Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Reinhard Drössler (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Andrea Eisler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Christa L*****, vertreten durch Mag. Peter Mayerhofer, Rechtsanwalt in Wiener Neustadt, gegen die beklagte Partei Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, Adalbert Stifter-Straße 65, 1200 Wien, vertreten durch Dr. Josef Milchram und andere Rechtsanwälte in Wien, wegen Versehrtengeld, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12. September 2008, GZ 9 Rs 104/08t-14, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Arbeits- und Sozialgericht vom 30. Mai 2008, GZ 5 Cgs 312/07k-9, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird nicht Folge gegeben.
Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 222,91 EUR (darin 37,15 EUR Umsatzsteuer) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Die am 28. 9. 1963 geborene Klägerin erlitt am 16. 9. 1980 als Schülerin während einer Turnstunde eine Verrenkung der linken Kniescheibe mit knöchernem Ausriss des Bandapparats. Die Verletzung wurde operativ versorgt. Der Unfall wurde der beklagten Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt am 29. 9. 1980 vom Krankenhaus Neunkirchen und am 15. 10. 1980 von der Schule gemeldet.
In der Folge kam es bei der Klägerin mehrfach zu Luxationen der linken Kniescheibe, so etwa am 15. 11. 1997 nach einem Sturz von einem Gerüst und am 2. 3. 2006 beim Einsteigen in das Auto (die Klägerin rutschte dabei auf Glatteis aus).
Die Belastbarkeit ihres linken Knies ist deutlich vermindert, die Beweglichkeit gering eingeschränkt. Die Muskulatur des linken Beines ist verschmächtigt. An der linken Kniescheibe bestehen klinisch deutliche Zeichen für Knorpelschäden.
Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt seit dem Zeitpunkt drei Monate nach Eintritt des Versicherungsfalls (= 16. 12. 1980) bis heute durchgehend 20 vH.
Mit Schreiben der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter vom 13. 6. 2007, bei der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt eingelangt am 15. 6. 2007, wurde diese in Kenntnis gesetzt, dass anlässlich eines Sozialgerichtsverfahrens vor dem Landesgericht Wiener Neustadt festgestellt worden war, dass die Beschwerden der Klägerin im linken Kniegelenk gegebenenfalls auf einen Schülerunfall zurückzuführen seien. Gleichzeitig wurde der beklagten Partei das in dem Sozialgerichtsverfahren erstattete unfallchirurgische Gutachten vom 30. 1. 2007 übermittelt.
Mit Bescheid vom 6. 11. 2007 sprach die beklagte Partei aus, dass der Arbeitsunfall vom 16. 9. 1980 eine erstmalige Verrenkung der linken Kniescheibe verursacht habe, ein Anspruch auf Versehrtengeld gemäß § 212 Abs 3 ASVG aber nicht bestehe, weil die dafür vorausgesetzte Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 vH über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalls hinaus und nach Abschluss der Heilbehandlung nicht vorliege.
Das Erstgericht wies die dagegen erhobene, erkennbar auf den Zuspruch eines Versehrtengeldes gerichtete Klage ab. Die Klägerin sei zum Unfallzeitpunkt in der Unfallversicherung teilversichert gewesen (§ 8 Abs 1 Z 3 lit h ASVG). Ein Anspruch auf Versehrtengeld (§ 212 Abs 3 ASVG), das bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH zum Unfallzeitpunkt 4.484 ATS und zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung 566 EUR betragen habe, sei von der beklagten Partei nicht innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls festgestellt worden; auch die Klägerin habe innerhalb dieser Frist keinen Antrag auf Feststellung des Anspruchs gestellt. Somit könne ein Anspruch auf Versehrtengeld frühestens mit dem Tag der Einleitung des Verfahrens (15. 6. 2007) anfallen. Zu diesem Zeitpunkt habe jedoch, da keine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 vH vorgelegen sei, kein Anspruch auf Versehrtenrente bestanden. Die mit der 50. Novelle zum ASVG erfolgte Einführung des zweiten Satzes des § 86 Abs 4 ASVG habe zum Ziel gehabt, bei rechtzeitiger Erstattung einer Unfallanzeige eine über die spätere Antragstellung oder amtswegige Einleitung des Verfahrens hinausreichende rückwirkende Leistungszuerkennung zu ermöglichen. Allerdings habe vermieden werden sollen, dass Jahre oder Jahrzehnte später noch Ansprüche auf kurzfristige Leistungen durchgesetzt werden könnten. Deshalb sei ein rückwirkender Leistungsanfall nur für Fälle vorgesehen worden, in denen zum Zeitpunkt der späteren Antragstellung oder Einleitung des Verfahrens noch ein Anspruch auf Versehrtenrente zustehe. Dies sei bei der Klägerin aber nicht der Fall.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und sprach ihr zur Abgeltung der Folgen des Unfalls vom 16. 9. 1980 ein Versehrtengeld von 566 EUR zu.
Die Klägerin erfülle die für den Anspruch auf Versehrtengeld nach § 212 Abs 3 ASVG vorausgesetzte dauerhafte Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH nach Abschluss der Heilbehandlung. Daher sei zu prüfen, ob dieser Anspruch für einen Schülerunfall aus dem Jahr 1980 auch noch im Jahr 2007/2008 geltend gemacht werden könne.
Ein Verfall von Leistungsansprüchen aus der Unfallversicherung komme nur im engen Rahmen des § 102 ASVG in Frage. Für den Fall einer späteren Antragstellung habe der Gesetzgeber der 29. ASVG-Novelle (BGBl 1973/31) für Ansprüche aus der Unfallversicherung nur den Leistungsbeginn verschieben wollen. Eine Präklusion des Anspruchs auf Versehrtengeld sei damit ausgeschlossen.
Eine explizite Verjährungsbestimmung fehle im ASVG. Für eine zeitliche Begrenzung des Anspruchs auf Versehrtengeld könne - wegen der Andersartigkeit der Regelungen - auch nicht auf § 212 Abs 1 erster Satz ASVG zurückgegriffen werden; eine solche könne sich im vorliegenden Fall allenfalls aus § 86 Abs 4 ASVG ergeben.
Die mit der 29. ASVG-Novelle als „Nachfolge"-Bestimmung zur Präklusionsregel des § 102 Abs 2 bis 4 ASVG (in der ASVG-Stammfassung) eingeführte Bestimmung des § 86 Abs 4 erster Satz ASVG, wonach Leistungen aus der Unfallversicherung, wenn innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls weder der Anspruch von Amts wegen festgestellt noch ein Antrag auf Feststellung des Anspruchs gestellt worden sei, mit dem Tag der späteren Antragstellung bzw mit dem Tag der Einleitung des Verfahrens, das zur Feststellung des Anspruchs führe, anfallen, sei nicht auf Dauerleistungen beschränkt und daher grundsätzlich auch auf kurzfristige sowie auf Einmalleistungen anwendbar. Ergänzend dazu sehe § 86 Abs 4 zweiter Satz ASVG vor, dass dann, wenn eine Unfallmeldung innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls erstattet worden sei, der Zeitpunkt des Einlangens der Unfallmeldung beim Unfallversicherungsträger als Tag der Einleitung des Verfahrens gelte, wenn dem Versicherten zum Zeitpunkt der späteren Antragstellung oder Einleitung des Verfahrens noch ein Anspruch auf Rentenleistung zustehe.
Der primäre Zweck des § 86 Abs 4 zweiter Satz ASVG sei nach den Gesetzesmaterialien darin zu sehen, einen Anspruch, der nach Abs 4 erster Satz geltend gemacht wird, unter bestimmten Voraussetzungen in seiner zeitlichen Dimension zu erweitern, um Härtefälle aus einer unterbliebenen Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu vermeiden. In einer Sonderkonstellation solle die Möglichkeit bestehen, dass ein Anspruch schon vor Antragstellung anfalle, obwohl innerhalb der ersten zwei Jahre nach Eintritt des Versicherungsfalls weder der Leistungsanspruch von Amts wegen festgestellt noch ein Antrag auf Feststellung des Anspruchs gestellt worden sei. Schon nach der Systematik, aber auch nach der Entstehungsgeschichte der Bestimmung könne nicht angenommen werden, dass ein nach Abs 4 erster Satz später geltend gemachter Anspruch jedenfalls von den weiteren Voraussetzungen des zweiten Satzes (fortbestehender Anspruch auf Rentenleistung bei rechtzeitig erfolgter Unfallmeldung) abhängig sein solle. Würde man bei späterer, dh nach zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls erfolgender Antragstellung verlangen, dass im Sinn des zweiten Satzes des § 86 Abs 4 ASVG „noch ein Anspruch auf Rentenleistungen zusteht", wäre die Geltendmachung von nicht in Rentenleistungen bestehenden (Einmal-)Leistungen aus der Unfallversicherung nach Ablauf von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls stets ausgeschlossen, wenn entweder nie ein Anspruch auf Rentenleistung bestanden habe oder dieser zwischenzeitig weggefallen sei - dies unabhängig davon, wann eine Unfallmeldung erfolgt sei. Dem stehe aber § 86 Abs 4 erster Satz ASVG entgegen, der solche Leistungen generell - und in keiner Weise nur auf Rentenleistungen beschränkt - mit dem Tag der späteren Antragstellung bzw der Einleitung des Verfahrens anfallen lasse.
Die Anwendung des zweiten Satzes könne auch nicht auf jene Fälle der Geltendmachung von Einmalleistungen beschränkt werden, in denen rechtzeitig eine Unfallmeldung erfolgt sei, würde es doch einen Wertungswiderspruch bedeuten, wenn in diesem Fall zusätzlich ein fortbestehender Rentenanspruch zu verlangen wäre, während dies von Satz 1 nicht vorausgesetzt werde.
Diesem Ergebnis könnten schließlich auch nicht die Erwägungen in den Gesetzesmaterialien entgegenstehen, wonach kurzfristige Leistungen wie Familien- oder Taggeld nicht „Jahre oder Jahrzehnte" später durchsetzbar sein sollten. Selbst wenn sie schon vor dem Tag der späteren Antragstellung „ausgelaufen" sein mögen, sei dem zweiten Satz des § 86 Abs 4 ASVG keine Aussage darüber zu entnehmen, wie lange solche Leistungen geltend gemacht werden könnten.
Nach all dem unterliege die Zulässigkeit einer späteren Geltendmachung von Einmalleistungen wie einem Anspruch auf Versehrtengeld (nur) der Bestimmung des § 86 Abs 4 erster Satz ASVG. Hätte der Gesetzgeber verhindern wollen, dass auch Ansprüche, die nicht in einer Dauerleistung (Rente) bestehen, länger als zwei Jahre nach einem Versicherungsfall geltend gemacht werden können, so hätte dies einer eigenen expliziten Verjährungs- oder Präklusionsfrist bedurft, die jedoch weder hier in der Leistungsanfallsbestimmung des § 86 Abs 4 ASVG noch in den engen Grenzen des § 102 Abs 3 ASVG verwirklicht sei.
Für den vorliegenden Fall ergebe sich daraus, dass der Anspruch der Klägerin auf Versehrtengeld mangels früherer amtswegiger Feststellung oder einer Antragstellung mit dem Tag der Einleitung des Verfahrens durch die beklagte Partei (15. 6. 2007) angefallen sei, ohne dass er vom Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Versehrtenrente iSd § 86 Abs 4 zweiter Satz ASVG abhängig zu machen wäre. Damit begehre die Berufungswerberin den Zuspruch von Versehrtengeld aus ihrem Unfall aus dem Jahr 1980, der bereits damals der beklagten Partei gemeldet worden sei, zu Recht.
Die Höhe des Versehrtengeldes entspreche dem für das Jahr 2007 geltenden Satz, da das Versehrtengeld nach dem Konzept des § 86 Abs 4 ASVG als Leistungsanfallsbestimmung erst in diesem Jahr angefallen sei.
Die Zulässigkeit der Revision sei im Hinblick auf das Fehlen von höchstgerichtlicher Judikatur zur Frage begründet, ob die Geltendmachung von Versehrtengeld nach Ablauf von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls von den Voraussetzungen des § 86 Abs 4 zweiter Satz ASVG abhänge oder nach § 86 Abs 4 erster Satz ASVG zu beurteilen sei.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der beklagten Partei aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne einer Wiederherstellung des klagsabweisenden Urteils des Erstgerichts.
Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig; sie ist jedoch nicht berechtigt.
Der Revision der beklagten Partei liegt im Wesentlichen die Rechtsansicht zugrunde, dass § 86 Abs 4 ASVG nach seinem Sinn und Zweck nur für Ansprüche auf eine Versehrtenrente oder jedenfalls im Kontext eines noch bestehenden Rentenanspruchs gelte; ein isolierter Anspruch auf Versehrtengeld (ohne Rente) könne nicht auf § 86 Abs 4 ASVG gestützt werden. Bei einmaligen Leistungen seien die allgemeinen Grundsätze über die Verjährung anzuwenden, da ganz allgemein verhindert werden müsse, dass einmalige Leistungen auch noch Jahrzehnte nach Eintritt des Versicherungsfalls geltend gemacht werden könnten (siehe etwa §§ 68, 337 ASVG).
Diese Ausführungen vermögen nicht zu überzeugen.
Grundsätzlich ist auf die inhaltlich zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts zu verweisen (§ 510 Abs 3 Satz 2 ZPO). Den Revisionsausführungen ist Folgendes zu entgegnen:
1. Es ist nicht weiter strittig, dass die Klägerin bei ihrem Unfall am 16. 9. 1980 als Schülerin der Teilversicherung in der Unfallversicherung nach § 8 Abs 1 Z 3 lit h ASVG unterlag. Bei einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalls hinaus steht ihr nach § 212 Abs 3 ASVG grundsätzlich als einmalige Leistung ein Versehrtengeld zu, dessen Höhe im Jahr 2007 566 EUR betrug.
Allein strittig ist im vorliegenden Fall noch, ob der Klägerin dieser Anspruch nach wie vor zusteht, obwohl die beklagte Allgemeine Unfallversicherungsanstalt - nach zwei Unfallmeldungen im Jahr 1980, die nicht zu einer Anspruchsfeststellung führten - erst im Jahr 2007 Kenntnis davon erhielt, dass die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit seit dem Zeitpunkt drei Monate nach Eintritt des Versicherungsfalls bis heute durchgehend 20 vH beträgt.
In diesem Zusammenhang ist das Erstgericht davon ausgegangen, dass innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalls weder ein Anspruch der Klägerin auf Versehrtengeld festgestellt noch von der Klägerin ein Antrag auf Leistung gestellt worden sei (§ 86 Abs 4 Satz 1 ASVG), weshalb eine Leistung erst frühestens mit dem Tag der Einleitung des Verfahrens bei der beklagten Partei (15. 6. 2007) anfallen hätte können. Da zu diesem Zeitpunkt aber kein Anspruch auf eine Versehrtenrente bestanden habe, weil die Klägerin den von § 203 Abs 2 ASVG geforderten Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 vH nicht erreicht habe, fehle es an der von § 86 Abs 4 zweiter Satz ASVG geforderten weiteren Voraussetzung für den Anfall einer Leistung.
Das Berufungsgericht hat demgegenüber seine Entscheidung allein auf § 86 Abs 4 Satz 1 ASVG gestützt; es könne nicht angenommen werden, dass ein Anspruch, der die Anfallsvoraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt, von den weiteren Voraussetzungen des Satzes 2 (fortbestehender Anspruch auf Rentenleistung bei rechtzeitig erfolgter Unfallmeldung) abhängig sein solle.
2. Der mit der 29. ASVG-Novelle (BGBl 1973/31) eingeführte, den Anfall von Leistungen aus der Unfallversicherung betreffende Satz 1 des § 86 Abs 4 ASVG wurde mit der 32. ASVG-Novelle (BGBl 1976/704) geringfügig geändert und erhielt folgenden, auch heute noch geltenden Wortlaut:
„(4) Leistungen aus der Unfallversicherung fallen, wenn innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles weder der Anspruch von Amts wegen festgestellt noch ein Antrag auf Feststellung des Anspruches gestellt wurde, mit dem Tag der späteren Antragstellung bzw. mit dem Tag der Einleitung des Verfahrens an, das zur Feststellung des Anspruches führt."
3. Nachdem mit der 49. ASVG-Novelle (BGBl 1990/294) dem § 86 Abs 4 ASVG ein Satz betreffend die Antragstellung auf Waisenrente angefügt worden war (nunmehr Satz 3), wurde mit der 50. ASVG-Novelle (BGBl 1991/676) nach dem ersten Satz folgender zweite Satz eingefügt:
„Wird eine Unfallsanzeige innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles erstattet, so gilt der Zeitpunkt des Einlangens der Unfallsanzeige beim Unfallversicherungsträger als Tag der Einleitung des Verfahrens, wenn dem Versicherten zum Zeitpunkt der späteren Antragstellung oder Einleitung des Verfahrens noch ein Anspruch auf Rentenleistungen zusteht."
Mit der 61. ASVG-Novelle (BGBl I 2003/145) wurde der eher negativ besetzte Begriff „Unfallsanzeige" - ohne inhaltliche Änderung (RV 310 BlgNR 22. GP 15; 10 ObS 105/07z) - durch den Begriff „Unfallmeldung" ersetzt.
3.1. In den Gesetzesmaterialien (RV 284 BlgNR 18. GP 26; RV 287 BlgNR 18. GP 8) wird die Änderung durch die 50. ASVG-Novelle folgendermaßen begründet:
„Die vorgeschlagene Änderung geht auf eine Anregung der Volksanwaltschaft zurück. Sie hat jene Fälle im Auge, in denen trotz einer Unfallsanzeige ein Verfahren zur Feststellung einer Leistung weder auf Antrag noch von Amts wegen eingeleitet wurde. Eine amtswegige Einleitung erfolgt(e) in diesen Fällen nicht, weil aus der Unfallsanzeige für den Versicherungsträger wesentliche Unfallfolgen nicht erkennbar waren. Daß ein schädigendes Ereignis tatsächlich eingetreten ist, war für den Versicherungsträger erst zu einem viel späteren Zeitpunkt feststellbar. Trotz eines positiven Verlaufes des Verfahrens zur Feststellung einer Leistung aus der Unfallversicherung kann der Unfallversicherungsträger in solchen Fällen aufgrund der derzeitigen Regelung des § 86 Abs. 4 ASVG die Leistungen nicht rückwirkend mit dem Eintritt des Versicherungsfalles, sondern nur zwei Jahre zurück zuerkennen. Die vorgeschlagene Änderung hat zum Ziel, Härtefälle dieser Art zu vermeiden, indem sie festlegt, daß der Zeitpunkt des Einlangens der Unfallsanzeige beim Unfallversicherungsträger als Tag der Einleitung des Verfahrens gilt, wenn eine Unfallsanzeige innerhalb von zwei Jahren nach Eintritt des Versicherungsfalles erstattet worden ist. Um zu vermeiden, daß Jahre oder Jahrzehnte später auch noch Ansprüche auf kurzfristige Leistungen (zB Familien-, Taggeld, Gesamtvergütung) gestellt werden können, soll der rückwirkende Leistungsanfall nur dann eintreten, wenn zum Zeitpunkt der späteren Feststellung dem Versicherten noch ein Anspruch auf Versehrtenrente zusteht." Angesprochen sind damit Leistungen, die nur relativ kurzfristig, nämlich bis zur ausreichenden Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit gebührt hätten (Püringer, 50. ASVG-Novelle, SozSi 1992, 419 [424]).
3.2. Wie der Oberste Gerichtshof bereits in der Entscheidung 10 ObS 191/03s (= SSV-NF 17/100) zur Parallelbestimmung des § 32 Abs 3 B-KUVG ausführte, stellt § 86 Abs 4 Satz 2 ASVG eine Ausnahme zu § 86 Abs 4 Satz 1 ASVG bzw § 32 Abs 3 Satz 1 B-KUVG dar: In einer Sonderkonstellation soll die Möglichkeit bestehen, dass ein Anspruch schon vor Antragstellung anfällt, obwohl innerhalb der ersten zwei Jahre nach Eintritt des Versicherungsfalls weder der Leistungsanspruch von Amts wegen festgestellt noch ein Antrag auf Feststellung des Anspruchs gestellt wurde. Aufgrund der aus den Gesetzesmaterialien hervorgehenden Motive (siehe 3.1.) kann nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber mit der Einführung des § 86 Abs 4 Satz 2 ASVG den Anfall einer Leistung aus der Unfallversicherung im Verhältnis zu § 86 Abs 4 Satz 1 ASVG wieder einschränken wollte, indem er ihn generell von einem zum Zeitpunkt der späteren Antragstellung oder Einleitung des Verfahrens noch aufrechten Rentenanspruch abhängig machen wollte.
4. Entsprechend dem Wortlaut des § 86 Abs 4 Satz 1 ASVG fallen „Leistungen aus der Unfallversicherung" - also sowohl langfristige Geldleistungen wie Versehrtenrenten als auch kurzfristige Geldleistungen bzw einmalige Geldleistungen wie das Versehrtengeld - mit dem Tag der Antragstellung an. Es liegt auch keine rechtskräftige, den Anspruch der Klägerin verneinende Entscheidung vor.
Wie bereits das Berufungsgericht ausgeführt hat, enthält das ASVG in Bezug auf Einmalleistungsansprüche aus der Unfallversicherung weder Präklusiv- noch Verjährungsbestimmungen (siehe Schrammel in Tomandl, SV-System [5. ErgLfg] 165 [2.1.5.2.2.]); § 102 ASVG ist insoweit unanwendbar (vgl 10 ObS 24/03g = SSV-NF 17/35). Die in der Revision angeführten Regelungen (§§ 68, 337 ASVG) betreffen völlig anders gelagerte Fälle und können nicht als - für den Fall der Annahme einer planwidrigen Lücke - taugliche Analogiebasis für eine allfällige Verjährung des Anspruchs auf Versehrtengeld herangezogen werden. Im Übrigen lassen sich die bürgerlichrechtlichen Bestimmungen über die Verjährung nicht ohne weiteres auf das öffentliche Recht übertragen, weil es sich bei der Verjährung um keine allgemeine, der gesamten österreichischen Rechtsordnung zugehörige Einrichtung handelt (10 ObS 24/03g = SSV-NF 17/35).
5. Der Revision der beklagten Partei kommt demnach keine Berechtigung zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.
Textnummer
E89928European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:010OBS00179.08H.0127.000Im RIS seit
26.02.2009Zuletzt aktualisiert am
17.12.2010