASVG vorzugehen. Die geringfügige Beschäftigung habe sich aus der Not heraus ergeben; sie sei lediglich vorübergehend nach der Ausbildung ausgeübt und nach dem Arbeitsunfall wieder beendet worden.
Die beklagte Partei wandte ein, dass die MdE der Klägerin lediglich 45 vH betrage. Für die Bemessungsgrundlage sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin im Kalenderjahr vor dem Eintritt des Versicherungsfalls, also 2004, zum einen geringfügig beschäftigt, zum anderen ab 1. 12. 2004 als Arbeiterin voll versichert gewesen sei. Die aus der geringfügigen Beschäftigung ab 8. 7. 2004 resultierenden Beitragsgrundlagen seien für 11 Monate hochgerechnet worden. Ein Monat der Vollversicherung sei inklusive der anteiligen Sonderzahlungen hinzugerechnet worden.
Das Erstgericht erkannte die beklagte Partei schuldig,
1. der Klägerin aus Anlass des Arbeitsunfalls vom 10. 8. 2005 von 19. 12. 2005 bis 31. 12. 2005 eine vorläufige Versehrtenrente von 55 vH der Vollrente samt Zusatzrente in Höhe von monatlich 181,70 EUR, von 1. 1. 2006 bis 31. 12. 2006 eine vorläufige Versehrtenrente von 55 vH der Vollrente samt Zusatzrente in Höhe von monatlich 186,25 EUR und von 1. 1. 2007 bis 31. 5. 2007 eine vorläufige Versehrtenrente von 55 vH der Vollrente samt Zusatzrente in Höhe von monatlich 189,23 EUR zu bezahlen und
2. der Klägerin aus Anlass des Arbeitsunfalls vom 10. 8. 2005 von 1. 6. 2007 bis 31. 12. 2007 eine Dauerrente von 45 vH der Vollrente in Höhe von monatlich 129,02 EUR und ab 1. 1. 2008 eine Dauerrente von 45 vH der Vollrente in Höhe von (monatlich) 131,21 EUR zu bezahlen. Das darüber hinausgehende Mehrbegehren, der Klägerin eine betragsmäßig höhere vorläufige Versehrtenrente und Dauerrente zu zahlen, wies das Erstgericht in Punkt 3. des Spruches ab. In seiner rechtlichen Beurteilung gründete das Erstgericht die Berechnung der vorläufigen Versehrtenrente und der Dauerrente auf die zeitlich und prozentmäßig festgestellten Minderungen der Erwerbsfähigkeit. Zur Bemessungsgrundlage führte das Erstgericht aus, dass die sich aus der geringfügigen Beschäftigung von 8. 10. 2004 bis 31. 12. 2004 ergebende Beitragsgrundlage samt anteiliger Sonderzahlungen im Sinne des § 179 Abs 2 ASVG auf ein Jahr hochzurechnen sei. Der von der Klägerin aus ihrer am 1. 12. 2004 aufgenommenen Vollzeitbeschäftigung erzielte Verdienst sei inklusive anteiliger Sonderzahlungen hinzuzurechnen. Daraus errechne sich eine Bemessungsgrundlage von 5.696,04 EUR. Nach Berücksichtigung des Anpassungsfaktors (§ 179 Abs 5 ASVG) erhöhe sich diese auf 5.781,48 EUR, woraus sich schließlich die aus dem Spruch des Ersturteils ersichtlichen monatlichen Rentenbeträge ergäben.
Die geringfügige Beschäftigung sei nicht nur für die Zeit der Ausbildung vorgesehen gewesen; vielmehr habe die Klägerin diese auch nach Beginn ihrer Vollbeschäftigung weiter ausgeübt. Die Motivation dafür müsse außer Betracht bleiben. Im Jahr 2004 habe die Klägerin lediglich einen Monat lang eine vollversicherte Beschäftigung ausgeübt, weshalb eine Aufrechnung der daraus erzielten Beitragsgrundlagen auch nicht den faktischen Gegebenheiten entsprechen würde.
Infolge der Berechnung nach § 179 Abs 2 ASVG könne § 182 ASVG keine Anwendung finden. Das Ergebnis sei auch nicht unbillig. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und hob das Ersturteil, das in seinen Punkten 1. und 2. unbekämpft blieb, in seinem Punkt 3. auf und trug dem Erstgericht eine neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf.
Es sah die Mängel- und Tatsachenrüge aus rechtlichen Gründen als nicht relevant an und führte in seiner rechtlichen Beurteilung zusammengefasst aus, dass das Erstgericht zu Unrecht nicht auf § 180 Abs 2 ASVG Bedacht genommen habe. Im erstinstanzlichen Verfahren seien sowohl das Alter der Klägerin als auch das Datum des Arbeitsunfalls unstrittig festgestanden, sodass ersichtlich gewesen sei, dass die Klägerin zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls noch nicht 30 Jahre alt gewesen sei. Das Alter der Klägerin stelle jedenfalls einen entscheidungswesentlichen Umstand dar, auf den von Amts wegen Bedacht zu nehmen gewesen wäre, auch wenn die Klägerin ihre Begehren niemals ausdrücklich auf die Anwendbarkeit und Günstigkeit des § 180 ASVG gestützt habe.
Überdies seien noch folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: Nach § 178 Abs 1 ASVG seien bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage nach den §§ 179 bis 182 ASVG alle Dienstverhältnisse, Erwerbstätigkeiten und sonstigen Tätigkeiten, sofern sie der Unfallversicherung unterlägen, zu berücksichtigen. Dem habe das Erstgericht auch Rechnung getragen, nicht aber der dem § 179 ASVG innewohnenden Systematik (wobei auch nach dieser Bestimmung die Beweggründe des Versicherten zur Dauer seiner Beschäftigung irrelevant seien). Infolge der unzureichenden rechtlichen Beurteilung sei das Ersturteil in seinem Punkt 3. aufzuheben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen. Im fortgesetzten Verfahren werde es dem Erstgericht obliegen, in einem ersten Schritt die Anwendung des § 179 Abs 1 bis 4 ASVG zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage der Klägerin zu prüfen. Im zweiten Schritt werde es aufgrund des Umstands, dass die Klägerin zur Zeit ihres Arbeitsunfalls noch nicht 30 Jahre alt gewesen sei und auch eine Ausbildung zur Tierpflegerin absolviert habe (wobei das Ende dieser Ausbildung den bisherigen Feststellungen nicht zu entnehmen sei), in Anwendung des § 180 Abs 2 ASVG eine alternative Bemessungsgrundlage für die Klägerin zu ermitteln habe, um sodann beurteilen zu können, ob diese unter Umständen günstiger sei. Danach könne in einem dritten Schritt geprüft werden, ob die Bemessungsgrundlage dennoch nach billigem Ermessen nach § 182 ASVG festzusetzen sei. Schließlich seien auch die bisherigen auf Gewährung der vorläufigen Versehrtenrente und der Dauerrente im „gesetzlichen Ausmaß" erhobenen Klagebegehren zu erörtern. Schon im Hinblick auf § 405 ZPO bedürfe es einer betragsmäßigen Bestimmung des Klagebegehrens durch die Klägerin.
Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil zur Frage, ob insbesondere auf § 180 Abs 2 ASVG ohne Verstoß gegen das Neuerungsverbot von Amts wegen Bedacht zu nehmen sei, noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliege.
Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der beklagten Partei aus dem Rekursgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Entscheidung in der Sache im Sinne einer Wiederherstellung des Ersturteils.
Die Klägerin beantragt in ihrer Rekursbeantwortung, (sinngemäß) den Rekurs zurückzuweisen und ihm sonst nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Entgegen dem Ausspruch des Berufungsgerichts ist der Rekurs der beklagten Partei nicht zulässig.
In ihrem Rekurs kommt die beklagte Partei nicht auf die in der Begründung des Zulässigkeitsausspruchs angeführte Rechtsfrage zurück. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um eine „erhebliche Rechtsfrage" gemäß § 519 Abs 2 iVm § 502 Abs 1 ZPO. Nach § 87 Abs 1 ASGG trifft das Gericht die Pflicht, von Amts wegen alle entscheidungsrelevanten Tatsachen zu erheben; zu einer solchen amtswegigen Prüfung ist das Gericht dann verpflichtet, wenn sich im Verfahren entsprechende Anhaltspunkte für einen Umstand ergeben, der für die Entscheidung von Bedeutung sein kann (RIS-Justiz RS0042477). Es unterliegt keinem Zweifel, dass es sich bei dem (im Verfahren offen gelegten) Geburtsdatum der Klägerin um einen Umstand handelt, der im Fall der Anwendbarkeit des § 180 ASVG von maßgeblicher Bedeutung für die Entscheidung ist.
Die beklagte Partei sieht die erhebliche Rechtsfrage (sinngemäß) darin, dass es zur Frage der Anwendbarkeit des § 180 Abs 2 ASVG noch kaum höchstgerichtliche Rechtsprechung gebe; nach Ansicht der beklagten Partei, die sich auf die zu einem Rechtsanwaltsanwärter ergangenen Entscheidung 10 ObS 420/97f (= SSV-NF 12/56) beruft, sei diese Bestimmung unanwendbar, weil nicht anzunehmen sei, dass es im Beruf einer Tierpflegerin zu altersbedingten Lohnsteigerungen komme. Mit anderen Worten kann aber auch die beklagte Partei nicht ausschließen, dass der Verdienst der Klägerin von ihrem Alter abhängen könnte, sodass erst die Tatsachengrundlagen geschaffen werden müssen, die eine Beurteilung der Frage der Anwendbarkeit des § 180 Abs 2 ASVG ermöglichen. Auch insoweit ist das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage zu verneinen. In der genannten Entscheidung 10 ObS 420/07f hat der Oberste Gerichtshof die Anwendbarkeit des § 180 Abs 2 ASVG für den Fall verneint, dass die Entlohnung in einem Beruf typischerweise nicht altersabhängig erfolgt.
Die Ergänzungsaufträge des Berufungsgerichts orientieren sich an den §§ 178 - 182 ASVG; abgesehen von der Frage der Anwendbarkeit des § 180 Abs 2 ASVG wird im Rekursverfahren keine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht und die Ergänzungsbedürftigkeit des Verfahrens auch nicht bestritten.
Wie sich aus § 82 Abs 3 Z 1 ASGG ergibt, ist allerdings eine Erörterung des Klagebegehrens und dessen betragsmäßige Bestimmung durch die Klägerin nicht erforderlich; die Anforderungen an das Klagebegehren sind geringer als diejenigen an einen Leistungszuspruch im Urteil (vgl 10 ObS 250/98g = SZ 71/132 = SSV-NF 12/104 = RIS-Justiz RS0085906 [T1]). Im konkreten Fall sind gesetzliche Bestimmungen vorhanden, die die Anspruchshöhe determinieren (vgl RIS-Justiz RS0083912).
Mangels einer erheblichen Rechtsfrage gemäß § 519 Abs 2 iVm § 502 Abs 1 ZPO ist der Rekurs der beklagten Partei zurückzuweisen. Die Entscheidung über die Kosten des Rekursverfahrens beruht auf §§ 41 und 50 Abs 1 ZPO. Zu einem Kostenvorbehalt nach § 52 Abs 1 ZPO besteht kein Anlass, weil durch die Zurückweisung des Rechtsmittels der beklagten Partei zufolge Unzulässigkeit - worauf die klagende Partei in ihrer Rekursbeantwortung zutreffend hingewiesen hat - eine abschließende und vom Ergebnis der Hauptsachenentscheidung unabhängige Erledigung der Rechtsmittelschriftsätze durch den Obersten Gerichtshof erfolgen konnte (2 Ob 155/06t). Bei einer Kostenbemessungsgrundlage von 3.600 EUR ist von einem Tarifansatz nach TP 3C RATG von 193,50 EUR auszugehen.
Anmerkung
E8971010ObS174.08yEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2008:010OBS00174.08Y.1222.000Zuletzt aktualisiert am
02.03.2009