TE OGH 2009/1/27 10Ob75/08i

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Veröffentlicht am 27.01.2009
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fellinger, Dr. Hoch, Hon.-Prof. Dr. Neumayr und Dr. Schramm als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Tamara-Louise B*****, geboren am 14. November 1993, *****, vertreten durch das Land Oberösterreich als Jugendwohlfahrtsträger (Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck, 4840 Vöcklabruck, Sportplatzstraße 1-3), infolge Revisionsrekurses der Minderjährigen gegen den Beschluss des Landesgerichts Wels als Rekursgericht vom 23. April 2008, GZ 21 R 115/08y-U10, womit infolge Rekurses des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz, der Beschluss des Bezirksgerichts Mondsee vom 25. Februar 2008, GZ 1 P 20/01x-U3, in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 4. März 2008, GZ 1 P 20/01x-U5, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Die am 14. 11. 1993 geborene Tamara-Louise B***** ist das Kind von Cecilia B***** und Elvir K***** (früher: H*****). Die Minderjährige, die bei ihrer Mutter in Österreich lebt, ist französische Staatsbürgerin. Der Vater ist kroatischer Staatsbürger.

Die Minderjährige bezog im Zeitraum vom 1. 5. 2001 bis einschließlich August 2006 aufgrund eines Unterhaltstitels des Amtsgerichts Nürnberg vom 26. 8. 1999 Unterhaltsvorschüsse nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG. Mit Beschluss des Erstgerichts vom 28. 8. 2006, GZ 1 P 20/01x-11, wurden die Unterhaltsvorschüsse mit Ablauf des Monats August 2006 eingestellt, weil die Minderjährige ab September 2006 bei ihrem Vater in München wohnte.

Am 28. 1. 2008 beantragte die Minderjährige, die sich nunmehr wieder in Pflege und Erziehung bei ihrer Mutter befindet, erneut die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG. Das Erstgericht bewilligte der Minderjährigen Unterhaltsvorschüsse nach dieser Gesetzesstelle in der Höhe von monatlich 220 EUR für die Zeit vom 1. 1. 2008 bis 31. 12. 2010. Die Führung einer Exekution erscheine aussichtslos, weil sich der Vater trotz wiederholter Aufforderungen des zuständigen Jugendamts in München nicht gemeldet habe, er keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehe und auch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeldzahlungen habe.

Das Rekursgericht änderte über Rekurs des Bundes, vertreten durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts Linz, den Beschluss des Erstgerichts im Sinne der Abweisung des Antrags der Minderjährigen auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen ab. Beim nunmehrigen Antrag des Vertreters der Minderjährigen handle es sich nicht um eine bloße Weitergewährung von Unterhaltsvorschüssen nach § 18 UVG, sondern um einen neuen Vorschussantrag nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG. Nach der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs knüpfe der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinne der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners an, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Nach den Kollisionsregeln der VO 1408/71 sei für das Bestehen eines solchen Anspruchs jenes System sozialer Sicherheit maßgebend, in das der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei. Danach habe die in Österreich bei ihrer Mutter wohnhafte und in deren Pflege und Erziehung befindliche Minderjährige nach der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs keinen Anspruch auf Gewährung österreichischer Unterhaltsvorschüsse, sondern allenfalls nur einen Anspruch nach den deutschen Rechtsvorschriften. Zu diesem Ergebnis führe aber auch die Erwägung, dass der Vater aufgrund der Feststellung, er habe in Deutschland keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, gar nicht in den Geltungsbereich der VO 1408/71 falle, weil dafür Voraussetzung sei, dass zumindest ein Anspruch auf Arbeitslosengeld bestehe.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs zulässig sei, weil die zitierte jüngere Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs von der früheren Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen abweiche, wonach es genüge, wenn der im Inland verbleibende andere Elternteil berufstätig oder beschäftigungslos sei, auch wenn er alleine obsorgeberechtigt sei, das Kind bei ihm lebe, der Vater in Deutschland wohne und ihm die Arbeitnehmereigenschaft fehle.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Revisionsrekurs der Minderjährigen mit dem Antrag auf Wiederherstellung der stattgebenden Entscheidung des Erstgerichts.

Der Präsident des Oberlandesgerichts Linz als Vertreter des Bundes hat keine Revisionsrekursbeantwortung erstattet.

Mit Beschluss des erkennenden Senats vom 23. 9. 2008 wurden die Akten dem Erstgericht mit dem Auftrag zurückgestellt, jeweils eine Gleichschrift des Revisionsrekurses auch der Mutter und dem Vater zur allfälligen Erstattung einer Revisionsrekursbeantwortung zuzustellen. Nach fruchtlosem Verstreichen dieser Frist wurden die Akten dem Obersten Gerichtshof neuerlich zur Entscheidung vorgelegt.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist aus dem vom Rekursgericht genannten Grund zulässig und im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Die Revisionsrekurswerberin verweist im Wesentlichen auf die frühere Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs, wonach alle in Österreich aufhältigen EWR-Bürger unter denselben Voraussetzungen wie inländische Kinder Ansprüche auf Unterhaltsvorschüsse nach dem UVG hätten, soweit sie unter den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 fielen. Dabei reiche es für den Anspruch des Kindes, wenn es zumindest einen Elternteil habe, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger sei und sich als solcher innerhalb des EWR-Raums bewege. Der Anspruch könne daher auch von der obsorgeberechtigten Mutter, bei der das Kind lebe, abgeleitet werden. Da die Mutter der Minderjährigen im vorliegenden Fall in Wahrnehmung ihres Rechts auf Freizügigkeit Arbeitnehmerin in Österreich sei, könne das Kind als deren Angehörige den Anspruch auch von ihr ableiten.

Der erkennende Senat, der nach der Geschäftsverteilung des Obersten Gerichtshofs seit 1. 1. 2008 als Fachsenat für Rechtssachen nach dem UVG (ausschließlich) zuständig ist, hat zu dem von der Antragstellerin (allein) auf die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 idgF (im Folgenden: VO 1408/71) gestützten Anspruch auf Unterhaltsvorschuss Folgendes erwogen:

1. Zunächst ist festzustellen, dass die Vorschriften der VO 1408/71 weiterhin in Geltung stehen, da bisher noch keine Durchführungsverordnung zu der Verordnung (EG) Nr 883/2004 erlassen worden ist (vgl RIS-Justiz RS0121167 ua).

2. Weiters steht aufgrund der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH (vgl 15. 3. 2001, C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261; 5. 2. 2002, C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205; 20. 1. 2005, C-302/02, Effing, Slg 2005, I-553) unbestritten fest, dass der von der Antragstellerin beanspruchte Unterhaltsvorschuss nach dem UVG eine Familienleistung im Sinne des Art 4 Abs 1 lit h der VO 1408/71 ist und damit in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt.

3.1. Der persönliche Geltungsbereich der VO 1408/71 wird in ihrem Art 2 festgelegt. In dessen Abs 1 wird bestimmt, dass die Verordnung für Arbeitnehmer und Selbständige sowie für Studierende, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene gilt. Der Begriff „Familienangehöriger" wird in Art 1 lit f Z i der VO definiert als jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird. Da nach der Rechtsprechung des EuGH die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten grundsätzlich nicht für Familienleistungen gilt (vgl EuGH, 15. 3. 2001, C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261 Rz 34 mwN), kommt es für die unterhaltsberechtigte Antragstellerin, um in den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 zu fallen, nur mehr darauf an, ob sie ihre Stellung von einem Elternteil ableiten kann (vgl Schlussanträge des Generalanwalts Alber vom 28. 9. 2000, C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261 Rz 55 ua). Der persönliche Anwendungsbereich nach Art 2 VO 1408/71 ist daher eröffnet, wenn die Antragstellerin als Familienangehörige eines Arbeitnehmers, Selbständigen oder Studierenden anzusehen ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH und der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs fällt somit eine Person, die einen Elternteil hat, der tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger im Sinn des Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 lit f Z i der VO 1408/71 ist, in den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung (EuGH, 5. 2. 2002, C-255/99, Humer, Slg 2002, I-1205 Rz 54; RIS-Justiz RS0116311). Dieser Grundsatz wurde auch in der vom Rekursgericht zitierten jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (4 Ob 4/07b; 6 Ob 121/07y) ausdrücklich aufrecht erhalten. Der Begriff des „Arbeitnehmers" wird in Art 1 lit a Z i der VO 1408/71 definiert. Danach besitzt eine Person die Arbeitnehmereigenschaft im Sinne der VO 1408/71, wenn sie gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.

3.2. Im vorliegenden Fall sind daher Feststellungen darüber erforderlich, welche Staatsbürgerschaft die Mutter der Antragstellerin besitzt und ob sie, mit der die Minderjährige in häuslicher Gemeinschaft lebt, seit dem Zeitpunkt der gegenständlichen Antragstellung auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen (offensichtlich 28. 1. 2008 - vgl ON 3) in Österreich als Arbeitnehmerin unselbständig oder selbständig erwerbstätig oder als arbeitslose Arbeitnehmerin sozialversichert ist. Als tätige oder arbeitslose EWR-Arbeitnehmerin oder Selbständige, die einem Zweig der sozialen Sicherheit im Sinne des Art 4 der VO 1408/71 untersteht, würde sie und damit auch die Antragstellerin als ihr Kind in den persönlichen Anwendungsbereich der VO 1408/71 fallen (vgl Schlussanträge des Generalanwalts Alber vom 28. 9. 2000, C-85/99, Offermanns, Slg 2001, I-2261 Rz 56 f).

4.1. Eine weitere Voraussetzung für die Anwendung der VO 1408/71 ist das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhalts. Diese Voraussetzung ist dahin zu verstehen, dass eine Anwendung der Vorschriften über die Koordination von Leistungen der sozialen Sicherheit nur auf grenzüberschreitende Sachverhalte in Betracht kommt. Der danach als Grundvoraussetzung für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu fordernde gemeinschaftliche, grenzüberschreitende Bezug setzt also voraus, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, vormaliger Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden (vgl Eichenhofer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 2 VO 1408/71 Rz 6 und 14 mwN; RIS-Justiz RS0117828 [T1] ua). Dieser notwendige grenzüberschreitende Bezug kann daher nicht nur dadurch zustande kommen, dass der Unterhaltsschuldner von der Freizügigkeit als tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer oder Selbständiger Gebrauch macht oder Grenzgänger ist, sondern auch dadurch, dass dies der Elternteil tut, bei dem sich das Kind aufhält (Neumayr in Schwimann ABGB3 § 1 UVG Rz 20 mwN).

4.2. Der grenzüberschreitende Gesichtspunkt würde nach den Behauptungen im Revisionsrekurs darin bestehen, dass die Mutter, bei der sich die Antragstellerin aufhält, offenbar eine französische Staatsangehörige ist, die in Österreich arbeitet, somit von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat.

5. Nach Art 3 Abs 1 VO 1408/71 haben die Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staats, „soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen". Auch dieses Gleichbehandlungsgebot, das dazu dient, Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit zu beseitigen, die sich aus Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraktiken eines einzelnen Mitgliedstaats ergeben, führt daher nicht zum Verbot einer unterschiedlichen Behandlung, die sich gegebenenfalls aus Unterschieden der aufgrund von Kollisionsnormen wie Art 13 Abs 2 VO 1408/71 anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften über Familienleistungen ergibt (EuGH 20. 1. 2005, C-302/02, Effing, Slg 2005, I-553 Rz 51; 4 Ob 4/07b).

6.1. Es ist daher im Folgenden zu prüfen, ob auf die Antragstellerin, die gemeinsam mit ihrer Mutter in Österreich wohnt, das österreichische Unterhaltsvorschussgesetz oder im Hinblick auf den Wohnort des Vaters (Geldunterhaltsschuldners) in Deutschland das deutsche Unterhaltsvorschussgesetz anzuwenden ist.

6.2. Die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für Familienleistungen und damit für den österreichischen Unterhaltsvorschuss richtet sich grundsätzlich nach den Kollisionsnormen der Art 13 ff der VO 1408/71. Ziel dieser Bestimmungen ist es, dass jede Person einer einzigen bestimmten Sozialrechtsordnung unterliegt; es sollen daher durch die Verordnung weder Versicherungslücken noch Doppelversicherungen oder Doppelleistungen entstehen (vgl Steinmeyer in Fuchs, Europäisches Sozialrecht4 Art 13 VO 1408/71 Rz 1).

6.3. Gemäß Art 13 Abs 1 VO 1408/71 unterliegen Personen, für die die Verordnung gilt, abgesehen von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats; dieser ist nach Titel II der Verordnung zu bestimmen. Gemäß Art 13 Abs 2 lit a VO 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staats, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt. Gemäß Art 73 der VO 1408/71 hat ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staats (Beschäftigungsstaat), als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staats wohnten. Dabei werden Familienleistungen gemäß Art 75 Abs 1 der VO 1408/71 in dem in Art 73 dieser Verordnung genannten Fall vom zuständigen Träger des Staats gewährt, dessen Rechtsvorschriften für den Arbeitnehmer oder den Selbständigen gelten. Sie werden nach den für diesen Träger geltenden Bestimmungen unabhängig davon gezahlt, ob die natürliche oder juristische Person, an die sie zu zahlen sind, im Gebiet des zuständigen Staats oder in dem eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder sich dort aufhält.

6.4. In der jüngeren Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (vgl 4 Ob 4/07b, 6 Ob 121/07y, 1 Ob 267/07g) wurde die Ansicht vertreten, dass der Anspruch auf Unterhaltsvorschüsse als Familienleistungen im Sinne der VO 1408/71 an die Rechtsstellung des Unterhaltsschuldners anknüpfe, in dessen Haushalt das Kind nicht lebe und der den ihm auferlegten Geldunterhalt als Familienlast nicht tragen könne oder wolle. Es sei daher für das Bestehen eines solchen Anspruchs nach den Kollisionsregeln der VO 1408/71 (nur) jenes System sozialer Sicherheit maßgebend, in das der Geldunterhaltsschuldner eingebunden sei.

6.5. Dieser Ansicht, die, wie im Revisionsrekurs zutreffend geltend gemacht wird, in Widerspruch zur früheren Judikatur des Obersten Gerichtshofs in vergleichbaren Fällen (4 Ob 117/02p = SZ 2002/77; 9 Ob 157/02g ua) steht, vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen. Es ist nach den zitierten Kollisionsnormen der VO 1408/71 vielmehr davon auszugehen, dass grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaats anwendbar ist, in dem der Arbeitnehmer oder Selbständige beschäftigt ist, der die Anwendung der VO 1408/71 begründet. Eine solche Anknüpfung an den versicherungspflichtigen Arbeitnehmer ist im Rahmen der VO 1408/71 grundsätzlich auch sachlich gerechtfertigt, weil der überwiegende Teil der erfassten Sozialleistungen auf Versicherungssystemen beruht (vgl Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 25. 5. 2004, C-302/02Effing, Slg 2005, I-553 Rz 32 f). Eine Einschränkung der Anknüpfung ausschließlich an die Stellung des Vaters als Geldunterhaltsschuldner ist den zitierten Koordinierungsregelungen nicht zu entnehmen und würde überdies auch mit den oben dargelegten Ausführungen, wonach sowohl die Rechtsstellung des Vaters als Arbeitnehmer als auch jene der Mutter als Arbeitnehmerin im Sinne der VO 1408/71 die Anwendung dieser Verordnung zu begründen vermag, in Widerspruch stehen. Familienleistungen werden daher in der Regel nach den Vorschriften des Mitgliedstaats gewährt, in dem der Arbeitnehmer bzw Selbständige beschäftigt ist, durch den der Anspruch auf Familienleistungen vermittelt wird (Neumayr aaO § 1 UVG Rz 39).

6.6. Im vorliegenden Fall würde die nach den bisher nicht geprüften Behauptungen nur in Österreich unselbständig tätige Mutter der Antragstellerin nach den dargestellten Kollisionsnormen allein österreichischem Recht unterliegen. Ausgehend davon hätte die Antragstellerin daher einen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen nach dem österreichischen UVG.

7. Das Verfahren erweist sich somit insoweit als ergänzungsbedürftig, als das Erstgericht nicht festgestellt hat, welche Staatsbürgerschaft die Mutter der Antragstellerin besitzt und ob sie seit dem Zeitpunkt der gegenständlichen Antragstellung (offensichtlich 28. 1. 2008 - vgl ON 3) in Österreich als Arbeitnehmerin unselbständig oder selbständig erwerbstätig oder als arbeitslose Arbeitnehmerin sozialversichert war. Dem Revisionsrekurs der Minderjährigen ist daher Folge zu geben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Ergänzung seines Verfahrens im dargelegten Sinn aufzutragen.

Textnummer

E89919

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0100OB00075.08I.0127.000

Im RIS seit

26.02.2009

Zuletzt aktualisiert am

20.02.2012
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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