Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat am 24. März 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs in Gegenwart der Rechtspraktikantin Mag. Böhm als Schriftführerin in der Auslieferungssache des Karoly K***** wegen Auslieferung zur Strafvollstreckung, AZ 407 HR 12/09g des Landesgerichts Korneuburg, über die Grundrechtsbeschwerde des Karoly K***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 12. Februar 2009, AZ 22 Bs 62/09t (ON 25 der HR-Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Karoly K***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.
Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.
Text
Gründe:
Bei der Staatsanwaltschaft Korneuburg ist gegen den ungarischen (ON 2 S 5) und serbischen (ON 26 S 57) Staatsangehörigen Karoly K***** ein Verfahren zur Auslieferung an die Republik Serbien zum Zweck des Vollzugs einer mit Urteil des Gemeindegerichts in Backa Topola K. 239/98 vom 9. November 2001, rechtskräftig mit Urteil des Bezirksgerichts in Subotica, KZ. 61/02 vom 22. März 2002, wegen der schweren Straftat der Gefährdung des öffentlichen Verkehrs nach Art. 201 Abs 4 iVm Art. 195 Abs 3 iVm Abs 1 des serbischen StGB (§ 80 des österreichischen StGB) über ihn verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten (ON 26 S 37 ff) anhängig.
In Entsprechung eines Haftbefehls des Gerichts Backa Topola vom 11. Dezember 2002, IK 22-2002 (ON 2 S 1) wurde Karoly K***** am 14. Jänner 2009 in Schwechat festgenommen und über ihn mit Beschluss des Einzelrichters im Ermittlungsverfahren des Landesgerichts Korneuburg vom 16. Jänner 2009 die Auslieferungshaft aus dem Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 173 Abs 2 Z 1 StPO iVm § 29 ARHG verhängt (ON 6).
Mit Beschluss vom 29. Jänner 2009 wurde der Betroffene nach Durchführung einer Haftverhandlung aus der Auslieferungshaft unter Anwendung gelinderer Mittel des § 173 Abs 5 Z 1, 2 und 5 StPO entlassen. In seiner Entscheidung verneinte der Einzelrichter im Ermittlungsverfahren ausdrücklich das Vorliegen von Fluchtgefahr, nahm zu anderen gesetzlichen Haftgründen nicht Stellung und hielt - solcherart rechtsirrig - dennoch gelindere Mittel „zur Erreichung des Haftzwecks, nämlich der Sicherung der Durchführung des Auslieferungsverfahrens" (BS 5), für erforderlich (ON 18).
Mit dem angefochtenen Beschluss (ON 25) gab das Oberlandesgericht einer gegen die Annahme fehlender Fluchtgefahr erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft Korneuburg (ON 19) Folge und trug dem Erstgericht die Verhängung der Auslieferungshaft über Karoly K***** gemäß § 29 ARHG iVm § 173 Abs 2 Z 1 StPO auf.
Begründend führte das Oberlandesgericht aus: „Dem Betroffenen ist seine Verurteilung in Serbien bekannt, nach dem Akteninhalt entzieht er sich bereits seit Jahren der Verbüßung der Strafe. Seine Verantwortung, er sei lediglich aus Serbien ausgereist, weil er während des Balkankonflikts nicht zum Militär wollte, ist als reine Schutzbehauptung zu werten. Da der Betroffene sich der am 11. März 2002 über ihn verhängten Freiheitsstrafe - die noch zu verbüßende Reststrafe beträgt drei Jahre und drei Monate - bislang erfolgreich entzogen hat, ist entgegen der Ansicht des Erstgerichts Fluchtgefahr anzunehmen." Auf die - auch in der Beschwerde nicht thematisierte - Substituierbarkeit der Haft durch Anwendung gelinderer Mittel des § 173 Abs 5 StPO ging das Beschwerdegericht nicht ein.
Rechtliche Beurteilung
Dagegen richtet sich eine fristgerecht eingebrachte Grundrechtsbeschwerde des Karoly K*****, in der er sich - mangels Bekämpfung des erstgerichtlichen Beschlusses - erstmals (auch) gegen die Annahme von Fluchtgefahr wendet. Diese wurde vom Landesgericht Korneuburg verneint, sodass eine Beschwerde insoweit nicht erfolgreich sein konnte, weshalb fallbezogen fehlende Erschöpfung des Instanzenzugs (§ 1 Abs 1 GRBG) nicht vorzuwerfen ist.
Zwar gelangt das Grundrechtsbeschwerdegesetz für die Verhängung oder den Vollzug von Freiheitsstrafen und vorbeugenden Maßnahmen wegen gerichtlich strafbarer Handlungen nicht zur Anwendung, jedoch handelt es sich bei der Auslieferungshaft zur Sicherung des Strafvollzugs um eine der Untersuchungshaft nachgebildete Beschränkung der persönlichen Freiheit, sodass die Überprüfung der im Rahmen dieser Haft allenfalls begangenen Grundrechtsverletzungen in die Kompetenz des Obersten Gerichtshofs fällt (RIS-Justiz RS0118056). Da zudem durch einen kassatorischen Beschluss eines Oberlandesgerichts nach ursprünglicher Enthaftung die Fortsetzung der Untersuchungshaft abschließend effektuiert wird (RIS-Justiz RS0116263), ist die Grundrechtsbeschwerde zulässig.
Die rechtliche Annahme einer von § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren wird vom Obersten Gerichtshof im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens - vorbehaltlich der in § 173 Abs 3 StPO genannten Tatumstände, welche jedenfalls in Rechnung zu stellen sind - dahin überprüft, ob sie aus den angeführten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich angesehen werden müsste.
Bestimmte Tatsachen, auf die sich die Sachverhaltsannahme zu einem Haftgrund gründen muss, können äußere und innere (wie Charaktereigenschaften und Wesenszüge) Umstände sein, wobei sie sich jedenfalls aus dem aktuellen Einzelfall ergeben müssen und nicht bloß allgemeine Erfahrungstatsachen darstellen dürfen (Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 180 Rz 28). Solche konkreten Tatsachen, aus denen die Annahme der Fluchtgefahr abgeleitet werden durfte, sind der Entscheidung des Oberlandesgerichts - wie die Grundrechtsbeschwerde zutreffend reklamiert - nicht zu entnehmen.
Denn die unbegründete Annahme bloßer „Schutzbehauptung" zum Motiv des Karoly K***** für seine Zuwanderung nach Ungarn und der unsubstantiierte Verweis des Oberlandesgerichts auf den Akteninhalt ist diesbezüglich nicht aufschlussreich. Im Übrigen war der Genannte nach der Aktenlage bereits seit 1993, also lange vor der in Rede stehenden Verurteilung, aufrecht in Ungarn gemeldet sowie sozial integriert und hat keine Ladung zu dem in Serbien in seiner Abwesenheit gegen ihn geführten Strafverfahren erhalten (ON 5 und 16). Dies spricht gerade nicht für die Annahme, er habe Serbien zum Zweck der Flucht vor diesem Strafverfahren verlassen.
Der Umstand, dass sich der Betroffene bisher - wenn auch in Kenntnis einer über ihn verhängten Freiheitsstrafe in Serbien - als ungarischer Staatsbürger in seinem Heimatland aufhielt, vermag für sich alleine die Annahme der Gefahr, er werde sich in Freiheit der Durchführung des Auslieferungsverfahrens entziehen, nicht zu tragen.
Karoly K***** wurde demnach durch den angefochtenen Beschluss in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Ein Eingehen auf die weiteren - teilweise unter dem Eventualbegehren auf „Erneuerung des Verfahrens gem § 363a Abs 1 StPO" vorgebrachter - Beschwerdeargumente erübrigt sich.
Der Oberste Gerichtshof sieht sich bei der beschriebenen Ausgangslage veranlasst, den angefochtenen Beschluss aufzuheben (§ 7 Abs 1 GRBG). Eine grundrechtskonforme Begründung der Fluchtgefahr ist bei unveränderter Sachverhaltsgrundlage nicht zu erwarten. Der Einzelrichter im Ermittlungsverfahren des Landesgerichts Korneuburg ist somit verpflichtet, unverzüglich den der Anschauung des Obersten Gerichtshofs entsprechenden Rechtszustand herzustellen (§ 7 Abs 2 GRBG). Fallaktuell wird dabei zu beachten sein, dass die Anwendung gelinderer Mittel, die unter anderem eine einwandfreie Annahme eines Haftgrundes zur Voraussetzung hat, keine Grundlage hätte.
Die Kostenersatzpflicht des Bundes gründet sich auf § 8 GRBG.
Textnummer
E90543European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2009:0140OS00022.09F.0324.000Im RIS seit
23.04.2009Zuletzt aktualisiert am
11.08.2011