TE OGH 2009/3/31 1Ob44/09s

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Veröffentlicht am 31.03.2009
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten Dr. Gerstenecker als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Fichtenau, Dr. Grohmann und Dr. E. Solé als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Lajos V*****, vertreten durch Dr. Géza Simonfay und Mag. Ulrich Salburg, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur, Wien 1, Singerstraße 17-19, wegen 4.600 EUR sA, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 24. November 2008, GZ 14 R 104/08d-38, mit dem das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt vom 20. Februar 2008, GZ 25 Cg 1/07f-32, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass das Urteil einschließlich der rechtskräftigen Abweisung des Zinsenmehrbegehrens insgesamt lautet:

„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der klagenden Partei 4.600 EUR samt 4 % Zinsen seit 3. 5. 2005 zu zahlen, wird abgewiesen.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei binnen 14 Tagen die mit 3.559,49 EUR bestimmten Verfahrenskosten aller drei Instanzen zu ersetzen."

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger wurde am 3. 5. 2005 in einer Justizanstalt von einem anderen Häftling entweder mit einer Haar- oder Bartschere oder einem Jausenmesser in den Brustkorb gestochen und verletzt. Beide Häftlinge waren im Rahmen eines gelockerten Vollzugs in einer Wohngruppe (§§ 124 Abs 1, 126 Abs 2 Z 1 erster Fall StVG) untergebracht. Ein Häftling kommt nur auf Vorschlag des Abteilungskommandanten in die Wohngruppe. Über dessen Vorschlag entscheidet ein Gremium, bestehend aus dem Leiter der Justizanstalt, einem Psychologen und dem sozialen Dienst. In der Wohngruppe waren an die zwanzig Häftlinge untergebracht, die sich selbst verpflegen konnten. Es gab Aufenthalts- und Schlafräume (Zellen) und die Möglichkeit, sich „kleine Gerichte" wie zB Nudelsuppe oder Eierspeise selbst zuzubereiten. Zum Zweck der Herstellung von Mahlzeiten wurden auch Messer zur Verfügung gestellt. Die Verwendung des Küchengeschirrs und die Zubereitung von Speisen erfolgte nicht unter Aufsicht. Jedes Mitglied der Wohngruppe hatte während des Tages jederzeit Zugang zu Küchengeräten und Küchenmessern. Außerdem besaß jede Wohngruppeneinheit ein Haarpflegeset inklusive einer Haar- oder Bartschere. Der Mithäftling des Klägers beging die Tat unter dem Einfluss einer akut aufgetretenen psychotischen Erkrankung des schizophrenen Formenkreises und befand sich dabei in einem die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustand. Er hatte sich in der Haft bis dahin im Wesentlichen unauffällig verhalten.

Der Kläger begehrte letztlich Schmerzengeld von 4.600 EUR aus dem Titel der Amtshaftung. Mangels geeigneter Vorsorgemaßnahmen gegen derartige strafbare Handlungen hätten die verantwortlichen Beamten der Justizanstalt gegen (soweit im Revisionsverfahren noch relevant) § 102 Abs 4 StVG verstoßen.

Die beklagte Partei wendete ein, für die Zubereitung von Mahlzeiten seien geeignete Messer notwendig. Beide Tatwaffen fielen nicht unter § 102 Abs 4 StVG. Unabhängig davon treffe die Organe der Justizanstalt aufgrund der fehlenden Anhaltspunkte für eine Gefährlichkeit des Täters kein Verschulden daran, dass sie diese Gegenstände in der Wohngruppe belassen hätten.

Das Erstgericht verpflichtete die beklagte Partei im zweiten Rechtsgang zur Zahlung des begehrten Schmerzengelds und wies einen Teil des Zinsenbegehrens ab.

Das von der beklagten Partei angerufene Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und ließ die ordentliche Revision zu. Nach § 102 Abs 4 StVG seien unter anderem Gegenstände, die die Sicherheit gefährden könnten, sicher zu verwahren und dürften Strafgefangenen nur unter Aufsicht und nicht länger als nötig überlassen werden. Bei den verwendeten Tatwaffen, insbesondere bei der scharfen und spitzen Messerklinge, handle es sich um derartige Gegenstände, von denen „in falschen Händen" eine erhebliche Gefahr für die Sicherheit von Häftlingen ausgehen könne. Die Unterbringung von Strafgefangenen in Wohngruppen lasse die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes über die „Sicherung der Ordnung in der Anstalt", zu denen § 102 Abs 4 StVG gehöre, unberührt und bedeute keinerlei Einschränkung oder Abschwächung dieser Norm. § 102 Abs 4 StVG stelle - im Gegensatz zu § 103 StVG - nicht auf die besondere Gefährlichkeit von Strafgefangenen ab und gestatte auch in Wohngruppen die Überlassung gefährlicher Gegenstände nur unter Aufsicht und nicht länger als nötig. Inwieweit diese Auffassung das Ende des für die Resozialisierung wichtigen Wohngruppenvollzugs bedeuten sollte, sei nicht erkennbar. Es würde nämlich genügen, in Wohngruppen für eine entsprechende Aufsicht bei der Benützung gefährlicher Gegenstände zu sorgen. Die beklagte Partei könne sich aufgrund des eindeutigen Wortlauts des § 102 Abs 4 StVG nicht auf eine vertretbare Rechtsansicht berufen.

Den Ausspruch über die Zulässigkeit der ordentlichen Revision begründete das Berufungsgericht mit fehlender Rechtsprechung zur Auslegung des § 102 Abs 4 StVG.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der beklagten Partei ist zulässig und berechtigt.

1. Der mit „Sicherung der Ordnung in der Anstalt" übertitelte § 102 StVG regelt die Sicherheit gegenüber den Strafgefangenen, deren Verhalten grundsätzlich zu überwachen ist (Drexler/Ebner, Strafvollzugsgesetz [2003] § 102 Rz 1; Holzbauer/Brugger, Strafvollzugsgesetz [1996] § 102 Rz 1). Strafbare Handlungen durch Strafgefangene oder an ihnen sollen verhindert werden (§ 102 Abs 1 Satz 2 StVG; Drexler/Ebner aaO; Holzbauer/Brugger aaO Rz 2; Foregger/Schausberger, Strafvollzugsgesetz [2001], 137 f). Während sich § 102 Abs 2 StVG mit Maßnahmen der Beobachtung und Durchsuchung der Strafgefangenen befasst, regeln die Abs 3 bis 5 als Ordnungsvorschriften für die Strafvollzugsbediensteten (Drexler/Ebner aaO Rz 4) den Umgang mit diversen Gegenständen. Anstaltsschlüssel, Waffen, Munition und andere Sicherungsmittel sowie Dienstbekleidungsstücke, die nicht ausgegeben sind oder gebraucht werden, sind unter sicherem Verschluss zu halten (Abs 3). Arbeitsgeräte, Werkstoffe und andere Gegenstände, die die Sicherheit gefährden können, sind sicher zu verwahren und dürfen Strafgefangenen nur unter Aufsicht und nicht länger als nötig überlassen werden (Abs 4). Der Verlust eines der in den Abs 3 und 4 genannten Gegenstände ist unverzüglich zu melden (Abs 5). Nach den ErläutRV 511 BlgNR 11. GP 73, verfolgen diese Bestimmungen den Zweck, zu verhindern, dass die Gefangenen in den Besitz von Gegenständen gelangen, von denen den Umständen nach eine Beeinträchtigung der Ordnung zu befürchten wäre.

2. Ziel des Strafvollzugs ist unter anderem die (Re-)Sozialisierung des Strafgefangenen (Drexler/Ebner aaO § 20 Rz 5; vgl Holzbauer/Brugger aaO 155; Kunst, Strafvollzugsgesetz [1979] 49 f). Das Erlernen sozialer Fertigkeiten durch Arbeit, Aus- und Weiterbildung, sinnvolle Freizeitgestaltung (Drexler/Ebner aaO § 20 Rz 8) soll den Strafgefangenen auf das Leben in der Freiheit vorbereiten (Kunst aaO 50) - so die Idealvorstellung. Eines der Mittel, das Erlernen von „social skills" zu fördern, ist die Unterbringung der Strafgefangenen in Wohngruppen (§ 124 Abs 1 Satz 2 StVG). Diese „sozialen Einheiten" sollen es den Strafgefangenen während des Tages ermöglichen, Angelegenheiten des täglichen Lebens mit Hilfe des oder der Gruppenbeamten weitgehend selbständig zu regeln (Holzbauer/Brugger aaO § 124 Rz 3; ErläutRV 946 BlgNR 18. GP 33 unter Hinweis auf Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz4 Anm 4 zu § 7 dStVG). Die Personen, die im Wohngruppenvollzug angehalten werden, und die konkreten Bedingungen, unter denen das geschieht, sind regelmäßig zu überprüfen (Drexler/Ebner aaO § 124 StVG Rz 1). Für den gelockerten Wohngruppenvollzug (§ 124 Abs 1 Satz 2 StVG iVm § 126 Abs 2 Z 1 erster Fall StVG), der als Training für die Entlassung dient (vgl Drexler/Ebner aaO § 20 Rz 4), kommen in der Regel nur geeignete Häftlinge mit geringerem Aggressionspotential in Betracht.

3. Nicht jedes objektiv unrichtige Organverhalten führt zur Amtshaftung. Im Amtshaftungsprozess ist zu prüfen, ob die Verhaltensweise eines Organs auf einer vertretbaren Rechtsauffassung, somit auf einer bei pflichtgemäßer Überlegung vertretbaren Rechtsauslegung oder Rechtsanwendung beruhte. Vertretbarkeit ist bei Abweichen von einer klaren Rechtslage oder der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung - ohne Auseinandersetzung mit den gegenteiligen Argumenten - zu verneinen (Schragel, AHG³ Rz 159; RIS-Justiz RS0049955).

4. Der - hier relevante - § 102 Abs 4 StVG, zu dessen Auslegung bzw Anwendung im Wohngruppenvollzug zum Tatzeitpunkt keine Judikatur der Höchstgerichte vorlag, ist nicht so eindeutig, wie das Berufungsgericht meint. Die Formulierung ... „andere Gegenstände, die die Sicherheit gefährden können" ... ist ein unbestimmter Gesetzesbegriff, der einen gewissen Interpretationsspielraum zulässt (Schragel aaO Rz 150), welche Alltagsgegenstände, die nicht Arbeitsgeräte oder Werkstoffe sind (hier: allgemein verwendete Küchenmesser und Scheren), als potentiell sicherheitsgefährdend einzustufen sind. Die bereits zitierten Materialien (..." den Umständen nach"...) bieten einen Anhaltspunkt, nicht ausschließlich die Beschaffenheit der Gegenstände und die daraus resultierende abstrakte Gefährlichkeit (spitze Messer und Scheren) zu berücksichtigen, sondern auch die konkrete Situation der Überlassung (an wen und unter welchen Bedingungen). Nach Auffassung des Berufungsgerichts müsste jedes Mitglied einer Wohngruppe beim Bart- oder Haareschneiden oder bei der Essenszubereitung im Zuge der Benützung dazu geeigneter Gegenstände steter Kontrolle unterliegen und faktisch stets ein Strafvollzugsbeamter zur Aufsicht beigestellt werden. Der Sinn einer Sozialisierung im Wohngruppenvollzug ist aber, soweit wie möglich normale Alltagssituationen zu schaffen. Von einer „sicheren Verwahrung" von Gegenständen im Zuge des Strafvollzugs kann bei einem Wohngruppenvollzug durchaus ausgegangen werden, wenn nur die im Wohngruppenvollzug befindlichen Strafgefangenen erleichterten Zugang zu abstrakt gefährlichen Gegenständen haben und bei deren Benützung einer gelockerten Aufsicht unterliegen. Anhaltspunkte für eine erkennbare, besondere Aggressivität irgendeines Mitglieds der Wohngruppe gab es nicht. Wenn die Organe der Justizanstalt der Ansicht waren, die jederzeitige Zugänglichkeit von Küchenmessern und Scheren zur Essenszubereitung und zur Körperpflege sei ungeachtet der Bestimmung des § 102 Abs 4 StVG eine zu Sozialisierungszwecken zulässige Maßnahme, so stellt das keine unvertretbare Rechtsauffassung dar. Damit tritt keine Amtshaftung ein, was zur Abweisung des Klagebegehrens führt.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E90619

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0010OB00044.09S.0331.000

Im RIS seit

30.04.2009

Zuletzt aktualisiert am

27.10.2010
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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