TE OGH 2009/3/26 6Ob18/09d

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Veröffentlicht am 26.03.2009
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Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Pimmer als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm, Dr. Gitschthaler und Univ.-Prof. Dr. Kodek sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Tarmann-Prentner als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Elma I*****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Landes Salzburg als Jugendwohlfahrtsträger, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft H*****, gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 19. November 2008, GZ 21 R 450/08k-62, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

Die mj Elma I*****, geboren am 12. 7. 2007, entstammt der Ehe der Kindeseltern Aida I***** und Hajrudin I*****. Mit Urteil des Erstgerichts vom 30. 4. 2008 wurde diese Ehe geschieden.

Gegen beide Eltern wurde am 20. 11. 2007 vom Landesgericht Salzburg eine Voruntersuchung wegen des Verdachts der absichtlich schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB und des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2 StGB eingeleitet. Dem lag zugrunde, dass die Mutter am 11. 11. 2007 aufgrund einer Schwellung des rechten Oberschenkels der mj Elma I***** mit ihr das Landeskrankenhaus Salzburg aufgesucht hatte und dort durch den behandelnden Arzt multiple Bruchverletzungen unterschiedlichen Frakturalters festgestellt wurden.

Nach einem gerichtsmedizinischen Gutachten (ON 12) hatte die Minderjährige mehrere Frakturen, einen Speichenbruch rechts und eine Knochenveränderung an der linken Speiche erlitten. Der Sachverständige stellte eine kallös verheilte dislozierte Fraktur am linken Oberschenkel, mehrere kallös verheilte Frakturen beidseits sowie einen alten Speichenbruch rechts und verdächtige Knochenveränderungen an der linken Speiche fest. Sowohl die alten abgeheilten Verletzungen als auch der frische Bruch des rechten Oberschenkelschaftes seien als an sich schwere Körperverletzungen zu qualifizieren. Zum Verletzungshergang sei anzumerken, dass Verletzungen in diesem Ausmaß mit Sicherheit nicht unabsichtlich entstehen könnten. Es sei ausgeschlossen, dass diese Verletzungen durch ein Festhalten entstanden seien. Auch die von der Kindesmutter angegebenen weiteren Entstehungsmöglichkeiten wie ein festes Wickeln der Windel, eine unabsichtliche Verletzung im Ehebett, ein Hochheben an den Handgelenken, eine unabsichtliche Verletzung durch andere Kinder im Rahmen des Spielens, seien als Ursache der frischen und alten Verletzungen auszuschließen (AS 45 = S 14 in ON 12).

Zum konkreten Entstehungsmechanismus der einzelnen Verletzungen könne aus gerichtsmedizinischer Sicht nicht Stellung genommen werden. Zweifelsohne sei jedoch eine massive stumpfe Gewalteinwirkung gegen die betroffenen Körperstellen, mit teils rotatorischer Komponente, erforderlich, um die Frakturen und Korbhenkelausrisse zu verursachen. Das Vorliegen derartiger Verletzungen spreche nach gerichtsmedizinischer Erfahrung eindeutig für eine Misshandlung (AS 47 = S 15 in ON 12).

In der Folge beantragte das Stadtjugendamt Salzburg, den Eltern die Obsorge für die Minderjährige zu entziehen und damit das Stadtjugendamt Salzburg zu betrauen. Am 10. 12. 2007 beantragte die Mutter, ihr die Obsorge für die Minderjährige zu übertragen. Die Verletzungen seien der Minderjährigen von ihrem Gatten zugefügt worden; sie habe davon keine Kenntnis gehabt.

Nach einem neuropsychiatrischen Gutachten konnten bei der Mutter keine neurologischen oder psychiatrischen Auffälligkeiten festgestellt werden. Es zeigten sich auch keine Hinweise auf eine klinisch relevante Persönlichkeitsstörung, wodurch die Obsorgeeignung der Mutter beeinträchtigt werden würde.

Mit Urteil des Landesgerichts Salzburg vom 9. 4. 2008 wurden beide Eltern vom Verdacht der absichtlich schweren Körperverletzung und des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen freigesprochen, wobei der Freispruch der Mutter bereits in Rechtskraft erwachsen ist. Die Staatsanwaltschaft hat hinsichtlich des Freispruchs des Vaters nach der Aktenlage ein Rechtsmittel erhoben.

Mit Schriftsatz vom 24. 4. 2008 hielt die Bezirkshauptmannschaft H***** den Antrag auf Übertragung der Obsorge an den Jugendwohlfahrtsträger aufrecht. Der Freispruch im Strafverfahren sei erfolgt, weil nicht geklärt werden konnte, von wem die Verletzungen stammten. Allerdings sei dem Jugendamt bekannt, dass die Kindesmutter selbst den Kontakt zum Kindesvater suche. Es lägen mehrere E-Mails zwischen den Kindeseltern vor.

Die Mutter wohnt derzeit in München und arbeitet als Software- und Consultingmanagerin. Die Minderjährige wird von den mütterlichen Großeltern betreut, wobei die Möglichkeit eines Kontakts zwischen der Tochter und der Mutter vor allem an den Wochenenden besteht. Der Vater ist unbekannten Aufenthalts. Über ihn wurde sowohl in Deutschland als auch in Österreich ein Einreise- und Aufenthaltsverbot verhängt; er wird auch mit Haftbefehl gesucht.

Das Kreisjugendamt Ebersberg teilte mit, dass ab 1. 10. 2008 ein fixer Krabbelstubenplatz für die Minderjährige vorhanden ist. Ab 1. 10. 2008 könnte eine sozialpädagogische Familienbetreuung im Ausmaß von fünf Stunden wöchentlich gewährt werden.

Nach einem Bericht des Jugendamtes der Bezirkshauptmannschaft H***** hat sich die Mutter bisher an Absprachen mit der Jugendwohlfahrt gehalten. Es fand auch ein regelmäßiger Austausch mit den mütterlichen Großeltern statt, die sich kooperativ und verlässlich zeigten.

Das Erstgericht entzog - insoweit unbekämpft - die Obsorge dem Vater und betraute damit die Kindesmutter. Den Antrag des Jugendamts der Bezirkshauptmannschaft H***** auf Übertragung der Obsorge an diese wies es ab.

Zu den Einwendungen des Jugendwohlfahrtsträgers führte das Erstgericht lediglich aus, dass die vom Jugendwohlfahrtsträger geäußerten Befürchtungen, die Kindesmutter werde bei Zuspruch der alleinigen Obsorge den Kontakt der Minderjährigen mit dem Kindesvater zulassen oder Zielsetzungen verfolgen, die nicht primär im Interesse des Kindeswohls gelegen sind, „nicht festgestellt" werden konnten. Aufgrund des rechtskräftigen Freispruchs der Kindesmutter ergäben sich nach Ansicht des Gerichts keine Anhaltspunkte für eine objektive Gefährdung des Kindeswohls im Fall der Übertragung der Obsorge auf die Kindesmutter.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Aus den Berichten des Jugendamts der Bezirkshauptmannschaft H***** ergebe sich, dass die Mutter, die schon lange jeglichen Kontakt zum Vater abgebrochen habe, sich bei ihren Besuchen liebevoll um die Minderjährige kümmere.

Rechtliche Beurteilung

Der außerordentliche Revisionsrekurs des Jugendwohlfahrtsträgers ist zulässig und berechtigt.

1. Nach ständiger Rechtsprechung liegt der die Übertragung der Obsorge erfordernde Tatbestand der Gefährdung des Kindeswohls bei nachhaltiger Verletzung des Gewaltverbots nach § 146a ABGB vor (1 Ob 573/92; RIS-Justiz RS0047973; Weitzenböck in Schwimann, ABGB³ § 176 Rz 17). Dabei kann eine Gefährdung des Kindeswohls auch dann vorliegen, wenn der Obsorgeberechtigte nicht selbst Gewalt gegen sein Kind ausübt, sondern diese Gewaltausübung durch einen Dritten - etwa den Ehegatten oder Lebensgefährten - duldet (EFSlg 113.822). Dass die festgestellten massiven Misshandlungen einen Grund für die Entziehung der Obsorge darstellen würden, wenn diese von der Kindermutter selbst oder mit ihrem Wissen verübt wurden, bedarf keiner weiteren Ausführungen.

2.1. Die Begründung der Vorinstanzen ist hier jedoch in einem entscheidenden Punkt mangelhaft geblieben: Die Begründung der Entscheidung des Erstgerichts erweckt den Anschein, dass das Erstgericht bereits aufgrund des rechtskräftigen Freispruchs im Strafverfahren davon ausging, dass von der Kindermutter keine Gefährdung ausgehe. Diese Auffassung hält jedoch rechtlicher Nachprüfung nicht stand: Freisprechende Strafurteile entfalten keine Bindungswirkung (3 Ob 64/98b; 2 Ob 264/97f; SZ 69/259 = JBl 1997, 157). Dies gilt sogar dann, wenn aufgrund des Beweisverfahrens vom Strafgericht - anders als im vorliegenden Fall - festgestellt wurde, dass der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Tat gar nicht begangen hat (vgl Fasching/Klicka in Fasching/Konecny2 § 411 ZPO Rz 31).

Vielmehr ist zum für die Beurteilung der Kindeswohlgefährdung maßgeblichen Zeitpunkt der letztinstanzlichen Entscheidung (RIS-Justiz RS0106313) eine verlässliche Prognose über die Eignung der Kindesmutter ohne detaillierte Auseinandersetzung mit den Ursachen für die Verletzungen der Minderjährigen nicht möglich. Wenngleich der Kindesmutter zuzubilligen ist, dass die Verletzungen für einen Laien möglicherweise nicht erkennbar waren, ist ihr doch entgegenzuhalten, dass die von ihr zunächst für die Verletzungen angegebenen Erklärungen einer medizinischen Nachprüfung nicht standhielten.

2.3. Allfällige verbleibende Zweifel gingen im Obsorgeverfahren allerdings zu Lasten der Kindesmutter, ginge es doch bei Art und Ausmaß der von der Minderjährigen erlittenen Verletzungen nicht an, die Obsorge einem Elternteil zu überlassen, hinsichtlich dessen der Verdacht besteht, für diese Verletzungen (mit-)verantwortlich zu sein. Die in Punkt 1. referierte Rechtsprechung ist daher dahin zu präzisieren, dass jedenfalls bei besonders schwerer Misshandlung nicht erst die erwiesene Mitwirkung des Elternteils daran einen Grund für die Entziehung der Obsorge darstellt, sondern - zur Vermeidung einer extremen Gefährdung des Minderjährigen - schon ein qualifizierter, auch durch umfassende Beweisaufnahmen nicht auszuräumender Verdacht. Die Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 MRK steht einer selbständigen Beurteilung der Tatfrage in einem nachträglichen Zivilverfahren jedenfalls nicht entgegen (vgl etwa Foerster, Transfer der Ergebnisse von Strafverfahren in nachfolgende Zivilverfahren [2008] 35 ff; 288 ff).

3.1. Damit bestehen aber nach der derzeitigen Aktenlage gegen die Übertragung der (alleinigen) Obsorge an die Kindesmutter massive Bedenken, die nicht durch bloße Berichte des Jugendamts über die derzeitige Kooperationsbereitschaft der Kindesmutter ausgeräumt werden können. Vielmehr wird sich das Erstgericht durch entsprechende Beweisaufnahmen ein eigenes Bild zu verschaffen haben und dazu auch nachvollziehbare Feststellungen zu treffen haben.

3.2. Im fortgesetzten Verfahren wird das Erstgericht sich auch damit auseinanderzusetzen haben, inwieweit bei Zuweisung der Obsorge an die Kindesmutter ausreichend Gewähr dafür besteht, dass der Kindesvater keinen Kontakt zur Minderjährigen aufnehmen kann, solange nicht jeder Verdacht, er könne ihre Verletzungen (mit-)verursacht haben, ausgeräumt ist. Der bloße Umstand, dass gegen den Kindesvater ein Aufenthaltsverbot besteht, steht dem nicht entgegen, kann doch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass der Kindesvater illegal nach Österreich einreist oder dass ein Zusammentreffen im Rahmen eines Urlaubs im Ausland erfolgt. In diesem Zusammenhang wird sich das Erstgericht auch näher mit dem aktenkundigen E-Mailverkehr auseinanderzusetzen und zu prüfen haben, inwieweit dieser Rückschlüsse auf eine allfällige nach wie vor bestehende Bereitschaft der Kindesmutter zur Kontaktaufnahme mit dem Kindesvater zulässt.

4. Da das Verfahren sohin in wesentlichen Punkten mangelhaft geblieben ist, war spruchgemäß mit Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen vorzugehen und dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufzutragen.

Textnummer

E90500

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0060OB00018.09D.0326.000

Im RIS seit

25.04.2009

Zuletzt aktualisiert am

09.07.2010
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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